Theodor Hermann Pantenius
Im Gottesländchen
Theodor Hermann Pantenius

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Zehntes Kapitel.

Baron Paul reiste nach zwei Tagen ab, und bald darauf traten auch die Campbells ihre Reise an. Sie hatten der Tochter vorgeschlagen, sie nach Pyrmont zu begleiten, diese wollte aber ohne ihren Gemahl nicht fort, und der Graf erklärte entschieden, Rotenhof in diesem Jahre nicht verlassen zu können. Die beiden vorhergehenden Jahre, in denen alles verregnet, respektive verdorrt war, hatten den Hunger ins Land gebracht und den Grafen veranlaßt, um den notleidenden Arbeitern helfen zu können und die günstigen Lohnverhältnisse auszunutzen, großartige Meliorationen vorzunehmen. Diese – es handelte sich hauptsächlich um ein System von Kanälen und Gräben, das den Forst entwässern sollte – mußten nun in diesem Jahr zum Abschluß gebracht werden. Dazu kam dann noch Hallermünde mit allen möglichen Anforderungen und Sorgen. Nein, der Graf konnte nicht fort und infolgedessen blieb auch Frau Ina zu Hause. Der Doktor drang auch nicht weiter in sie. »Wenn Sie sich sehr schonen,« sagte er, »und brav liegen – liegen, Inachen, fleißig liegen – so wollen 345 wir des Übels schon Herr werden, so daß sie übers Jahr wieder ganz hergestellt sein sollen.«

So lag Frau Ina denn fast den ganzen Tag über allein auf ihrer Couchette. Der Graf hatte ihr angeboten, eine Gesellschafterin zu engagieren, aber sie hatte diesen Vorschlag mit Entrüstung zurückgewiesen. Es wurde nur eine tüchtige Wirtschafterin in Dienst genommen, eine rundliche Frau, die rüstig in Küche und Keller hantierte, gesellschaftliche Ansprüche aber weder erhob, noch zu erfüllen imstande war.

Alice hatte sich erboten, der Gräfin vorzulesen; diese hatte aber das Anerbieten in freundlichen Worten abgelehnt. Der Graf seinerseits war immer erst von Mittag ab zu Hause. Er selbst las nur sehr selten, und seine Lektüre hatte dann immer einen ganz bestimmten Zweck, d. h. er wollte sich über einen bestimmten Gegenstand unterrichten, über landespolitische Fragen zum Beispiel oder über einen Fortschritt im Ziegelbrennen oder über das Brauereiwesen. Er las dann mit der Absicht, das Gelesene auf seine praktische Anwendbarkeit zu prüfen, und legte das Buch sogleich fort, wenn er sich überzeugt hatte, daß es in dieser Beziehung nichts Brauchbares enthielt. Vorlesen war ihm ein Greuel, und da er daraus früher seiner Frau gegenüber kein Hehl gemacht hatte, so empfand diese es nur peinlich, wenn er sich jetzt nicht abhalten ließ, es doch zu thun.

Auf einen herrlichen Juni folgte ein sehr regnerischer Juli, der die Gräfin, die Feuchtigkeit sorgfältig vermeiden mußte, fast ganz in ihr Zimmer 346 bannte. Kam nun der Graf, der mit der Sonne aufgestanden war und sich den ganzen Tag über in Sonne und Regen getummelt hatte, nach Tisch müde und matt in das Zimmer seiner Frau, so waren die Stunden, die er mit ihr verbrachte, keinerlei Erholung für ihn. Er, der nie krank gewesen war, empfand dieses Stillsitzen neben seiner schweigsamen Frau wie eine kaum zu ertragende Qual. Die Gräfin war nie sehr beredt gewesen, aber sie hatte früher lebhaften Anteil an allem genommen, was ihn interessierte, und – das Ehepaar hatte sich viel zu thun gemacht. Jetzt war das anders; die sich sonst so zahlreich in Rotenhof einfindenden Nachbarn blieben aus Rücksicht auf die Krankheit der Hausfrau aus, und Frau Ina hatte gar nichts zu thun, als den quälenden Gedanken nachzuhängen, die ihr eifersüchtiges Temperament immer wieder in ihr wachrief, und die sie doch so sorgfältig vor ihrem Gemahl verbarg. Während der Graf ihr von den Arbeiten, die er den Tag über angeordnet, erzählte, dachte sie darüber nach, warum Gott, der doch der Allgütige war, ihr wohl diese Nebenbuhlerin in ihr glückliches friedliches Haus geschickt hatte, und verriet dann in ihren Antworten, daß sie den Ausführungen ihres Gemahls gar nicht gefolgt war.

So kam es, daß der Graf froh war, wenn die Uhr auf dem Kaminsims mit ihrer feinen hellen Stimme neun schlug und er hinübergehen konnte zu Alice und den Kindern, um noch ein Stündchen mit ihnen fröhlich zu verbringen. Die Gräfin hatte in 347 jenem selbstquälerischen Behagen, das der Eifersucht eigen ist, selbst darauf gedrungen, daß er sich schon um neun von ihr verabschiedete – er schlief jetzt, um sie am Morgen nicht zu stören, in einem anderen Zimmer – und behauptete, dann schon allmählich zu Bett gehen zu müssen. Und doch zürnte sie ihm innerlich, daß er sich diese Einrichtung, – wenn auch nur mit vielem Widerstreben – hatte aufdringen lassen. Wenn er fort war, ließ sie durch Amalie die Thür ein wenig öffnen und lauschte gespannt auf jedes Lachen, das zu ihr herüberklang, wie der Fieberkranke den kalten Trank gierig einschlürft, auch wenn er weiß, daß er seine Leiden nur noch vermehren wird. Sie ließ sich dann, um ihren Gemahl, der doch hin und wieder auf einen Augenblick zu ihr kam, täuschen zu können, von Amalie zu Bett bringen; aber sie lag, auch wenn das Lachen längst verstummt war, noch wach im Bett, lauschte dem Rauschen des Regens und blickte auf ihrer schweigenden Pflegerin immer gleich finsteres Gesicht. Nur wenn die Gräfin physische Schmerzen hatte, klärte sich dieses Gesicht auf und beugte sich mit einem Ausdruck so hingebender selbstvergessender Liebe über sie, daß die Gräfin unwillkürlich mit der Hand über das glatt anliegende Haar ihrer Dienerin fuhr oder ihr dankbar die Wange streichelte. Amalie ergriff dann diese Hand und küßte sie leidenschaftlich. Ein paarmal war es vorgekommen, daß in solchen Fällen heiße Thränen auf die Hand fielen. Die Gräfin hatte nie nach der Ursache gefragt – sie glaubte sie zu kennen.

348 Und doch war unter den Frauen von dieser Ursache nie die Rede. Die Gräfin hatte eine unüberwindliche Scheu, diesen Gegenstand zu berühren, und Amalie dachte: »Kann ich den Stein, den man in den Fluß warf, schwimmen machen?«

Für Alice hatte der Tag, ohne daß sie es selbst wußte, vierzehn Stunden des Wartens und zwei Stunden der Erfüllung. Diese letzteren Stunden waren die Mahlzeit und das Abendstündchen, in dem sich der Graf zu ihr und den Kindern begab. Die vierzehn Stunden waren still und sehr, sehr lang; die zwei Stunden aber waren voll Frohsinn, wenn sie auch nur zu rasch vorübergingen. Die beiden unterhielten sich scheinbar nicht viel miteinander, meist führten die kleinen Mädchen das große Wort und gaben das Gesprächsthema an, und doch war ihnen, als ob sie nur miteinander sprächen. Der Graf nannte Alice, wenn sie allein waren, Cousine, und sie sollte ihn Vetter nennen, brachte es aber fast nie zu stande.

Einmal neckte der Graf die kleine Erna damit, daß sie so grobes Haar habe. »Du solltest sehen, was Fräulein Alice für weiches Haar hat!« schloß die Verteidigung. – »Das muß untersucht werden,« sagte der Graf, erhob sich mit aller Gravität und fuhr mit seiner Rechten über Alicens Haar. Die Bewegung berührte ihn angenehm, Alice fuhr sie wie ein elektrischer Schlag durch den Leib. Sie errötete bis an die Haarwurzeln und wunderte und ärgerte sich darüber. Der Graf, der ihr Erröten 349 bemerkt hatte, erschrak und nahm sich vor, solchen Berührungen künftig sorgfältig aus dem Wege zu gehen. »Was das nervös ist!« dachte er. Als er, nachdem sie auseinander gegangen waren, nach seiner Gewohnheit noch, eine Cigarette rauchend, zum Fenster hinaussah, mußte er wieder an das kleine Erlebnis denken. Welch ein Glück, daß dieses harmlose unschuldige Mädchen in seinem Hause Schutz gefunden hatte! Was hätte ihr nicht alles zustoßen können, wenn sie in die Fremde gegangen und unter schlechte Menschen geraten wäre!

Der Graf lag noch lange im Fenster und blickte hinaus in die feuchte heiße Nacht. Als er sich aufrichtete, hörte er ein Fenster leise klirren. Er blickte hinaus und gewahrte, daß Alices Fenster eben geschlossen wurde. Sie hatte also auch am Fenster gesessen.

Der Graf hatte sich vorgenommen, eine solche Vertraulichkeit nicht wieder vorkommen zu lassen, und er führte seine Absicht aus. Eines Abends aber legte Eleonore die eine Hand auf den Tisch, der Vater mußte die seinige darauf legen, sie fügte die zweite hinzu, er auch die seinige. Dann zog sie ihre zu unterst liegende Hand fort und legte sie nach oben, wohin ihr seine Hand folgen mußte. Es kam darauf an, die Hände möglichst rasch zu wechseln. »Fräulein Alice, spielen Sie auch mit!« Alice legte ihre Hand nun auch darauf. Als sie die des Grafen berührte, zog dieser seine Hände fort, stand auf und ging ein 350 paarmal im Zimmer auf und nieder. »Pardon, aber es ist so heiß!« sagte er.

Alice und die Kinder spielten ruhig weiter.

Der Graf schlief in der darauf folgenden Nacht schlecht. Er schob die Schuld daran auf den hellen Mondschein, stand schließlich auf, kleidete sich an und ging in den Garten. Die Thür zum Park war offen gelassen worden, und eine zahme Ricke durch dieselbe in den Garten gekommen. Sie näherte sich dem Grafen, der sie mit Brot zu füttern pflegte, leckte ihm die Hand und sah dann mit ihren großen dunklen Augen zu ihm empor. Georg umfaßte den Hals des Tieres, beugte sich zu ihm herab und küßte es auf die feuchte Stirn. Er setzte sich dann auf eine Bank und blickte empor zu der finsteren Masse des Schlosses und zu dem Mond hoch über demselben, dem sich langsam eine schwarze Wolke näherte. Es hatte am Abend geregnet und tröpfelte nun noch von den Bäumen, als ob die Riesen des Parkes Thränen weinten. Eine Eule flog schreiend über den Garten hin und irgendwo, weit unten im Park, schien ein schwerer Gegenstand, ein Zweig oder dergleichen, dumpf zu Boden zu fallen. Seltsam – so befangen, so ahnungsvoll traurig und doch auch wieder so freudig war Georg einst zu Mut gewesen, wenn er als halber Knabe noch in seinen Ferien allein einen nächtlichen Wald durchwandelte. Es war im späteren Leben gelegentlich wohl der Gegenstand seines Nachdenkens gewesen, warum diese wunderbare 351 Empfindung im Mannesalter so spurlos verschwindet. Jetzt war sie wieder da.

Die Wolke hatte den Mond erreicht, zog unter ihm hin und hüllte Garten und Park in so tiefe Finsternis, daß Georg kaum die Umrisse des Schlosses erkennen konnte.

Georg erhob sich und schritt langsam dem Hause zu. »Das nenne ich Reminiscenzen feiern!« dachte er. Er streichelte dem Reh noch einmal den schlanken Hals und öffnete die Thür. Als er sie hinter sich schloß, rauschte ein Regenguß nieder.

Der folgende Morgen brachte schönes Wetter, und man beeilte sich, das durchnäßte Heu auf den Wiesen auszubreiten, um es von den warmen Strahlen der Sonne trocknen zu lassen. Wer nur irgend eine Harke führen konnte war herbeigeeilt; überall bildeten sich rasch arbeitende, aber scherzende und lachende Menschengruppen.

Am Abend begaben sich der Graf, Alice und die Kinder auf die große Wiese am Flußufer, um das Treiben auf derselben in Augenschein zu nehmen. Es war ein köstlicher windstiller Sommerabend, warm, aber nicht heiß. Ein kräftiger Heugeruch schwebte zugleich mit den Klängen der Volkslieder, die die Frauen und Mädchen sangen, über der Wiese, den vielen Menschen auf ihr und den still dahinfließenden Wassern des Stromes. In der Nähe hörte man überall sprechen und lachen, aus der Ferne drang das gleichmäßige Rauschen herüber, das die Sensen der sich in langer schräger Reihe vorwärts 352 bewegenden Schnitter hervorbrachten, indem sie das Gras niederlegten und der schrille Ton, der entstand, wenn einer von ihnen sein Ziel erreicht hatte und nun langsam mit dem Schleifstein über die Sense fuhr.

Abwärts vom Strom, zwischen Wiese und Feld, erhoben sich, dicht aneinander gedrängt, aber durch einen tiefen Einschnitt getrennt, zwei Hügel von mäßiger Höhe. Der nach Westen gelegene zeigte die Gestalt eines Zuckerhutes, von dem man auf der einen Seite unten ein Stück weggebrochen hat. Auf dem Plateau des mehr nach Osten hin gelegenen ungleich größeren Hügels ragte hier und da noch ein Stück niedrigen Mauerwerks über die rings umher zerstreuten Steinblöcke hervor. Auch am Fuße der Hügel waren unter Haufen von Backsteinschutt noch Reste alter Fundamente zu entdecken. Über alles hin und um alles her aber wucherte üppiges Gesträuch von Nußbaum, Holunder und wilder Rose, aus dem zahlreiche verwilderte Birn- und Apfelbäume ihre knorrigen Äste emporhoben. Einer von diesen letzteren krönte auch den Zuckerhut und war so in dem mäßig gewellten Lande weithin sichtbar.

Diese Hügel, die man zusammen den Burgberg nannte, bildeten oft das Ziel größerer Spaziergänge für die Bewohner von Rothenhof; man hatte deshalb in dem Gestrüpp Fußpfade angelegt, die allmählich zum Gipfel emporführten, und unter dem einzelnen Apfelbaum auf dem Zuckerhut Bänke aufgestellt. Auch heute fand der Spaziergang hier seinen 353 Abschluß. Die kleinen Mädchen suchten unter dem Geröll und dem Schutt nach runden Steinen und entfernten sich dabei weiter und weiter; der Graf und Alice hatten auf einer der Bänke Platz genommen und blickten der scheidenden Sonne nach, die fern im Westen in einem Feuermeer zu versinken schien, in einem Feuermeer, das die Wolken am Himmel und Wiese und Strom auf Erden rot färbte, das den Zuckerhut und den Grafen und Alice in rote Glut tauchte und mit hundert feurigen Zungen aus den Fenstern des Schlosses emporzulecken schien.

Ein kleiner hellgrauer Vogel saß auf der höchsten Spitze eines der Apfelbäume im Thal und sang so süß, als wollte er sterben an seinem Lied. Und wieder überkam den Grafen jene seltsame Sehnsucht aus den Jünglingsjahren, jenes Warten auf ein wunderbares Glück, dem er sich näherte, jenes Bangen vor vernichtendem Unglück, das langsam herangezogen kam. Es war ihm, als ob er der Sonne nacheilen müsse, sich hineinstürzen müsse in die rote selige Glut.

Da sank sie hin, jetzt noch eine Halbkugel, jetzt noch ein Streifen, dann noch ein Strahl. Alice hatte sich erhoben, als ob sie die Scheidende so noch länger sehen könnte, und unwillkürlich ihre kleine Hand auf die Schulter des Grafen gelegt. Der Graf blieb bewegungslos sitzen, auch seine Seele hielt in Schreck und Seligkeit den Atem an. Er wußte jetzt, daß er Alice liebte. Wußte sie es auch schon, daß auch sie ihn liebte? Der Graf blickte gespannt zu ihr empor. In ihren Augen standen Thränen, und 354 aus ihrem Kindergesichtchen sprach tiefe Rührung; aber eben aus ihrer Haltung ging hervor, daß sie nicht wußte, was sie that, als sie ihre Hand auf seine Schulter legte.

Der Graf atmete erleichtert auf. War sie noch unbefangen, dann konnte noch alles gut werden.

Alice wurde plötzlich ihre Stellung inne und erschrak. »Pardon, Herr Graf,« stammelte sie, über und über errötend, und zog ihre Hand rasch von seiner Schulter.

»Bitte, Fräulein Alice,« erwiderte der Graf, »ich hoffe, daß wir so gute Kameraden sind, daß Sie nicht zu erschrecken brauchen, wenn Sie Ihre Hand auf meiner Schulter finden.«

Noch während der Graf so redete, fuhr ihm der Gedanke durch den Kopf, daß er so nicht mehr sprechen, daß er ihrer Vertraulichkeit nicht noch Vorschub leisten dürfe; aber er beendete den Satz doch.

Alice aber blickte ihn aus ihren großen Augen offen an und rief: »Sie haben recht, Herr Graf. Ich weiß nicht, woher es kommt, aber es ist mir Ihnen gegenüber zu Mut, als ob ich Ihre Schwester wäre und Ihnen alles, alles anvertrauen müßte.«

Der Graf blickte mit tiefer Rührung auf sie nieder. »So wahr Gott lebt,« schwur er sich, »dein Vertrauen soll nicht getäuscht werden, du schönes Kind! Ich will dich selbst an einen sicheren Ort bringen, und du sollst nie eine Ahnung davon haben, an welchem Abgrund du ahnungslos dahingeschritten bist.«

Er erhob sich rasch und rief nach den Kindern. 355 Diese kamen, mit bunten Steinen und roten Erdbeeren reich beladen, herbei, und alle vier gingen langsam den Wiesenrain entlang dem Schlosse zu.

Der Graf, der der auf ihn eindringenden Gefühle Herr zu werden suchte, brachte das Gespräch auf das politische Gebiet. Es war damals eine Broschüre erschienen, die ungeheures Aufsehen erregte und daher auch von den Damen gelesen worden war. Der Graf und Alice standen eigentlich in verschiedenen Heerlagern, und wenn ein anderer Mann gesprochen hätte wie er, so wäre er bei ihr so schlecht weggekommen wie Baron Paul; so aber äußerte sie ihre Meinung nur in der Form von Fragen, Fragen, wie sie eine wißbegierige Schülerin an den alles wissenden, verehrten Lehrer stellt.

Als sie den Schloßhof erreicht hatten, blitzten neben dem hell leuchtenden Abendstern auch schon die anderen Sterne auf.

Der Graf begab sich sofort zu seiner Frau. Er setzte sich neben sie, strich ihr mit sanfter Hand das volle blonde Haar aus der Stirn und war zärtlich und weich. »Du arme, arme Frau!« dachte er, während er sie küßte. »Aber du sollst nie erfahren, wie arm du bist, und deiner Ehre soll kein Haar gekrümmt werden.« Schuldbewußtsein und Mitleid trieben ihn gleich sehr dazu, heute gegen seine Frau noch zärtlicher und aufmerksamer zu sein als sonst. Er speiste mit ihr zusammen, er las ihr vor und plauderte dann mit ihr von alten schönen Zeiten, in denen ihn so viel Liebe aus seines edlen Weibes 356 Augen angelächelt, in denen er in dem Umgang mit ihr so viel Freude und Glück erfahren hatte. Er liebte sie nicht, er liebte eine andere – das Lieben stand nicht in seiner Macht – aber sein Weib hatte es um ihn verdient, daß es nie davon erfuhr; daß er die Versuchung allein niederwarf, und daß sie nach wie vor glauben mußte, daß er sie liebte.

Während der Graf seine Frau so mit Zärtlichkeiten überschüttete und voll Liebenswürdigkeit mit ihr plauderte, und während sie sich seine Zärtlichkeit in ihrer sanften Art gefallen ließ und in ihrer ruhigen Weise auf sein Geplauder einging, hatte sie doch nur den einen Gedanken: »Du lügst, du lügst! Deine Zärtlichkeit ist nichts als schmachvolles Mitleid. Du liebst mich nicht mehr, du liebst die andere!«

Als der Graf, nachdem er sich verabschiedet hatte, von der Thürschwelle aus noch einen Blick warf auf den traulichen Raum und sein schönes Weib darin, da dachte er: »Gott sei Dank dafür, bis hierher ist die Unruhe noch nicht gedrungen, und sie soll auch nie hinein.« Als er die Thür hinter sich geschlossen hatte, da drückte sein Weib den schmerzenden Kopf in die Kissen und stöhnte in heißer Qual so laut, daß Amalie erschreckt hinzusprang.

Alice schrieb unterdessen an ihre Freundin: »Was endlich die –sche Broschüre anbetrifft, so kann ich heute, wo ich sie noch einmal gelesen habe, nicht mehr so günstig über sie urteilen, wie in meinem letzten Briefe. Der Verfasser übertreibt doch in hohem Grade. Was soll aus uns werden, wenn wir 357 uns auf das Frondieren legen und unsere jüngeren Söhne infolgedessen aufhören, in der Armee zu dienen oder sonst in Rußland ihr Brot zu suchen? Ein Adel, der nicht dem Staate dient, muß notwendig dem Junkertum verfallen. Bei uns sind alle Bedingungen vorhanden, daß wir eine wirkliche Aristokratie bilden können, denn wir sind von uraltem Geburtsadel, wir sind die Reichsten, die Gebildetsten und die Intelligentesten im Lande. Wir können diese Stellung aber nimmermehr behaupten, wenn sich unter uns durch Zersplitterung der großen Herrschaften Güter bilden, die eine adlige Familie nicht standesgemäß erhalten können. Schon jetzt, liebe Adelheid, hat man vielfach damit begonnen, die Beihöfe an die jüngeren Söhne auszuteilen. Geht das so fort, so haben wir bald eine Schlachitza (das Wort war zweimal ausgestrichen, durch Punkte aber wieder hergestellt) im Lande, die den wirklichen Adel zu sich herabzieht. Wir dürfen nicht frondieren, unsere jüngeren Söhne müssen aus dem Lande. Der Graf ist in dieser Beziehung ganz meiner Ansicht und er findet es auch lächerlich, daß wir immer eine Vormauer von einem Lande sein wollen, das gar keine Vormauer haben will und das sich im ganzen Laufe unserer Geschichte nie um uns gekümmert hat und auch nie ernstlich kümmern wird. Der Graf sagt, wir sollten doch etwas vom Cäsar haben und lieber die ersten in – ja, wie hieß die Stadt nur, weißt du, sie war in den Alpen – sein, als die letzten in Rom, und er meint, daß wir überhaupt keine Mauer sein sollten, 358 sondern ein geöffnetes Thor, durch das die Leute aus- und eingehen. Ich finde auch, daß unsere erste Aufgabe ist, zwischen den beiden Nationen, denen wir angehören, freundlich zu vermitteln und den Frieden zwischen ihnen zu erhalten, anstatt sie gegen einander aufzuhetzen. Was den Baron Paul anbetrifft, so ist er ja wohl ein großer Narr und ein widerlicher Mensch; aber er wäre doch ebenso geworden und vielleicht noch schlimmer, wenn er nicht dienen würde. Der Graf findet das auch. Das, was unseren jungen Leuten not thut, liebe Adelheid, ist militärische Disziplin für die Majoratsherren und freie Bahn für deren jüngere Brüder. Darin muß ich dem Grafen ganz Recht geben. Ich sage dir, der Graf sollte eine Broschüre schreiben und seine Ansichten entwickeln. Er will es aber nicht thun, weil er behauptet, das sei nicht seines Amtes. Ich könnte ihm tagelang zuhören. Wie schön, daß er verheiratet ist, und ich daher ganz unbefangen mit ihm reden kann. – Die Gesellschaft bei Gehrs muß ja sehr hübsch gewesen sein. Du schreibst nicht, ob &c.« –

Als der Graf sein Zimmer aufgesucht hatte, warf er sich in die Ecke seines Sofas und blickte nachdenklich in die Flammen der Kerzen. Durch das geöffnete Fenster kamen zugleich mit der warmen Nachtluft zahlreiche Mücken ins Zimmer, flatterten in die Lichte und stürzten dann jäh auf die hellgraue Tischdecke herab, die von ihren schwärzlichen Überresten mehr und mehr bedeckt wurde. Draußen in der Ulme vor dem Fenster schrie unheilverkündend ein Käuzchen.

359 Der Graf bemühte sich, so kaltblütig wie möglich zu überlegen. Die Geliebte mußte fort, fort aus seiner gefahrvollen Nähe. Sie mußte fort um ihretwillen, um Inas willen, endlich auch um seinetwillen. Sie sollte nicht wieder zurück zum Vater, in dieser Beziehung hatte er schon einen fertigen Plan. Seine Tante, die Gräfin Gella Polderkamp, die als kinderlose Witwe in Riga lebte, liebte ihn über alles; sie würde auf seinen Wunsch gewiß Alice als Gesellschafterin engagieren, und sie so für die nächsten Jahre wenigstens aller Not des Lebens entrücken. Diese Bitte ließ sich durch die Beziehungen, in die Alice zu seiner Familie getreten war, und ihre persönlichen Verhältnisse hinreichend motivieren. Aber wie sollte er Alicens Gehen veranlassen, wie es einleiten? Ina schien unglücklicherweise mit ihren Leistungen zufriedener zu sein, die Kinder hatten sie herzlich lieb – »wie könnten sie auch anders,« dachte der Graf.

Er entschloß sich endlich, die Rückkehr der alten Campbells abzuwarten. Er wollte dann mit seiner Schwiegermutter sprechen und ihr vorstellen, daß Alice bei aller Liebenswürdigkeit und bei allem Eifer für eine Erzieherin doch noch zu jung sei. Die kluge alte Dame würde dann schon ein Arrangement finden, durch welches das Verhältnis zu Weihnachten gelöst würde, ohne daß Alice sich dadurch irgend verletzt fühlen konnte. Dieser Entschluß besagte freilich, daß Alice bis Weihnachten in Rotenhof blieb; aber der Graf fand keinen anderen Ausweg. Er schwur sich 360 noch einmal, seine Leidenschaft mit eiserner Hand niederzuhalten; er gelobte sich nochmals, aus seinem Verkehr mit Alice jede Vertraulichkeit fern zu halten; er nahm sich vor, sich künftig noch mehr am Tage seinen Geschäften, am Abend seiner Frau zu widmen.

Ein schön gemusterter, hellgrauer Nachtschmetterling flatterte auf das Licht zu. Der Graf trieb ihn durch eine Handbewegung fort. Da war er wieder – der Graf verscheuchte ihn abermals. Ein durch den Luftzug hervorgerufenes Knarren der Thür bewog den Grafen, sich umzuwenden. Als er seine Blicke wieder dem Licht zuwendete, stürzte das Tierchen mit verbrannten Flügeln auf den Tisch herab.

Einige Tage nach diesen Vorgängen gab es wieder einen besonders schönen Tag. Die Sonne kam nicht zum Vorschein; gleichmäßige graue Wolken verhüllten sie und das Blau des Himmels, aber es regnete nicht und war ganz windstill. Die Luft war von wohlthuender, warmer Feuchtigkeit erfüllt, alle Blüten, alle Blumen dufteten stärker als sonst. Der Graf wollte auch heute wie schon an den drei vorhergehenden Tagen gegen seine Gewohnheit nach Tisch noch einmal ausreiten, um einem Alleinsein mit Alice aus dem Wege zu gehen. Als er sich aber nach der Mahlzeit erhob, trat diese auf ihn zu, blickte ihn schalkhaft an und sagte wie ein verwöhntes Kind, das sich für einen Augenblick vernachlässigt fühlt: »Warum werde ich denn jetzt gar nicht mehr mitgenommen, Herr Vetter?«

361 »Ich wußte nicht, daß Sie mitgenommen werden wollten, Cousine,« erwiderte der Graf und befahl, das Reitpferd der Gräfin – bis zu diesem war Alice mittlerweile avanciert – satteln zu lassen.

Der Graf hatte gethan, als ob er in Geschäften ausreiten müsse, sie schlugen daher den Weg nach einem der entfernteren Vorwerke ein, wobei sie eine Weile die von Campbellshof nach dem Innern des Landes führende Landstraße verfolgen mußten. Während sie sich noch auf dieser befanden, lockerte sich unter Alice der Sattelgurt, so daß beide absteigen und der Graf ihn fester ziehen mußte. Da sein eignes Pferd so wild war, daß er es nicht allein stehen lassen konnte, so mußte er es für einen Augenblick anbinden; er führte daher die beiden Tiere auf eine hart an den Weg stoßende Lichtung des Waldes, band sein Tier an eine Birke und brachte den Sattel in Ordnung. Als er Alice wieder in denselben hob, fuhr gerade der Kirchspielsrichter Werchend vorüber. Dieser sah einen Augenblick erstaunt auf die beiden, grüßte dann sehr höflich und fuhr weiter, wandte sich aber bald im Wagen um und blickte ihnen nach, bis eine Wendung der Straße sie seinen Blicken entzog. Die Begegnung schien ihn in hohem Grade zu interessieren, er schüttelte von Zeit zu Zeit den Kopf und ließ seinen Vollbart durch die Hand gleiten, während ein Lächeln seine Lippen umspielte.

Als Herr von Werchend nach einer Stunde mit dem Baron Weiß und dessen Frau im Garten des Weißschen Gutes beim Abendessen saß, wandte er sich 362 an die Baronin und sagte: »Ein liebreizendes Mädchen, die Polderkampsche Gouvernante!«

»Sie meinen die Heinersdorf?«

»Ja.«

Die Baronin zuckte die Achseln. »Ich begreife nicht, was die Herren an ihr finden. Mein Geschmack ist sie nicht.«

Der Kirchspielsrichter blickte aufmerksam auf ein Brotkügelchen, das er unter dem Zeigefinger hin und her rollte.

»Manchem Herrn scheint sie allerdings sehr zu gefallen,« sagte er lächelnd.

Die Baronin, eine kleine, rundliche Frau, neugierig wie eine Nachtigall und geschwätzig wie eine Elster, blickte auf, als ob das Brotkügelchen, mit dem der Baron spielte, ein Mehlwurm wäre. Auch ihr Gemahl hob die Adlernase hoch und sah den Herrn gespannt an. »Was willst du damit sagen?« fragte er.

Der Kirchspielsrichter ließ das Kügelchen fahren und blickte auf seine krallenartig langen Nägel. »Man muß mit der Gräfin rechtes Mitleid haben,« sagte er, »die arme Dame soll ja wirklich sehr leidend sein.«

Frau von Weiß rückte ihren Stuhl näher heran. »Meinen Sie wirklich?« sagte sie. »Aber sie leben doch wie die Engel im Paradiese?«

Der Kirchspielsrichter zuckte die Achseln. »Meine gnädige Frau, ich sage nichts, was dieser Annahme widerspricht.«

»Aber, bester Werchend, seien Sie doch nicht 363 unnötigerweise so zugeknöpft. Wir sind ja hier ganz unter uns, und mein Mann und ich sind verschwiegen wie Gräber.«

»Gewiß, meine gnädige Frau, ich zweifle nicht daran; aber Sie werden mir zugeben, daß es Dinge gibt, über die man nicht einmal Vermutungen aufstellen darf, ehe man Beweise in Händen hat.«

Der Hausherr nahm einen Schluck Rotwein, rollte ihn im Munde hin und her, gluckste wie eine Henne und lachte dann hell auf. »Da hast du es, Agathe!« rief er. »Ist er nicht ein Diplomat, ein vollständiger Metternich?«

Der Kirchspielsrichter runzelte ein wenig die Stirn, als ob ihm der Spaß nicht recht angebracht erschien, schwieg aber.

Die Baronin flatterte vom Strauch herab. »Stellen Sie doch nur Vermutungen an,« bat sie dringend. »Also Sie meinen, daß da drüben in Rotenhof nicht alles in Ordnung ist?«

Der Kirchspielsrichter sah einen Augenblick wie schwankend vor sich hin, blickte aber dann auf und sagte entschlossen: »Ja, das meine ich.«

»Hör einmal, Werchend, das meinst du doch gewiß nur, weil du damals die Geschichte mit Polderkamp hattest.«

Herr von Werchend runzelte die Stirn. »Sie sehen, meine gnädige Frau,« erwiderte er, »wie recht ich hatte, als ich vorhin sagte, solche Vermutungen seien unstatthaft.«

364 Die Baronin warf ihrem Manne einen ärgerlichen Blick zu. »Du bist mir unbegreiflich, Alexander,« sagte sie. »Jene alberne Geschichte ist doch längst vergessen. Sprechen Sie nur, Herr von Werchend, sprechen Sie nur!«

»Sprechen kann ich nicht, aber ich will Ihnen eine Geschichte erzählen, eine Geschichte, die sich nicht in dieser Gegend abspielte, eine Geschichte, deren Helden Sie nicht kennen, eine ganz objektive Geschichte.«

Die Baronin setzte sich in Positur und sperrte den Schnabel auf, ihr Mann zuckte die Achseln, schüttelte den Kopf und lächelte, als ob er sagen wollte: »Was das für ein Unsinn ist!« Der Kirchspielsrichter lehnte sich im Stuhl zurück und erzählte:

»Es lebte einmal in Pommern oder Preußen ein Freiherr – ein Freiherr, meine gnädige Frau – der in weiten Kreisen sehr geachtet war. Dieser Freiherr hatte früher bei der Garde – in Potsdam natürlich – gedient; sagen wir bei den Husaren. Er war dort ein berüchtigter Wüstling gewesen und hatte sein väterliches Erbe bis auf den letzten Kopeken durchgebracht. Da gelang es ihm, eine reiche Erbin zu bethören; er heiratete sie, nahm seinen Abschied und wurde Gutsbesitzer – Rittergutsbesitzer, meine gnädige Frau. Gewandt und mit allen Hunden gehetzt, wie er war, verstand er es bald, sich in den Ruf eines ausgezeichneten Landwirts, eines geschickten Verwalters und eines liebevollen Ehemannes zu bringen, obgleich er von der Landwirtschaft nichts 365 verstand, in der Verwaltung immer gegen das Gesetz verstieß und sein Weib Jahr für Jahr betrog. Schließlich kam eine hübsche Wirtschafterin ins Haus – eine Wirtschafterin, meine gnädige Frau – und der Freiherr entblödete sich nicht, mit ihr hinter dem Rücken seiner ihm blind vertrauenden Frau ein Liebesverhältnis anzuknüpfen. Er entblödete sich nicht, sich mit ihr am hellen, lichten Tage Rendezvous im Walde zu geben, und einer meiner Freunde, der schon vorher durch seinen Diener, der mit dem Diener des – Freiherrn bekannt ist, aufmerksam gemacht worden war, hat sie selbst bei einem solchen überrascht.« –

»Selbst? Sie sagen, Sie hätten sie selbst bei einem Rendezvous überrascht?«

»Ich habe gar nichts gesehen, meine gnädige Frau; ich spreche von meinem Freunde.«

Der Hausherr erhob sich und schlug seinem Gast derb auf die Schulter. »Ist das ein verdammter Schwindel!« sagte er lachend und ging, um die Cigarren zu holen. Er war halb belustigt und halb verdrossen, ersteres aber ungleich mehr als letzteres.

»Schlauberger,« dachte er, »in dieser Form kann man ohne weiteres dem ehrlichsten Manne den Hals abschneiden, ohne irgend etwas dabei zu riskieren. Ein höchst gefährlicher Pfiffikus, ein nichtswürdiger Pfiffikus!«

Die Baronin beugte sich über die Ecke des Tisches nach dem Gast hinüber. »Und die Details?« fragte 366 sie. »Hat Ihr Freund Ihnen nicht auch die Details mitgeteilt?«

»Die Details, meine gnädige Frau, die Details entziehen sich der Mitteilung. Aber nicht wahr, gnädige Frau, ich habe Ihr Ehrenwort, daß Sie gegen niemand davon sprechen?«

»Ich bin verschwiegen wie das Grab. Die arme, arme Gräfin,« erwiderte die Baronin. 367

 


 


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