Theodor Hermann Pantenius
Im Gottesländchen
Theodor Hermann Pantenius

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Sechstes Kapitel.

Die Morgensonne ist die größte Feindin der Leidenschaft. Wie ihre hellen warmen Strahlen den Grafen vor zwei Tagen beruhigt hatten, so ließen sie heute auch die Gräfin ihre Lage in einem ruhigern Lichte betrachten. Sie hatte nach dem Kaffee ihr Lieblingsplätzchen aufgesucht, einen kleinen freien Platz mitten zwischen den Blumenbeeten des Gartens, auf dem ein Tischchen und zwei Stühle standen, und nähte fleißig an einer Stickerei. Der Morgen war köstlich, die Sonne schien hell und warm, die Blumen dufteten, rings um sie her war alles offen und frei, wie sie es liebte. Schmetterlinge gaukelten von Beet zu Beet, im Schatten der Hecken perlten noch Tautropfen, und vieltausendstimmiger Vogelgesang erfüllte den Park und Garten.

Die Gräfin hatte Gespenster gesehen, ohne Zweifel. Ein Grund zu ernstlicher Besorgnis lag durchaus nicht vor. Die neue Gouvernante war ihr unsympathisch – nun, das sind Gouvernanten oft. Das junge Mädchen war mitunter etwas vorlaut – man konnte ihr das abgewöhnen. Das Schlimmste war, 263 daß die Gräfin sich gestern eine Blöße gegeben hatte, allein das konnte sie künftig vermeiden. Die Fremde durfte jedenfalls nicht zwischen sie und ihren Mann treten. Sie gefiel Georg – wohlan sie mußte geschont werden. Er war ja unsäglich gutmütig, weich und mitleidig – wenn er ein aus dem Nest gefallenes Vöglein fand, traten ihm Thränen in die Augen – es war nur natürlich, daß er für die Verletzte Partei ergriffen hatte, zumal diese Verletzte halb und halb eine Waise und zumal sie arm war. Die Zurückweisung war derb ausgefallen, sehr derb, aber Georg war nach weicher Menschen Art heftig und aufbrausend. War die Gouvernante nur tüchtig als solche, so ließ sich schon mit der Zeit ein erträgliches Verhältnis herstellen. Aber war sie eine tüchtige Gouvernante? Das, was sie gestern während der Debatte vorgebracht hatte, war so unreif, so unklar gewesen.

Die Gräfin warf einen Blick auf ihre Uhr und erhob sich. Sie ging gemessenen Schrittes ins Haus und begab sich ins Schulzimmer.

»Sie haben wohl nichts dagegen, Fräulein Heinersdorf,« sagte sie eintretend, »daß ich mir erlaube, Ihrem Unterricht für ein Stündchen beizuwohnen. Ich muß mich doch überzeugen, ob meine kleinen Wildfänge Ihnen nicht allzu viel zu schaffen machen.«

Alice wurde beim Eintritt der Gräfin über und über rot. »Sie sind sehr freundlich, gnädige Frau,« stammelte sie verwirrt.

264 Die Gräfin rückte sich einen Stuhl ans Fenster und setzte sich so, daß sie ihr Gesicht Alice zuwendete, sah sie aber nicht an, sondern war eifrig mit ihrer Stickerei beschäftigt.

»Wünschen Sie vielleicht, daß ich ein kleines Examen anstelle? fragte Alice.

»O bitte, durchaus nicht. Lassen Sie sich durch mich in keiner Weise stören. Ignorieren Sie meine Gegenwart vollständig.«

Die kleinen Mädchen sahen erst Fräulein Heinersdorf und dann einander an und lachten – halb verlegen und halb erfreut, jedenfalls aber zerstreut. Auch Alice war zerstreut. »Sie kommt, um zu finden, daß ich eine schlechte Lehrerin bin,« dachte sie.

Die Voraussetzung eines fesselnden Unterrichts ist ein gewisses magnetisches Fluidum, das Lehrer und Schüler verbindet, das aber latent bleibt, wenn der Lehrer nicht bei der Sache ist. Letzteres war jetzt der Fall. Alice erteilte eine Rechenstunde, aber sie war, so viel Mühe sie sich auch gab, zerstreut. Sie dachte, während sie ihren Schülerinnen das Dividieren mit benannten Zahlen beizubringen suchte, darüber nach, ob sie die Dame am Fenster mit den schön geschwungenen Augenbrauen, den langen seidenen Wimpern und den griechischen Gesichtszügen wohl je lieb gewinnen könnte, und verwickelte sich darüber so in die Ballen, Ries, Buch und Bogen ihres Exempels, daß die Wimpern sich hoben und die blauen Augen sie so verwundert ansahen, daß sie darüber erschrak und nur noch mehr verwirrt wurde.

265 »Ach, ich war zerstreut – nein – so ist es nicht, wir wollen noch einmal anfangen, Kinder. Also gebt acht!«

Die kleinen Mädchen wandten sich für einen Augenblick nach der Mutter um, lächelten und blickten dann wieder mehr neugierig als aufmerksam auf die Tafel. Die Gräfin sah längst wieder auf ihre Stickerei, und Alice begann von neuem. Es gelang ihr aber wieder nicht, ihre Aufmerksamkeit auf Ries, Buch und Bogen zu konzentrieren, sie dachte vielmehr nur: »Ach Gott, für wie dumm muß die Gräfin mich halten!« Auch der zweite Versuch mißlang. Alice hatte sich nie so unglücklich gefühlt wie in diesem Augenblick. Die Verzweiflung gab ihr endlich die Klarheit des Geistes zurück, aber jetzt waren die Kinder zerstreut und gaben die einfältigsten Antworten.

Endlich, endlich schlug die Uhr zehn. Die Gräfin erhob sich, küßte ihre Töchter auf die Stirn und verneigte sich gegen Alice. Diese, im Innersten erregt, rot, erhitzt wie sie war, fühlte, daß sie irgend etwas sagen mußte. Aber was?

»Gnädige Frau,« stammelte sie mit einer Stimme, in der künftige Thränen durchzitterten. »Sie dürfen –«

»O bitte, mein Fräulein,« fiel ihr die Gräfin mit einem Blick auf die Kinder ins Wort. »Sie hatten sich geirrt. Das kommt natürlich vor. Sie rechneten das Buch zu zwanzig Bogen, während es vierundzwanzig hat. Ich wollte nicht stören, sonst hätte ich 266 Sie auf Ihr Versehen aufmerksam gemacht. Auf Wiedersehen!«

Da Frau Ina viel größer war als Alice, so hatte diese zu ihr aufsehen müssen. Jetzt wandte die Gräfin ihr den Rücken und Alicens hilfesuchender Blick fiel nur noch auf die langen Falten und die weiße Schleppe ihres weißen Morgenkleides.

»Sie ist durchaus unfähig,« dachte die Gräfin, während sie die Treppe hinabstieg. »Meine Befürchtungen erfüllen sich, statt einer Gouvernante haben wir ein Stück adeligen Proletariats ins Haus bekommen. Sie war zerstreut – schön – aber könnte ich wohl je so zerstreut sein, daß ich nicht mehr wüßte, wieviel Bogen ein Buch hat. Und dann, warum wurde sie durch meine Gegenwart zerstreut?«

»Der Herr Doktor ist auf der Veranda,« meldete der Diener im Vorsaal.

»Guten Morgen, Doktor,« rief die Gräfin, als sie die Veranda betrat, und streckte dem Angeredeten beide Hände entgegen. »Wie geht es daheim?«

Der Doktor, ein großer Mann mit grauem Haupthaar und Vollbart und einem von Wind und Wetter rot gefärbten Gesicht, ergriff die Hände der Gräfin und führte sie an die Lippen. »Danke bestens, Inachen,« – so nannte er die Gräfin auf ihren Wunsch, wenn sie allein waren – »die Alten sind ganz wohlauf. Na, wie sollten sie auch nicht, Paul kommt Ende nächster Woche.«

267 »Kommt er, Doktor? Kommt er wirklich? Das ist herrlich. Sehen Sie, Doktor, Sie bringen mir immer etwas Liebes, darum liebe ich Sie auch so.«

»Wirklich? Thue ich das. Na ja, früher, als man noch mit Zuckerkringeln und Schokoladeplätzchen wirken konnte, da war ich bei meinem Inachen ein lieber Gast – aber jetzt auch noch?«

»Jetzt auch noch, Doktor. Aber kommen Sie – Sie wissen, ich muß Luft und Licht haben. Sie lieben ja auch die Sonne. Geben Sie mir Ihren Arm – so, kommen Sie!«

Sie stiegen die Treppe hinab und suchten den Platz wieder auf, den die Gräfin vorhin verlassen hatte.

Die Augen des Arztes ruhten mit zärtlichem Ausdruck auf der Gräfin. Er hatte viele Kinder und er liebte sie sehr, aber er liebte doch keines mehr als sein Inachen.

»Sie sehen übel aus,« sagte er. »Wo fehlt es?«

»Es ist nichts, Doktor. Wer sieht nicht einmal etwas angegriffen aus!«

»Nein, nein, Sie haben Ringe unter den Augen – Sie sehen wirklich angegriffen aus.«

»Ich versichere Ihnen, Doktor, ich bin ganz gesund. Waren Sie schon im Hospital?«

»Ich? Im Hospital? Nein, was soll ich da. Da ist ja – Gott sei Dank, kein Mensch darin. In der Knechtsstube war ich – wissen Sie – der Kinder des Brandwine wegen – aber das hat nichts auf sich.«

»Nun, das ist erfreulich. Also eine gesunde Zeit.«

268 »Na ja, hier. Aber drüben im Pargelschen – das halbe Gebiet ist krank. Ich sage Ihnen, Inachen, die Leute rissen sich um mich.«

»Waren Sie so weit gefahren?«

»Ja, was blieb mir übrig? Sie haben dort keinen Arzt. Da war eine arme Frau – ein Knechtsweib – konnte nicht gebären. Arme Leute – vier Kinder waren schon da – das fünfte ging zu Grunde – daß Gott erbarm!«

»Kommen Sie wieder hin, Doktor?«

»Na ja, weiß schon, danke herzlich, werde es besorgen lassen. Zehn Rubel werden zunächst genug sein, behalten Sie die fünf nur, Inachen, hole sie mir schon ab, ein andermal. Oder warten Sie – geben Sie sie doch lieber her – so – danke herzlich, legen Sie noch fünf zu, dann langt es für den Hirsch im Smiltenkruge. Armer Kerl – hat die Schwindsucht, kann nichts verdienen, daß Gott erbarm! Was die Slaumke anbetrifft – wissen Sie, die Mutter von der hübschen Kalle – die kriegt nichts. Sie hat es nicht nötig, bekommt von der jüdischen Gemeinde zwei Rubel monatlich. Nein, die will nur für die Tochter ein Krongeld zusammensparen, hat aber noch keine Eile damit.«

Die Gräfin drohte dem Doktor mit dem Finger.

»Na ja, was wollen Sie – für ein hübsches Mädchen behält auch ein alter Kerl noch ein Auge. Apropos, ein alter Kerl bin ich, das habe ich neulich gesehen – ich sage Ihnen, Inachen, ich wäre 269 vorgestern, als ich nach Pargel fuhr, um ein Haar ertrunken.«

»Aber, Doktor!«

»Nein, wahrhaftig. Na, bleiben Sie nur sitzen, Inachen, aber ich wäre wahrhaftig um ein Haar Chatzke gewesen. Wissen Sie, es war schon dunkel und ich verfehlte die Furt durch die Erke – und mit einemmale fällt der Braune hinein – was soll ich Ihnen sagen, Inachen – nur die Ohren standen heraus.«

»Nun? Nun?«

»Na ja, was ist da zu Nu–en? Ich heraus und an den Gaul heran. Aber ich sage Ihnen, es wurde mir höllisch schwer, die Mähre an die Zügel zu fassen, ich sage Ihnen, Inachen, höllisch schwer. Na ja, man wird alt, Inachen, man wird alt. Aber sprechen wir von etwas anderem – vom Alter spricht man nämlich nicht gern, Inachen – nein, wahrhaftig nicht. Wie gefällt Ihnen denn die neue Gouvernante? Soll ja ein bildhübsches Mädel sein.«

»Wie so? Wer sagt das?«

»Der Herr von Grünhof. Wissen Sie, Inachen, der bei der Accise – junger blonder Mensch – Mordschmarre über die linke Wange. Na ja, was rede ich, er kam ja von Ihnen. Begegnete ihm gestern abend. War ganz aus Rand und Band. Soll ja reizende Grübchen haben. Wie? Hören Sie, Inachen – die Edeltanne da gedeiht aber wirklich ganz famos.«

270 »Ja, sie gedeiht.«

»Na ja, schön. Ihr müßt sie aber nicht maltraitieren, weil sie adelig ist.«

»Was fällt Ihnen ein, Doktor!«

»Na ja, wir sprechen ja unter uns. Sie haben auch ein bißchen adeligen Tick – ein klein bißchen, Inachen, aber doch ein bißchen.«

»Nun, dann müßte ich ja gerade glücklich sein, sogar eine adelige Gouvernante zu haben.«

»Na ja, das scheint so, ist aber nicht so. Man denkt, sie wird immer Kuchen haben wollen und gönnt ihr darüber das liebe Brot nicht. Na ja, mein Inachen wird ihr gutes Herz schon mitsprechen lassen. Armes junges Ding! Muß auch kein Vergnügen sein, den alten Heinersdorf zum Vater zu haben.«

»Wie so, Doktor, wie so?«

»Na, der Alte ist keinen Schuß Pulver wert. Die ganze Rasse hat eigentlich nie was getaugt – verfluchtes Volk, die Engländer, sagt der alte Graf Rechberg, sprechen meinen ehrlichen Namen Heinersdorf aus. Na ja, aber lassen Sie es das Dingchen nicht entgelten. – Wie geht es dem Grafen? Übernimmt also doch Hallermünde? Na ja, freut mich. Er ist der Mann dazu – werden einmal dreimal so reich sein, wie Sie jetzt schon sind, Inachen. Na ja, kann meinen Armen schon recht sein. Grüß Sie Gott, Inachen.«

»Aber bleiben Sie doch zum Frühstück, Doktor. Georg wird gleich nach Hause kommen. Sie können 271 ja dann auch die Grübchen von Fräulein Heinersdorf bewundern.«

»Ha, ha, ha! Na ja, das fehlte noch. Bin heute in Sergen. Wird eine schandbar heiße Fahrt werden, aber was thun? Dazu ist man da. Adieu, Inachen, und grüßen Sie den Grafen. Na ja, und sticken Sie nicht so viel. Taugt nichts – taugt gar nichts. Na ja – Adieu, Inachen.«

Der Doktor saß schon in seinem Wägelchen, und der Stallknecht vorn am Kopf des Pferdes ließ schon die Zügel fahren, als der Doktor dem Diener zurief: »Rufen Sie doch einmal Amalie.«

Der Diener eilte ins Haus, und Amalie erschien. Alice hätte schwerlich geglaubt, daß Amalie so freundlich aussehen könne wie jetzt.

»Guten Tag, Amalie,« sagte der Doktor in lettischer Sprache. »Geben Sie acht, daß die Gräfin nicht zu viel stickt.«

»Jawohl, Herr Doktor,« erwiderte Amalie ebenfalls lettisch. Die Gräfin und der Doktor waren die einzigen Menschen, mit denen Amalie lettisch sprach – in beiden Fällen redete ihr Herz.

Der Doktor trieb sein Pferd an. In der Allee begegnete ihm der Graf.

»Ich danke Ihnen, Doktor, daß Sie gleich gekommen sind. Sie haben doch meiner Frau nichts von meinem Brief erzählt?«

»Nein, nichts. Na ja, mit dem Unwohlsein ist es übrigens nicht so schlimm, wie ich fürchtete – kleine 272 Indisposition, das gibt sich. Na ja, wie geht der neue Hengst?«

»Danke, Doktor, leicht. Also sie meinen, es habe nichts auf sich? Ina ist aber in den letzten Tagen ganz verändert, so reizbar.«

»Na ja, die Frauen sind alle reizbar – man muß sie eben nicht reizen. Adieu, Herr Graf!«

Der Besuch des alten Freundes hatte die Gräfin noch mehr beruhigt. »Also die Heinersdorfs hatten ein so schlechtes Renommee! Und speziell Alicens Vater taugte nicht viel. Ganz richtig, der Graf hatte sich ja kürzlich ihrem Vater gegenüber ähnlich ausgesprochen. Und dann – der Vater hatte recht, wenn er sagte, daß man von seinen Lieben nichts Schlechtes glauben dürfe. Der Graf –« nein, ihr Eifersuchtsanfall war doch noch thörichter gewesen, als sie geglaubt hatte. Ina Campbell eifersüchtig auf Alice Heinersdorf, das war lächerlich und weiter nichts!

Frau Ina ging durch das Souterrain ins Haus, um dem Koch einen Auftrag zu erteilen. Als sie das Speisezimmer der Dienstboten durchschritt, fiel ihr Blick auf die noch an der Wand lehnenden Stahlstiche. Der Graf hatte recht, man mußte bemüht sein, dem armen Mädchen, das unter seinen Verhältnissen doch gewiß litt, eine Freude zu machen. So wenig sie auch als Gouvernante taugte, so konnte man sie immerhin nicht vor Ablauf eines halben Jahres entlassen und bis dahin konnte man dazu beitragen, ihr das schwere Leben zu erleichtern. Die Gräfin gab den Befehl, die Bilder hinaufzubringen und zunächst in einem 273 leerstehenden Gastzimmer abzustellen. Sie wollte selbst ihren Gemahl an sein Vorhaben erinnern.

Der Graf kehrte verstimmt nach Hause zurück. Er war, als die neue Gemeindeordnung eingeführt worden war, einstimmig zum Gemeindeältesten der Gemeinde Rotenhof erwählt worden und hatte die Wahl angenommen, aber er hatte sich bald überzeugt, daß sein neues Amt keine Sinecure war. Auch beim redlichsten Willen, beim geschicktesten Vorgehen gelang es nur schwer oder auch wohl gar nicht, die natürliche Kurzsichtigkeit und den Eigennutz der Bauern zu überwinden. Heute hatte es sich darum gehandelt, einen endgültigen Entschluß über den Bau eines Armenhauses zu fassen. Die Armen der Gemeinde waren bisher bei den einzelnen Bauern in Pension gegeben worden und waren dabei eben so schlecht gefahren, wie die Gemeinde selbst. Jetzt sollten sie in einem eigenen Armenhause verpflegt werden, aber der Graf hatte vergeblich seine Beredsamkeit erschöpft, um zu beweisen, daß ein solches sich nicht nur besser überwachen ließe, sondern daß diese Anordnung sich auch als bedeutend billiger erweisen würde. Die wohlhabenden Wirte und selbst die besser gestellten Knechte hatten gedacht, wir kommen doch nicht ins Armenhaus und hatten den Antrag abgelehnt.

Der Graf suchte seine Frau auf und ging langsam mit ihr auf und ab.

»Es ist zum Verzweifeln,« sagte er. »Ich erbot mich, den Grund und Boden unentgeltlich herzugeben, die Ziegel, die Balken, den Kalk – nichts half. 274 Dabei waren sie alle die Freundlichkeit in Person. Und doch kenne ich sie – wäre ich nicht Gemeindeältester, säße ich ihnen nicht immer auf dem Nacken – Gnade Gott den Armen! Sie hätten es noch schlimmer als jetzt, müßten vielleicht gar wie früher in jeder Woche in ein anderes Gesinde! Ich sage dir, Ina, wenn ich an alle diese schwachen Kerlchen und Weiblein denke und an diese hartherzigen, gesunden starken Männer – wahrhaftig es ist, um unter die konservativen Heulbrüder zu gehen und im Namen von Deutschtum und Luthertum die selige Brotpeitsche zu reklamieren.«

»Könntest du ihnen nicht das Haus fix und fertig herstellen?« fragte Ina. »Würde das sehr viel kosten?«

»Gewiß könnte ich das, aber ich will es nicht. Sie müssen doch lernen, selbst an die Ihrigen zu denken. Ich will ihnen ja helfen, aber schenken ist nicht helfen. Es ist zum tot ärgern. Aber ich lasse nicht nach, ich will doch einmal sehen, ob ich nicht hartnäckiger bin als sie. Eine Bande! Aber sprechen wir von etwas anderem!«

Sie durchschritten gerade ein kleines trauliches Plauderstübchen, und des Grafen Blick fiel auf einen schönen Stahlstich über dem Sofa. »Apropos,« sagte er, »sind die Bilder für das Zimmer unserer kleinen Hausgenossin aufgesucht?«

Die Gräfin hatte selbst ihren Gemahl an die Bilder erinnern wollen, aber seine Frage ging ihr jetzt wie ein Stich durchs Herz. Er hatte mitten 275 unter seinen Geschäften doch noch Zeit gefunden, an die »kleine Hausgenossin« zu denken!

»Ich habe die Bilder abstäuben und vorläufig ins dritte Gastzimmer stellen lassen.«

»Vortrefflich, das wird ja ganz prächtig. Wie bekommen wir sie aber für eine halbe Stunde aus ihrem Zimmer? Man muß die kleinen Mädchen ins Geheimnis ziehen.«

»Es ist angerichtet!« meldete der Diener.

Als man gefrühstückt hatte, rief der Graf die Töchter beiseite. »Geht ihr jetzt spazieren?«

»Jawohl, Papa! Willst du mitkommen?«

»Nein. Ich habe aber eine Überraschung für Fräulein Heinersdorf im Sinn. Ihr müßt daher dafür sorgen, daß sie nicht vor einer halben Stunde zurückkehrt. Versteht ihr?«

»Was ist es? Lieber guter Herzenspapa, was ist es?«

»Sage es uns, Papa, wir werden ganz gewiß schweigen!«

»Seid nicht so neugierig. Nach einer halben Stunde werdet ihr wissen, worum es sich handelt.«

Der Graf kehrte in das Speisezimmer zurück, und damit hatten die Quälereien seitens der Töchter ein Ende.

Sie nickten aber nun erst der Mutter und dann einander zu, bis Alice aufbrach.

Frau Ina hatte unterdessen darüber nachgedacht, ob sie nicht mit Rücksicht auf die Eindrücke, die sie in der Rechenstunde empfangen hatte, die »Überraschung« 276 verhindern sollte. Nach solchen Überraschungen mußte die doch unvermeidliche Kündigung noch peinlicher sein. Sollte sie andererseits ihrem ohnehin so vielgeplagten Manne diese harmlose Zerstreuung mißgönnen? Sie blieb sitzen.

Sobald der Graf vom Fenster aus gesehen hatte, daß Alice und die Kinder im Garten waren, befahl er dem Diener, die Bilder in das Zimmer der Gouvernante zu bringen. Er selbst holte sich ein Kästchen mit Nägeln und einen Hammer und kehrte dann zu seiner Frau zurück. »Komm!« sagte er.

»Ich danke,« erwiderte die Gräfin, »du bringst es ja wohl auch allein fertig.«

Frau Ina fühlte selbst, daß ihre Antwort unfreundlich war, aber sie konnte nicht anders. Ihr innerstes Wesen sträubte sich dagegen, sich an dieser Überraschung zu beteiligen.

Der Graf blickte seine Frau verwundert an und ging dann schweigend hinaus. Die halbe Freude war ihm verdorben.

»Ina ist doch mitunter recht teilnahmlos,« dachte er.

Als er das Zimmer der Gouvernante betrat, fand er übrigens die Freudigkeit an seinem Vorhaben zum Teil wieder. Es war da alles so zierlich und traulich und recht nach Frauenart mit den kleinsten Mitteln Hübsches erreicht. Die Blumen standen zwar in Gläsern, aber die Gläser befanden sich an der rechten Stelle, auf dem Schreibtische waren einige, an sich freilich sehr unbedeutende Kleinigkeiten anmutig 277 verteilt, hier stand ein Körbchen, dort ein Kästchen. Der Graf dachte darüber nach, welches Bild er ihr wohl über den Schreibtisch hängen könnte, aber keines der vorhandenen eignete sich für diesen Zweck. »Was könnte ich ihr hierher hängen? Halt, ich habe es. Sie wird ohne Zweifel für ihn schwärmen, alle schwärmen ja für ihn. Christoph, eile einmal hinunter und bringe mir schnell das Bild, das in meinem Vorzimmer über dem Ecksofa hängt!«

Das Bild wurde gebracht und fand ebenso wie die anderen seinen Platz. Der Graf betrachtete sein Werk mit zufriedenen Blicken; das Zimmer hatte wirklich sehr gewonnen. Er sah nach der Uhr – es war die höchste Zeit. Als er aus dem Zimmer schlüpfte, hörte er die Kinder schon auf dem Vorsaal lachen.

Alice stieg die Treppe zwar langsam, aber doch neugierig hinan. Die Kinder hatten ihr gegenüber nicht reinen Mund gehalten; – was für eine Überraschung konnte aber der Graf ihr bereiten?

Als sie das Zimmer betrat, stieß sie unwillkürlich einen Ruf freudigen Erstaunens aus. Über ihrem Schreibtisch hing das Bild ihres Lieblings, hing Bismarcks Bild. Wie zartfühlend war das wieder! Wie hatte er aber nur in Erfahrung gebracht, daß sie für Bismarck schwärmte? Nun, sie mußte das doch einmal geäußert haben. Aber damit nicht genug, da hingen noch andere Bilder. Das Zimmer war noch einmal so traulich!

278 »Sehen Sie, Fräulein Heinersdorf,« sagte die kleine Erna mit Stolz, »so ist Papa. Wenn er jemand eine Freude machen kann, so geht er zu Fuß nach Riga.«

Alice lächelte. »Ja, ihr habt einen sehr guten, freundlichen Papa,« sagte sie, »ihr müßt ihn auch recht lieb haben!«

»Spaß! Und ob wir ihn lieb haben!« war die Antwort.

Alice errötete plötzlich über und über. Bei dem Gedanken, daß der Graf in ihrem Zimmer gewesen war, überfiel sie ein Gefühl von Blödigkeit; hatte er auch nur alles in Ordnung gefunden? Aber so viel sie auch umherspähte – alles stand, wo es stehen mußte.

Der Graf war unterdessen ungesehen hinabgelangt und begab sich zu seiner Frau. »Inachen,« sagte er, »da oben sieht es ja aus, wie in dem Zimmer einer Zofe. Du konntest der jungen Dame doch auch einen Teppich unter den Schreibtisch und einen vor das Sofa legen lassen.«

»Es wird geschehen, Georg.«

»Schön, mein Liebchen. Aus Wiedersehen!«

Der Graf begab sich in sein Arbeitszimmer und war sofort in Verhandlungen aller möglichen Art vertieft.

Als er zu Tisch kam, trat ihm Alice entgegen, reichte ihm die Hand und dankte ihm für seine Aufmerksamkeit. Sie sah allerliebst aus, wie sie so vor ihm stand und, über und über errötend, ihren Dank 279 stammelte. Der Graf bemerkte, daß er nie ein zarteres Blau an der Schläfe einer Dame gesehen hatte, und die Grübchen waren heute noch lieblicher als gewöhnlich.

»Ihr Herr Gemahl hat mich in so freundlicher Weise überrascht, gnädige Frau, indem er mir meinen Liebling über den Schreibtisch hing.«

»Wen meinen Sie, mein Fräulein? Wer ist Ihr Liebling?«

»Der Graf Bismarck.«

Die Gräfin warf einen raschen Blick auf ihren Gemahl. »Es freut mich, daß mein Mann Ihren Geschmack getroffen hat,« sagte sie. Ihre Worte klangen aber wie: »Ja, was geht das mich an!«

Der Umstand, daß er wieder einmal einen rechten Griff gethan hatte, stimmte den Grafen heiter. Er erzählte, daß er gleich nach dem Essen nach Papenstadt – so hieß die nahegelegene Kreisstadt – fahren müsse, um dort am Abend einen Vortrag im landwirtschaftlichen Verein zu halten. Da seine Frau sich durchaus schweigend verhielt, so wandte er seine Worte unwillkürlich an Alice, der der Verein ja ohnehin etwas Neues war.

»Und worüber werden Sie sprechen?« fragte Alice.

»Über das Gipsen von Klee. Sie müssen nämlich wissen, daß meine Zuhörer zum größeren Teile Bauern sind. Wir haben diesen Verein ins Leben gerufen, um an unserem Teile zur Verbreitung 280 landwirtschaftlicher Kenntnisse unter dem Landvolke beizutragen.«

»Das ist sehr gemeinnützig, Herr Graf.«

»Finden Sie? Wenn es damit nur besser aus der Stelle ginge. Bisher halten wir Gutsbesitzer den Vortrag und debattieren dann darüber; natürlich nur, um die Leute dazu zu veranlassen, daß sie mitsprechen, daß sie wenigstens fragen; aber bisher ist das alles verlorene Liebesmühe. Wir reden uns heiser und sie lächeln, lächeln – Sie wissen ja, unsere Bauern lächeln immer, wenn ein Edelmann dabei ist – aber sie schweigen. Ich habe neulich schon absichtlich den größten Blödsinn gesprochen, nur um sie in Harnisch zu bringen; aber alles vergebens. So fabrizieren wir dann um die Wette – wir Blech, die Bauern Gold.«

Als die Mahlzeit aufgehoben worden war, fragte der Graf Alice, ob sie reite. Als sie die Frage verneinte, drang er in sie, sie möge es doch erlernen. »Ich habe einen alten Schimmel,« sagte er lachend, »der für solche Zwecke wie geschaffen ist.«

Die Aussicht reiten zu können, war für Alice sehr verlockend; sie hatte sich das Reiten immer so herrlich gedacht; aber ihr fuhr der Gedanke durch den Kopf, daß sie dazu eines Reitkleides bedürfe, und sie wollte doch sparsam sein.

»Ich danke Ihnen, Herr Graf,« sagte sie, »aber ich fürchte, was Hänschen nicht lernte, lernt Hans nimmermehr.«

281 »Nun, mit dem Hans hat es, denke ich, noch gute Weile,« erwiderte der Graf lächelnd, »überlegen Sie sich die Sache.«

Der Wagen hielt vor der Thür.

»Du siehst übel aus, Ina,« sagte der Graf, indem er sich verabschiedete.

»Ich danke dir, es hat nichts auf sich. Ich habe ein wenig Kopfweh und will mich etwas zurückziehen.« 282

 


 


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