Theodor Hermann Pantenius
Im Gottesländchen
Theodor Hermann Pantenius

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünftes Kapitel.

Als der Graf am folgenden Morgen in gewohnter Weise seinen Geschäften nachging, bemerkte er mit Verwunderung, daß das Gefühl körperlichen Druckes auf dem Herzen, das ihn am vorhergehenden Tage so sehr beunruhigt hatte, verschwunden war. Ein so jäher Wechsel in seinen Empfindungen beschämte ihn, und er dachte nun absichtlich an die verlorene Geliebte; aber seltsam, das Gefühl vom gestrigen Tage wollte nicht wiederkommen. Seine innere Stellung zu dem Vorgang hatte sich verändert. Es erschien ihm jetzt doch gut, daß er damals mit Lätitia gebrochen hatte. Sie hätte sich in ärmliche Verhältnisse nie finden können, und ihr künftiger Gatte sollte ja ein liebenswürdiger Mann sein. Polderkamp konnte auch heute nicht ohne Schmerz daran denken, daß es ihm nicht beschieden gewesen war, mit der Jugendgeliebten durchs Leben zu wandern; aber er dachte an sie mit sanfter Trauer, wie wir einer lieben Toten gedenken, die uns durch ein grausames Geschick entrissen wurde. Des Grafen erstes Gefühl über diese Empfindung war, wie gesagt, Verwunderung; aber diese wich bald 245 einer fast freudigen Erhebung; konnte er doch nun wieder wie bisher in warmer Zuneigung seines Weibes gedenken. Er dachte an die zehn schönen Jahre, die er, von ihr beglückt, an ihrer Seite durchlebt hatte; er dachte daran, daß er die Stellung, die er einnahm, den weiten Wirkungskreis, den er hatte, die Gastfreundschaft, die er üben konnte, ihr verdankte; er dachte an ihre, wie er glaubte, zwar leidenschaftslose und ruhige, aber auch stets gleichmäßige und nachsichtige Liebe zu ihm, den edlen Ton, den sie seinem Hause verlieh, den klugen verständigen Rat, den sie erteilte.

Dem Grafen wurde es warm ums Herz, und es erfaßte ihn eine plötzliche Sehnsucht nach seinem Weibe. Er kehrte auf dem halben Wege zum Vorwerk Berghof um und ritt zum Schlosse zurück, obgleich er sonst noch ein paar Stunden auszubleiben pflegte. Die Morgenkühle war noch nicht ganz gewichen, und ein frischer Wind ließ den noch grünen Roggen zur Seite des Weges in bläulichen Wogen schwanken. Dazu schien die Sonne so hell, und die Vöglein sangen laut in den leise rauschenden Zweigen der Trauerbirken.

»Wo ist die gnädige Frau, Amalie?« fragte der Graf im Vorsaal.

»Die gnädige Frau läßt im Leutezimmer alte Bilder abstäuben,« war die Antwort.

»Was für alte Bilder?«

»Die Bilder, die früher im grauen Zimmer hingen.«

246 »Ah, die für Fräulein Heinersdorf! Schön.«

Der Graf eilte weiter, Amalie aber blieb stehen und blickte ihm finster nach. »Also dazu waren die Bilder bestimmt?« murmelte sie. »Arme gnädige Frau!«

»Schon zurück?« fragte die Gräfin ihren Gemahl, als sie ihn eintreten sah. »Die Bilder sind übrigens schon fertig,« fügte sie hinzu.

»Welche Bilder?«

»Die Stahlstiche aus dem grauen Zimmer.«

»Ach ja, Amalie sprach mir von ihnen. Nun, damit hätte es nicht solche Eile gehabt. Aber komm, ich habe dir etwas zu sagen.«

Sie stiegen die Treppe hinan. »Was willst du?« fragte die Gräfin oben.

»Komm hierher,« erwiderte der Graf, indem er auf ein kleines Sofa wies, »und setze dich auf meinen Schoß. So, und nun sieh mich nicht so verwundert an. Ich bin einzig und allein deshalb früher nach Hause gekommen, um dir zu sagen, daß ich dich über alle Maßen lieb habe.«

Über das Gesicht der Gräfin flog es wie Sonnenschein. So hatten sie und Amalie gestern abend doch nur Gespenster gesehen. Sie war innerlich voll Jubel, aber sie bewahrte äußerlich wie immer ihre gemessene Haltung.

»Das war hübsch von dir, daß du kamst, Georg,« sagte sie, indem sie ihn auf die Stirn küßte. »Komm immer zu mir, wenn dich dein Herz dazu treibt.«

247 »Dann würde es schlecht um die Wirtschaft stehen, meine Liebe,« war die Antwort.

Zum Frühstück erschienen Alice und die Kinder. Die letzteren waren von ihrer neuen Lehrerin offenbar höchlichst erbaut und schwatzten ohne Ende. Der neue Liebling mußte doch zunächst wenigstens durch das Wort mit allem Interessanten, das es in Rotenhof gab, bekannt gemacht werden. »Und dann,« fuhr Eleonore fort, »hat Amalie in ihrem Zimmer eine Tafel. Auf der stehen die Namen aller Dienstboten, die je bei Papa und Mama gedient haben, aller Diener, aller Kutscher, aller Mädchen, alle, alle. Sie sind auch schon eingetragen.«

»Ja, und Amalie hat hinter Ihrem Namen noch drei Kreuzchen gemacht,« fügte Erna hinzu, »aber sie sagt uns nicht, was das zu bedeuten hat.«

Alice errötete über und über, und die Thränen traten ihr in die Augen.

»Ihr habt euch falsch ausgedrückt, Kinder,« bemerkte der Graf. »Amaliens Tafel enthält nicht nur die Namen der Dienstboten, sondern die aller Hausbewohner. Das ist ein Unterschied.«

»Wir stehen aber nicht darauf, Papa!«

»Nun, ihr seid eben noch allzu kleine Leute, um als Hausbewohner gelten zu können.«

»Ja, das ist wahr. Was bedeuten aber die drei Kreuze?«

»Diese verdanken ihre Entstehung einem Aberglauben. Das Volk glaubt, daß, wer den Namen eines neuen Hausgenossen zum erstenmal schreibt, ihm 248 drei Kreuze beigeben müsse. Dann haben die Hexen keine Macht über ihn.«

»Es gibt aber doch keine Hexen?«

»Nein, darum bezeichnete ich eben diese Sitte als Aberglauben.«

Nach dem Frühstück begaben sich Alice und die Kinder in den Garten. »Das war eine komische Scene,« sagte die Gräfin, als die Thüre sich hinter ihnen schloß.

»Ich fand sie weniger komisch als überaus peinlich,« erwiderte der Graf, indem er an der Klingelschnur zog, ungewöhnlich scharf. »Friedrich, sage Amalie, sie solle auf mein Zimmer kommen.«

»Aber, liebster Georg,« rief die Gräfin, sobald der Diener das Zimmer verlassen hatte, »laß doch Amalie aus dem Spiel! Du weißt ja, daß mit ihr nichts anzufangen ist.«

»Das weiß ich – bitte, laß mich – das weiß ich sehr wohl; aber die Tyrannei, die diese Person hier im Hause ausübt, wird nachgerade unerträglich. Laß mich – ich werde ihr ja nichts thun, ich will ihr nur den Standpunkt klar machen.«

»Aber, bester Georg, du weißt doch sehr wohl, daß das bei ihr ein vergebliches Bemühen ist.«

»Ich will es doch einmal auf eine Probe ankommen lassen.«

»Ich bitte dich, thue es nicht. Wir müssen sie nun einmal nehmen, wie sie ist. Wir können sie ja doch nicht fortschicken. Es wird wieder dieselbe Geschichte werden wie mit dem letzten Koch. Damals 249 war sie auch im Unrecht, und doch mußten wir den Koch gehen lassen, und sie blieb.«

Der Graf wollte aufbrausen, hielt aber an sich und erwiderte, wenn auch mit zornbebender Stimme, so doch einigermaßen ruhig: »Ich verstehe dich nicht, Ina! Steht denn auch in deinen Augen eine Baronesse von Heinersdorf, nur weil sie das Unglück hat, Gouvernante sein zu müssen, mit einem Koch auf gleicher Stufe?«

»Nein, aber es handelt sich in diesem Falle auch nicht um die Baronesse Heinersdorf, sondern um die Gouvernante gleichen Namens. Du sagtest ja selbst –«

»Aber mein Gott,« brauste der Graf auf, »du wirst doch nicht behaupten wollen, ich hätte gesagt, diese freche Canaille dürfe –«

Die Gräfin trat zurück. »Entschuldige,« sagte sie kalt, »ich bedaure meine Einmischung. Bitte – geh – ich halte dich nicht länger zurück.«

Der Graf griff rasch nach der Hand seiner Gemahlin und führte sie an die Lippen. »Verzeih, beste Ina,« bat er. »Du weißt ja, ich bin so heftig. Aber dieser Ausbruch kam insofern zur rechten Zeit, als ich jetzt Amalie gegenüber gewiß nicht in Harnisch geraten werde. Ich glaube dir das versprechen zu können.«

»Warum willst du dann überhaupt mit ihr sprechen? Es kann dabei doch nichts Gutes herauskommen.«

»Laß es mich wenigstens versuchen.«

250 »Wie du willst.«

»Und du bist mir nicht mehr böse, mein Herz?«

»Nein, Georg.«

Als der Graf sein Zimmer erreicht hatte, fand er Amalie schon vor. Sie blickte ihn finster und, wie es ihm schien, drohend an.

»Sie haben auf ihrem Zimmer eine Tafel, auf der Sie die Namen aller Dienstboten des Hauses verzeichnet haben?« begann der Graf, indem er sich setzte.

»Ja.«

»Sie haben auf diese Tafel auch den Namen des Fräulein Heinersdorf verzeichnet?«

»Ja.«

»Warum thaten Sie das?«

»Weil ihr Name dahin gehört.«

»Wissen Sie, daß das Fräulein eben so adelig ist wie die gnädige Frau oder ich?«

»Ja.«

»Nun, dann werden sie wohl auch wissen, daß das Fräulein nicht unter die Dienstboten gehört.«

»Ach so, sie ist nicht Gouvernante, sondern eine Dame?«

Die Zornesader des Grafen schwoll an und seine Hände, die auf den Stuhllehnen ruhten, zitterten; aber er hielt an sich.

»Von was für einer ›sie‹ sprechen Sie, Amalie?«

»Von der Heinersdorf.«

»Sie dürfen nicht so von der Dame sprechen, 251 Amalie; das schickt sich nicht. Sie müssen sagen: Fräulein Heinersdorf.«

Keine Antwort.

»Sie haben sich auch erlaubt, den Namen des gnädigen Fräulein mit drei Kreuzen zu versehen?«

»Ja.«

»Warum thaten Sie das?«

Keine Antwort.

»Ich will Ihnen etwas sagen, Amalie, das Sie sich merken müssen. Ich wünsche nicht, daß dergleichen noch einmal vorkommt. Verstehen Sie?«

Amalie wurde kreidebleich; nur auf der Stirn entstand ein dunkler Fleck.

»Herr Graf,« erwiderte sie mit bebender Stimme, »ich bin keine Lettin, ich bin eine deutsche Frau, eine deutsche Bürgersfrau. Ich kann in meinem Zimmer thun, was ich will, und schreiben, was ich will.«

»Gewiß können Sie das; aber Sie dürfen die Tafel dann nicht offen aushängen lassen.«

»Ich rufe die Komteßchen nicht in mein Zimmer. Wenn die Komteßchen in mein Zimmer kommen, so ist das nicht meine Sache. Ich werde meiner gnädigen Frau Kinder nicht fortschicken. Nein, gnädiger Herr, ich bin keine Lettin, ich bin eine deutsche Frau; so wie Sie darf kein Mensch zu mir sprechen. Ich habe mir nichts zu merken. Ich werde die Person nicht gnädiges Fräulein nennen, und wenn sie zehnmal adlig ist, ich werde ihr nicht die Hand küssen. Wenn meine gnädige Frau Amalie nicht mehr haben will, so kann sie Amalie fortjagen wie einen Hund – das 252 kann sie – aber merken werde ich mir nichts, gnädiger Herr, und in meinem Zimmer werde ich schreiben, was ich will, gnädiger Herr Graf, und da haben Sie mir nicht zu sagen, daß ich mir was ›merken‹ soll. Meine gnädige Frau kann alles, sie kann mir auch sagen, was ich auf meinem Zimmer schreiben soll, und was ich mir merken soll; aber der gnädige Herr darf nicht so zu mir reden, denn ich bin eine deutsche Frau und keine Lettin, und das leid' ich nicht – und das leid' ich nicht – und das leid' ich nicht!«

Der Graf blickte die leidenschaftlich Erregte mit zornfunkelnden Augen an. Er hätte sie am liebsten durchgeprügelt und zur Thüre hinausgeworfen; aber er wußte, daß weder seine Frau noch seine Schwiegermutter ihm das jemals vergeben haben würden. Einen Augenblick kämpfte er mit sich, dann siegte die Vernunft über die Leidenschaft. »Sie können gehen,« sagte er.

Amalie wandte sich um und verließ das Zimmer.

»Es ist empörend,« dachte der Graf, »diese freche Person lehnt sich offen gegen mich auf. Man kann sie weder durch Freundlichkeit noch durch Strenge zähmen. Andererseits haben die Frauen nicht ganz unrecht, denn sie ist treu wie Gold, und sie würde sich für Ina in Stücke hauen lassen. Ich muß künftig immer nur durch diese auf sie einwirken lassen, der gehorcht sie wenigstens einigermaßen. Ich bin ihr gegenüber wehrlos – ich kann diese treue Bulldogge doch nicht aus dem Hause jagen.«

Amalie begab sich stracks zu ihrer Herrin.

253 »Gnädige Frau,« sagte sie, »wollen Sie, daß ich fortgehe?«

»Nein, Amalie, das will ich nicht. Du brauchst aber auch nicht so empfindlich zu sein, wenn dir der Herr einmal den Kopf wäscht.«

»Ich bin nicht empfindlich, aber so behandeln lasse ich mich nicht! Ich bin keine Lettin, ich bin eine deutsche Frau. Ich werde sie nicht ›gnädiges Fräulein‹ nennen und werde ihr nicht die Hand küssen. Nein, das werde ich nicht. Und ich werde mir nichts ›merken‹, gar nichts.«

»Hat denn der gnädige Herr verlangt, daß du dem Fräulein die Hand küssen sollst?«

»Ich weiß nicht, ob er es verlangt hat; aber ich werde es nicht thun. Und wenn der gnädige Herr mich deshalb fortjagt wie einen Hund, so werde ich vor der Thüre liegen bleiben und warten, bis Sie nachkommen; denn das wird ja doch nicht mehr lange auf sich warten lassen, und Sie werden auch gehen.«

»Amalie!«

Amalie fiel vor der Gräfin nieder und umfaßte ihre Kniee. »Ja,« schluchzte sie, »und ich will von meiner gnädigen Frau nicht fortgehen und gerade jetzt nicht, wo sie mich nötig haben wird – und ich habe immer gewußt, daß es einmal so kommen würde – und die Frau Baronin hat es auch gewußt und hat auch nicht ›ja‹ sagen wollen – aber ich bitte Sie, jagen Sie mich jetzt nicht fort – denn ich weiß, es wird nicht gut – und es wird nicht gut – und es wird nicht gut!«

254 Die Gräfin war auf das höchste erregt. Sie hatte Amalie noch nie in einem solchen Zustand gesehen, und die wilde Energie in der Rede der aufgeregten Frau erschreckte sie. Das, was sie sprach, war ja thöricht; aber es war doch gut gemeint, und es kam aus dem treuesten Herzen, das je rückhaltlos für einen anderen Menschen geschlagen hatte. Oder war es gar am Ende doch nicht thöricht? Fühlte nicht etwa der Instinkt der Liebe eine Gefahr herauf, wo auch das schärfste Auge noch keine gewahr werden konnte?

Die Gräfin suchte die Aufgeregte so gut sie konnte zu beruhigen; aber sie selbst bedurfte der Beruhigung fast eben so sehr wie sie, obgleich sie es sich nicht merken ließ. Die Abneigung gegen die Gouvernante wurzelte fester und fester in ihrem zähen Empfinden. Sie glaubte ihr nur zu zürnen, weil ihre Anwesenheit von vornherein Unfrieden ins Haus brachte; aber sie täuschte sich. Ein anderes, weit mächtigeres Gefühl als vorübergehender Zorn nahm langsam aber unaufhaltbar Besitz von ihrem Fühlen und Denken.

Ein Diener überbrachte der Gräfin eine Karte: Herr von Grünhof wünschte ihr seine Aufwartung zu machen. Der Baron hatte bisher noch nicht in Rotenhof verkehrt, es aber jetzt für angemessen erachtet, daselbst einen Besuch zu machen. Er kam dem Ehepaar sehr gelegen; man suchte daher seinen Besuch zu verlängern und forderte ihn auf, zu bleiben. Kurz bevor man sich in das Speisezimmer begab, 255 erschien auch Alice, und ihre Erscheinung machte auf den jungen Mann sichtlich einen tiefen Eindruck. Er wandte sich während der Mahlzeit mehrmals an sie, und sie antwortete anfangs ein wenig schüchtern; dann aber wurde sie warm und geriet bald mit den beiden Herren in eine lebhafte Debatte über einen soeben erschienenen Roman. Darüber wurde auch des Grafen natürliche Heiterkeit mit der letzten Erinnerung an die Scene mit Amalie fertig, und er ging bald eben so energisch als erfolgreich darauf aus, die entzückenden Grübchen auf Alicens Wangen und ihr Lachen hervorzurufen. Die Gräfin ihrerseits, deren Temperament nicht so flüchtiger Natur war wie das ihres Mannes, und in der der Eindruck der Scene mit Amalie noch lebhaft nachzitterte, wurde mittlerweile immer schweigsamer. »Wie unpassend,« dachte sie, »daß dieses junge Mädchen gleich am ersten Tage das große Wort führt! Und wenn es noch klug wäre, was sie spricht; aber es ist ganz gewöhnliches sentimentales Backfischgeschwätz.« Sie wollte sich anfangs an der Debatte beteiligen; aber sie fand, daß es sich einer solchen Gegnerin gegenüber nicht der Mühe lohnte. Die Herren sprachen ja auch nur um der Grübchen willen.

So saß Frau Ina denn still und einsilbig da und überlegte, wie sie »die junge Person« auf das Unschickliche in ihrem Benehmen aufmerksam machen und sie in die Schranken ihrer Stellung zurückweisen könne.

Der Nachmittagskaffee wurde, wenn die Familie 256 allein war oder doch nur wenig Besuch hatte, auf einer kleinen mit tropischen Blattpflanzen geschmückten Veranda eingenommen, die im Winter als Privatwintergarten diente. Jetzt im Sommer war die Glaswand fortgenommen, so daß die frische Luft freien Zutritt hatte.

Ein Diener brachte ein Servierbrett, aus dem sich eine Thee- und eine Kaffeekanne mit dem entsprechenden Geschirr befanden, stellte es vor dem Platz der Gräfin auf den Tisch und zog sich zurück. Dasselbe that sein Gefährte, nachdem er die Cigarren und eine Kerze gebracht hatte.

Die drei standen an der in den Garten hinabführenden Steintreppe und disputierten noch immer. »Aber Sie werden mir doch zugeben, mein Fräulein, daß man eheliche Untreue nicht ganz aus den Romanen verbannen darf,« rief der Graf. »Sie kommt doch auch im Leben vor und ist unter Umständen doch auch sehr verzeihlich.«

»Fräulein Heinersdorf, trinken Sie Thee oder Kaffee?« fragte die Gräfin von ihrem Platz aus.

»Wie Sie wollen, gnädige Frau. Es ist mir ganz einerlei.«

»Mir auch,« erwiderte Frau Ina.

Der Ton, in dem diese Worte gesprochen wurden, war so scharf und schneidig, daß die Gräfin selbst darüber erschrak und errötete, so daß es aussah, als ob sie mühsam ihren Zorn beherrschte. Alice wurde blutrot, und die Thränen traten ihr in die Augen; der Baron blickte voll Erstaunen auf die Gräfin, von 257 der er einen solchen Ausfall nimmermehr erwartet hatte, und der Graf biß sich vor Ärger auf die Lippen. Er faßte sich übrigens rasch und rief lächelnd: »Nun, meine Damen, das Getränk wird unter allen Umständen ein gleichgiltiges. Ja – was ich sagen wollte – in vorliegendem Fall zum Beispiel muß man doch jedenfalls zugeben, daß der Professor durch die Taktlosigkeit seiner Frau auf das höchste degoutiert werden mußte.«

Der Graf sprach diese Worte ohne alle Hintergedanken, nur um etwas zu sagen und das Gespräch nicht ins Stocken geraten zu lassen; Frau Ina glaubte aber, daß er ihr damit habe andeuten wollen, daß sie soeben taktlos gehandelt hatte. Sie war innerlich empört, blieb aber äußerlich ruhig, und nur ein leichtes Zittern ihrer Stimme verriet ihre Aufregung, als sie fragte: »Nicht wahr, Herr von Grünhof, Ihre Tante, die Berghöfsche Frau, war den Winter über in Dresden?«

Alice ging unterdessen die Stufen hinab in den Garten. Sie war tief verletzt. Womit hatte sie eine solche Behandlung verdient? Sie suchte sich eine versteckte Laube auf und weinte dort bittere Thränen. Hatte sie nicht doch etwas übernommen, was über ihre Kräfte ging? Wenn diese Demütigungen sich wiederholten, konnte sie sie ertragen? War es nicht besser, fortzugehen – gleichviel wohin – nach Rußland – nach Sibirien meinetwegen – wo niemand sie kannte – als sich hier von ihren eigenen Standesgenossen mißhandeln lassen? »Warum beleidigt mich 258 die Gräfin? Warum sieht sie auf mich herab? Weil sie reich ist, während ich arm bin. Aber auf der anderen Seite – soll ich den Fuß vom kaum betretenen Pfade schon zurückziehen? Heißt es nicht gerade jetzt: halte aus, erringe dir deine Stellung, erkämpfe sie dir? Ich bin und bleibe doch eine Heinersdorf, ich führe doch einen uralten, nie befleckten Namen. Und dann bin ich ja auch nicht ohne Hilfe. Der Graf wird schlimmsten Falls schon zu meinen Gunsten eintreten.«

Als Alice an den Grafen dachte, wurde ihr warm ums Herz. Wie dankbar war sie ihm, wie bewunderte sie seine Herzensgüte, seine Gewandtheit! Ja, er war ein Mann!

Als der Baron Grünhof aufbrach und sich von der Hausfrau verabschiedete, fügte er hinzu: »Bitte, mich Fräulein Heinersdorf zu empfehlen!« Die Gräfin empfand auch das als eine Malice; dem Wunden erscheint ein Charpiefaden als eine Last.

Der Graf begleitete seinen Gast bis an den Wagen und kehrte dann zu seiner Frau zurück. »Warum bist du so unfreundlich gegen das junge Mädchen?« fragte er.

»Daß ich nicht wüßte! Was meinst du damit?«

»Ich meine, daß die Bemerkung, die du ihr gegenüber machtest, nicht so höflich war, wie du dich sonst auszudrücken pflegst.«

»Ja, lieber Georg, ich habe dir, wie du dich erinnern wirst, gleich anfangs gesagt, daß wir für eine 259 junge Dame keinen Platz im Hause haben. Wir brauchen eine Gouvernante.«

»Gewiß, mein Herz; aber das scheinen mir doch keine unvereinbaren Gegensätze zu sein.«

»Ich fürchte fast. Ich fange an zu glauben, daß Fräulein Heinersdorf nicht die Persönlichkeit ist, die wir brauchen. Ich fürchte, daß wir eine schlechte Wahl getroffen haben.«

»Aber warum – um alles in der Welt – fürchtest du denn das?«

»Weil sie ihre Stellung offenbar nicht richtig versteht; weil sie es selbst darauf anlegt, von mir zurechtgewiesen zu werden. Aber lassen wir dieses Thema.«

»Ich denke doch nicht. Ich muß dir sagen, daß –«

»Ich bitte dich, wollen wir nicht mehr davon sprechen.«

»Aber weshalb denn nicht? Ich glaube gerade –«

Die Gräfin erhob sich und verließ die Veranda. Der Graf blickte ihr in sprachlosem Erstaunen nach. Seine Frau war wie verwandelt, er hatte sie noch nie so unfreundlich gesehen. Was hatte sie nur?

Frau Ina eilte unterdessen rasch durch ein paar Zimmer und blieb dann stehen. Sie legte unwillkürlich die Hand auf das Herz und holte tief Atem. Was war das? Ein Zwist mit ihrem Manne? Und sie hatte ihn gewissermaßen herbeigeführt? Sie wandte sich um und wollte zu ihm eilen; aber sie blieb doch stehen. Er konnte ja auch zu ihr kommen. Aber 260 wenn er nicht kam? Sie horchte nach der Veranda hin; aber es blieb alles still. Wenn er am Ende zur Heinersdorf gegangen war?

Die Gräfin dachte nicht weiter, sie durchschritt rasch den Vorsaal, flog die Treppe hinan und eilte in ein Zimmer, von dessen Fenstern aus man auf die Veranda blicken konnte. Mit atemloser Spannung blickte sie hinab. Der Graf stand noch immer auf dem Platze, an dem sie ihn verlassen hatte. Er hatte den Kopf in tiefem Nachsinnen gebeugt und klopfte mit der Rechten mechanisch auf die Stuhllehne.

Dann wandte er sich um, stieg langsam die in den Garten führende Treppe hinab und schlug die Richtung ein, die vorhin Alice genommen hatte.

Die Gräfin taumelte zurück und verbarg ihr Gesicht in den Händen. Dann fuhr sie sich mit der Rechten über die Stirn – einmal – noch einmal – und ging wieder hinab zu ihrem Platz auf der Veranda.

Der Graf ging unterdessen langsam in den Garten. Er suchte wirklich Alice. »Ich muß Ina mit Unwohlsein entschuldigen,« dachte er, »sie muß ja auch wirklich krank sein. Ich habe sie nie so reizbar gesehen. Ich will doch morgen mit dem Doktor sprechen.«

Die kleinen Mädchen kamen ihm entgegen und eilten auf ihn zu. »Wo ist Fräulein Heinersdorf?« fragte er.

»Ist sie im Garten? O dann wollen wir sie 261 schon finden. Vorwärts, Erna, wer sie findet, ist Königin!«

Sie liefen davon. Nach einiger Zeit hörte der Graf sie rufen und ging langsam auf die Gruppe zu. Sein scharfer Blick sagte ihm sogleich, daß das junge Mädchen geweint hatte, und er war voll Mitleid. Er schickte die Töchter unter einem Vorwande voraus und sprach dann davon, daß ihm der Zustand seiner Frau viel Sorgen mache. Sie habe sich offenbar zu sehr angestrengt und sei infolge dessen nervös und reizbar geworden. »Wir werden meine liebe Frau in der nächsten Zeit wie eine Kranke behandeln und sehr schonen müssen,« schloß er und ging dann zu einem anderen Gesprächsthema über.

Alice war ihm aus tiefster Seele dankbar. 262

 


 


 << zurück weiter >>