Theodor Hermann Pantenius
Im Gottesländchen
Theodor Hermann Pantenius

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Siebentes Kapitel.

Der Graf kehrte am Abend nicht zurück. Statt seiner kam ein Briefchen, in dem er seiner Frau mitteilte, daß er in Angelegenheiten Hallermündes zur Stadt müsse. Da er noch nicht bestimmen könne, wie lange er dort festgehalten würde, so möge der Kammerdiener nachkommen.

Der Brief konnte noch in der Nacht an seine Adresse gelangen, denn Frau Ina schlief noch nicht. Sie fieberte und war überhaupt sehr unwohl. Als am anderen Morgen der Arzt kam, machte er ein bedenkliches Gesicht. »Inachen,« sagte er, »damit ist nicht zu spaßen. Na ja, wir wollen hoffen, daß es sich nur um einen vorübergehenden Anfall handelt; Sie müssen aber jedenfalls sehr vorsichtig sein – sehr. Liegt keine Erkältung vor? Haben Sie nicht auf einem Stein gesessen? Oder auf der feuchten Erde? Irgend so etwas muß dem Leiden zu Grunde liegen. Aber so seid ihr, junges Volk. Na ja, da heißt es immer: ›Ach was, das schadet nichts‹ – schadet aber doch, und dann sagt man: ›Ich habe es mir an dem und dem Tage des Juni oder Juli 283 oder was weiß ich, geholt.‹ Na ja – nur gleich hübsch im Bett bleiben und sich von Amalie pflegen lassen. Die süße Kleine – Donnerwetter, Inachen, ist das ein reizendes Dingchen, Ihre Gouvernante! Bin ihr eben begegnet – also sich von dem kleinen Fratzchen was vorlesen lassen. Nichts Aufregendes – verstehen Sie – irgend eine Abhandlung über Ägypten aus der »Revue des deux mondes« oder ein Feuilleton aus der ›Stern-Zeitung‹ oder eine recht breite englische Romanbettelsuppe – einerlei – muß nur recht langweilig sein. Meine, das kleine Persönchen wird es länger aushalten als Sie – sieht mir ganz danach aus die kleine Person – hat Feuer – und Sie schlafen darüber ein. Na ja, Sie verlieren ohnehin nichts, Inachen. Draußen regnet es Bindfaden. Nachher kommt dann die Mama –«

Die Gräfin unterbrach ihn. »Wenn Sie mir nicht versprechen, weder Georg noch Mama zu alarmieren, so stehe ich sofort auf,« sagte sie.

»Na ja, dann werde ich wohl schweigen müssen; bis morgen wenigstens. Wird übrigens nicht sobald gut werden, wie Sie meinen, Inachen. An den Grafen würde ich ohnehin nicht geschrieben haben. Dazu liegt absolut keine Veranlassung vor, Inachen, aber warum ich es der Mama nicht sagen soll, weiß ich nicht.«

»Bester Doktor, schweigen Sie heute noch. Ich möchte Mama nicht beunruhigen, und dann – wenn ich Schmerzen habe, bin ich am liebsten allein.«

284 »Na ja, aber Amalie bleibt doch bei Ihnen?«

»Das versteht sich von selbst. Sie ist im Nebenzimmer.«

Der Doktor öffnete die Thür. und Amalie trat ein.

»Schöne Geschichte,« sagte der Doktor, »da haben wir es. Können Sie nicht besser auf die gnädige Frau aufpassen, Amalie?«

»Was kann ich da aufpassen,« erwiderte Amalie ganz ernsthaft. »So lange die gnädige Frau im Schlosse ist, werde ich schon aufpassen, und hier hat sich die gnädige Frau auch nicht erkältet; aber wenn die gnädige Frau mit dem gnädigen Herrn ausreitet und sich gleichviel wo hinsetzt, dann kann ich nichts dabei thun. Die gnädige Frau ist ja wie ein großes Kind.«

Die Gräfin lächelte. »Komm hierher, Amalie,« sagte sie, »wenn du so weit von mir bist, sprichst du dummes Zeug.«

»Na ja, Inachen, sie hat schon recht. Na, also ordentlich aufpassen, Amalie. Na ja, das brauche ich übrigens nicht erst zu sagen. Also heute schweige ich noch. Adieu!«

»Gehen Sie hinaus,« sagte der Doktor draußen zum Diener, »und bitten Sie Fräulein Heinersdorf in meinem Namen, sich für einen Augenblick herunter zu bemühen.« »Fräulein Heinersdorf,« sagte er dann, als Alice erschienen war, »erlauben Sie, daß ich mich Ihnen vorstelle: Dr. Berg aus Campbellshof – langjähriger Hausfreund. Die Gräfin hat sich stark erkältet und wird wahrscheinlich mehrere Tage 285 lang das Bett hüten müssen. Nun hat die Dame mich gebeten, ihrer Mutter nichts von ihrem Unwohlsein zu sagen, und der Graf ist nicht zu Hause. Na ja, da erlaube ich mir an Sie die Bitte zu richten, die Gräfin zu zerstreuen. Lesen Sie ihr ein wenig vor – na ja, aber es darf nichts Interessantes sein, oder plaudern Sie ein wenig mit ihr – na ja – aber nicht zu lebhaft.«

Alice war sehr erschreckt. »Es ist doch nichts Ernstliches?« fragte sie besorgt.

»Nein, nein,« erwiderte der Doktor. »Es kann sehr wohl sein, daß wir es nur mit einem vorübergehenden Anfall zu thun haben. Jedenfalls ist für den Augenblick keine Gefahr.«

»Ich danke Ihnen, daß Sie mich rufen ließen,« sagte Alice. »Ich werde mich bemühen, so viel in meinen schwachen Kräften steht, die Frau Gräfin zu unterhalten.«

Der Doktor blickte lächelnd auf sie herab. »Entschuldigen Sie,« sagte er, »aber ich bin ein alter Hausfreund. Na ja, wie gefällt es Ihnen in Rotenhof?«

Alice errötete über und über. »Ich danke Ihnen, Herr Doktor. Sehr gut!«

»Na, das freut mich. Donnerwetter, wem sollte es auch bei – bei – bei der Gräfin Polderkamp nicht gefallen? Na ja, den möchte ich sehen! Adieu, mein Fräulein!«

Der Doktor streckte seine Rechte hin, und Alice reichte ihm ihre Hand. Der Doktor war ein älterer 286 Mann und ein glücklicher Familienvater – aber als er jetzt Alicens kleines weiches Händchen in der seinen fühlte, war ihm zu Mute wie einem Jüngling im gleichen Fall.

»Merkwürdig,« dachte er, während er durch den Garten den Wirtschaftsgebäuden zuschritt und sich mit der Linken langsam über die innere Fläche der Rechten fuhr, »sieht ganz aus wie eine Polin. Da hat man solche süße puscheliche Frauenzimmerchen. Du lieber Gott! und das will eine Gouvernante sein!«

Alice hatte sich unterdessen zur Gräfin begeben. Als sie das Boudoir betrat, blieb sie unwillkürlich einen Augenblick stehen. Wie reizend war es hier, wie elegant und doch wie traulich. »Glückliche Frau,« seufzte Alice und klopfte dann leise an die Thür des Schlafzimmers. Amalie öffnete und fuhr, als sie Alice gewahr wurde, zurück. Sie schloß die Thür sofort wieder so weit, daß sie nur ihren Kopf durch die Spalte bringen konnte und fragte leise: »Was wünschen Sie?«

Alice stieg das Blut zu Kopf. »Ich wünsche die Frau Gräfin zu sprechen,« erwiderte sie.

Amalie zog sich zurück, schloß die Thür und wendete sich zur Gräfin. »Sie wünscht Sie zu sprechen, gnädige Frau. Ich werde sie fortschicken.«

Die Gräfin nickte. »Sage ihr, ich bedauerte, sie nicht empfangen zu können, aber ich fühlte mich leider zu unwohl.«

Amalie ging hinaus, zog die Thür so sorgfältig 287 hinter sich zu, als ob Alice die Absicht gehabt hätte, bei der Gräfin einzubrechen, und sagte rauh: »Nein!«

»Wie – nein?« fragte Alice zornig. »Wie unterstehen Sie sich, in diesem Tone mit mir zu sprechen?«

»Ich ›unterstehe‹ mich gar nichts,« war die Antwort, »ich sage Ihnen nur, daß die gnädige Frau Sie nicht sprechen will.«

Alice wandte sich entrüstet um und ging. Sollte sie sich vor dem Schlafzimmer der Gräfin in einen Zank mit der Zofe derselben einlassen? Alice zweifelte nicht daran, daß Frau Ina ihre Abweisung in andere Worte gekleidet hatte, aber sie glaubte annehmen zu dürfen, daß diese Worte nicht eben in sehr zarter Weise gewählt worden waren, da Amalie sich sonst nicht erlaubt haben würde, so frech aufzutreten. Tief verletzt, kehrte sie auf ihr Zimmer zurück. Ja, es war hart, arm zu sein, unsäglich hart. Und doch – wenn sie darüber nachdachte – die Gräfin war doch eigentlich die erste Person, die sie ihre Armut so schwer empfinden ließ. Zu Hause hatte sie dieselbe zwar oft genug schmerzlich empfunden, aber man hatte sie sie nie empfinden lassen. Auch in den Häusern der reichsten Edelleute war man ihr als einer Baronesse Heinersdorf eben so freundlich entgegen gekommen, als wenn ihr Vater Majoratsherr gewesen wäre.

Alice hatte Zeit, über diese Frage nachzudenken, denn der Tag wollte kein Ende nehmen. Draußen herrschte trotz des Regens eine dicke schwüle Luft, 288 und drinnen war alles totenstill. »Wenn Papa nicht zu Hause ist,« sagte Erna gähnend, »ist es immer so langweilig.«

»Ja, wenn Papa nicht da ist, ist auch gar nichts los,« sekundierte die Schwester.

Alice fand, daß die kleinen Mädchen nicht unrecht hatten. Unwillkürlich wendeten sich ihre Gedanken immer und immer wieder dem Grafen zu. Sie war als Schülerin bei ihren Schulgenossinnen sehr beliebt gewesen und hatte in deren Familien so manchen schönen und liebenswürdigen jungen Mann kennen gelernt, aber keiner hatte je einen tieferen Eindruck auf sie gemacht. Sie trug, seit sie allmählich zur Jungfrau herangereift war, ein Ideal im Herzen, an dem sie unwillkürlich jeden Mann maß. Dieses Geschöpf ihrer Phantasie war ein sehr vornehmer, sehr reicher Edelmann, der aber auf seine Abstammung und seinen Reichtum gar keinen Wert legte, sondern die Stellung, die er einnahm, nur seinen persönlichen Eigenschaften verdanken wollte und verdankte. Er war ein großer Landwirt, zugleich aber auch ein großer Industrieller. Er war sehr gemeinnützig, sehr freigebig, sehr mutig; vor allem überaus zartfühlend. Mit einem Wort: er war ein ganzer Mann, mit dem Zartgefühl einer edlen Frau und dem reichen empfänglichen Herzen eines Kindes. Äußerlich war er sehr groß, sehr schlank, hatte edle, etwas bleiche Züge, schwarzes Haar, schwarze Augen, einen schwarzen Schnurrbart und ein schwarzes Bartflöckchen unter der Unterlippe.

289 Wie oft hatte Alice, wenn sie in den langen Dämmerstunden müßig auf ihrem Stübchen saß, sich bis ins Kleinste ausgemalt, wie sie wohl einmal die Bekanntschaft dieses Mannes machen könnte, wie er sie lieb gewinnen und sie und ihren Vater endlich in sein Schloß führen würde.

Das war ein Traum gewesen, über den Alice jetzt lächelte, aber an ihrem Ideal konnte sie doch festhalten. Entsprach denn der Graf nicht allen Forderungen, die sie an dasselbe stellte? Er sah freilich sehr anders aus, aber doch nur noch schöner. »Ach wenn ich doch auch einmal einem solchen Grafen begegnete,« seufzte sie, während sie nach Tisch langsam durch die lange Zimmerreihe promenierte. Sie nahm an, daß der Graf einen unverheirateten Bruder hatte, der ganz so war wie er selbst, und vertrieb sich die Zeit damit, sich auszumalen, wie dieser sie als sein Weib heimführte auf ein Schloß, das ganz so aussah und ganz so eingerichtet war wie Schloß Rotenhof. Sie legte sich dann zurecht, wie sie dieses und jenes an der Einrichtung ändern würde.

Sie vertiefte sich so in ihre Träumereien, daß sie über ihnen die Wirklichkeit ganz vergaß und sich einbildete, sie gehe mit ihrem Gemahl, der seinen rechten Arm um ihre Taille gelegt hatte, auf und nieder. Sie bemühte sich eben, ihm zu beweisen, daß es nicht hübsch sei, wenn die Vorhänge wie im braunen Zimmer von oben nach unten gestreift seien. »Siehst du,« begann sie laut und schrak darüber aus ihrem Traume auf. »Was sagten Sie?« fragte Erna, die, 290 den Arm auf ihrer Schwester Schulter gelehnt, am Fenster saß und mit dieser zusammen »Herzblättchens Zeitvertreib« studierte.

»Nichts, nichts,« erwiderte Alice verwirrt und errötete über und über. »Wie war ich thöricht!« dachte sie. Sie rief die Kinder von ihrer Lektüre ab und begab sich mit ihnen auf die Veranda. Der Regen fiel noch immer in Strömen, die Luft war schwül, und in den Schrubbs im Garten klagten die Nachtigallen.

Alice wurde von einer seltsamen unerklärlichen Angst ergriffen. Es war ihr, als drohe ihr eine große Gefahr, die sich langsam aber unaufhaltbar näherte. Ihr Herz klopfte laut, sie fühlte das Blut in ihren Schläfen pulsieren, und vor ihren Augen flimmerten und wogten grüne Massen.

»Das kommt vom Träumen,« dachte sie und forderte die kleinen Mädchen auf, mit ihr Federball zu schlagen. Darüber wurde sie das Angstgefühl los und mußte selbst über den Streich lachen, den die Einsamkeit und die von Elektricität erfüllte Lust ihr gespielt hatten.

Am folgenden Morgen kamen die Campbells, um nach Frau Ina zu sehen. Die Baronin machte der Tochter, nachdem sie sich mit ihr begrüßt und sich nach ihrem Befinden erkundigt hatte, Vorwürfe, weil sie den Arzt dazu bewogen, der Baronin gegenüber von ihrer Erkrankung zu schweigen, schalt Amalie tüchtig aus, weil diese ihr nicht von sich aus Nachricht gegeben hatte, und nahm dann auf einem an 291 Inas Couchette herangerückten Sessel in ihrer Lieblingsauslage Platz, das heißt, sie lehnte sich weit zurück und legte beide Arme auf die Armlehnen des Stuhles. Der Baron setzte sich auf das Fußende der Couchette und betrachtete seinen Liebling mit sorgenvollem Gesicht.

Man sprach von diesem und jenem; dann fragte die Baronin: »Wie gefällt dir denn die neue Gouvernante? Der Doktor ist ganz entzückt von ihr.«

»Gar nicht, Mama.«

»Das ist wenig, mein Töchterchen!« lachte der alte Baron.

»Wirklich? Gar nicht?« fragte die Baronin, den Kopf schüttelnd. »Und warum nicht?«

»Erstens ist sie noch ein vollkommenes Kind. Ihr werdet sie ja selbst sehen; macht euch aber nur gleich auf einen Backfisch im langen Kleide gefaßt. Zweitens ist sie sehr unwissend. Ich wohnte gestern einer Rechenstunde bei, und es erwies sich, daß diese seltsame Gouvernante nicht einmal mit benannten Zahlen zu dividieren verstand. Buchstäblich. – Drittens –«

»Aber, beste Ina,« unterbrach sie der Baron, »das kann doch nur scheinbar gewesen sein. Du hast das junge Mädchen durch deine Gegenwart blöde gemacht und sie ist zerstreut geworden.«

»Nun, sie ist, wie ihr gleich hören werdet, nichts weniger als blöde. Drittens also –«

»Pardon, daß ich dich unterbreche, Ina – 292 behalte dein Wort – aber sie hat doch ihr Gouvernantenexamen gemacht?«

»Wie sie das fertig gebracht hat, weiß ich nicht, Mama; aber was ich euch erzähle, ist eine Thatsache.«

Der Baron schüttelte den Kopf, die Baronin blickte starr vor sich nieder und sagte: »Seltsam!«

»Ihr meint, sie sei durch meine Anwesenheit zerstreut worden,« fuhr Frau Ina fort, »und das ist natürlich, da ihr sie noch nicht kennt. Sie ist aber in Wahrheit viel zu wenig blöde. Neulich war der Accise-Grünhof hier – er machte uns einen Besuch – und sie führte bei Tisch das große Wort, als ob sie die Hausfrau wäre. Dazu kommt, daß sie für Herren, wie es scheint, einen Haken hat. Grünhof war sichtlich entzückt, der Doktor ebenfalls. Wir können uns also darauf gefaßt machen, daß unser Haus demnächst um der Gouvernante willen der Sammelpunkt für die Herrenwelt des ganzen Kreises werden wird.«

Das Gesicht der Baronin wurde immer nachdenklicher. »Das ist freilich schlimm,« sagte sie, »und es wird dadurch nicht besser, daß ich es, wie du dich erinnern wirst, voraus gesehen und vorausgesagt habe. Es taugt eben nichts, eine Standesgenossin zur Gouvernante zu machen. Wäre sie bürgerlich, so könntest du ihr einfach sagen: ›Sie gefallen mir nicht, mein Fräulein, setzen Sie gefälligst Ihren Wanderstab weiter‹; jetzt aber muß irgend eine anständige Form gefunden werden. Es wird kaum etwas anderes übrig bleiben, als daß ihr die Mädchen 293 für ein Semester in Pension gebt oder eine größere Reise macht.«

»Wenn Fräulein Heinersdorf dich indirekt dazu bewegen sollte, daß du dich endlich dazu entschließest, dich für ein paar Monate von Georg zu trennen und uns nach Italien zu begleiten, so würde ich jedenfalls ihr Andenken segnen,« sagte der Baron im tiefsten Baß und lachte herzlich.

Zu Mittag speisten die Campbells mit den Kindern, um Fräulein Heinersdorf persönlich kennen zu lernen. Als sie das Schlafzimmer verlassen hatten, bemerkte der Baron: »Inachen muß fiebern. Bemerktest du, wie hastig sie sprach, ganz gegen ihre Gewohnheit, und wie ihre Augen leuchteten?«

»Ina fiebert allerdings,« erwiderte die Baronin, »aber nur wenig.«

Alice gefiel den beiden Alten und die Campbells gefielen ihr. Diese fühlten ihr nach verschiedenen Richtungen hin, wie man sagt, auf den Zahn, anfangs schüchtern, nachher recht kräftig, aber sie bestand die Prüfung in Ehren. Der Baronin gefiel ihr bescheidenes Auftreten, der kunstfreundliche Baron wurde schon durch ihr Äußeres bestochen. Als sie zu Frau Ina zurückkehrten, sagte die Baronin:

»Ich weiß nicht, was du willst. Mir hat das junge Mädchen außerordentlich gefallen.«

»Mir auch,« fügte der Baron hinzu. »Und was das Rechnen mit benannten Zahlen anbetrifft, so stehe ich dir dafür, daß eben nur Zerstreutheit vorlag. 294 Das kleine Persönchen hat sehr hübsche Kenntnisse, wenn sie auch noch nicht ganz verdaut sind.«

Die Worte der Eltern gingen Ina wie Dolchstiche durchs Herz. Also selbst sie nahmen gegen ihre eigne Tochter Partei für die Fremde! Sie ließ sich aber nichts merken und brachte das Gespräch auf ein anderes Thema.

Als die Mutter für die Nacht dableiben wollte, widersetzte sie sich diesem Vorhaben auf jede Weise und bewog sie schließlich wirklich dazu, nach Hause zu fahren. Sie hatte nur den einen Wunsch: allein zu sein, wie sie gestern allein gewesen war. Und so saß sie denn bald wieder allein und spann sich dichter und dichter ein in das Netz, gewoben von Liebe und Eifersucht, das ihr den gesunden Sinn mehr und mehr einschnürte. Nichts störte sie in diesem traurigen Beginnen. Im Zimmer war es so still, daß Amaliens Stricknadeln ein vernehmbares Geräusch machten; draußen strömte der Regen und dazwischen rollte der Donner stärker und stärker, und die Dunkelheit sank so rasch herab, daß Amalie, die schweigend am Fenster saß, ihren Strickstrumpf beiseite legte und hinausblickte. Blitz folgte auf Blitz, das Rollen des Donners nahm kein Ende. Amalie schellte und ließ die kleinen Mädchen rufen, die sich ängstlich neben der Mutter hinkauerten. »Gottlob, die Eltern müssen schon zu Hause sein,« dachte Ina. »Wie schön, daß Georg nicht daheim ist. Wenn er jetzt draußen wäre!«

Ein weißer Blitz fuhr im Zickzack nieder, und 295 der Donner erschütterte das Schloß in seinen Grundfesten. Die Fenster klirrten, als ob in nächster Nähe eine Explosion stattgefunden hätte.

»Im Namen Gottes des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes!« sagte Amalie laut, stand auf und zündete die Kerzen auf der Toilette an.

Der Gräfin fuhr ein seltsamer Gedanke durch den Kopf, ein unsinniger Gedanke, aber in gewissen Lebenslagen kommen uns solche Gedanken. Sie wollte eine Frage an das Schicksal stellen. Der Graf war jetzt in der Stadt, also fünfzehn Meilen von Rotenhof, und es war ziemlich gewiß, daß er erst am folgenden Tage zurückkehren würde. Trat er nun doch jetzt gleich, noch während des Gewitters in ihr Zimmer, so sollte das ein Zeichen sein, daß er sie nicht mehr liebte; daß er die Gouvernante lieb gewinnen würde.

Die Gräfin fuhr sich mit der Rechten über die Stirn, wie um den unsinnigen Gedanken zu verscheuchen; aber in demselben Augenblick schrieen die Kinder laut auf: »Papa, Papa!«

Die Gräfin machte eine Bewegung nach vorn, streckte die Arme weit aus und sank ohnmächtig zurück.

Der Graf erschrak. Die Diener hatten ihn zwar davon unterrichtet, daß seine Gemahlin krank sei, sie hatten aber gleich hinzugefügt, daß es sich nach dem Ausspruche des Arztes nur um ein vorübergehendes Unwohlsein handle. Er und Amalie bemühten sich, die Gräfin wieder zum Bewußtsein zu bringen, und es gelang ihnen bald. Als Frau Ina die Augen 296 aufschlug, schlang sie ihre Arme um den Hals ihres Mannes, drückte ihren Kopf an seine Brust und brach in Thränen aus. Georg winkte Amalie und sie verließ zugleich mit den kleinen Mädchen das Zimmer.

Georg blieb bewegungslos auf dem Rande der Couchette sitzen und strich nur zuweilen beruhigend mit der Rechten über das reiche Haar seiner Frau. Es war ganz still im Zimmer, man hörte nur das dumpfe Rollen des immer schwächer werdenden Donners und das Rauschen und Plätschern des Regens, der noch immer in Strömen fiel. Frau Ina bewegte von Zeit zu Zeit den Kopf wie eine Kranke, die ein nagender Schmerz nicht Ruhe halten läßt. »Georg,« flüsterte sie leidenschaftlich, »Georg, liebst du mich?« Hätte Frau Ina diese Frage vor acht Tagen gethan, so hätte ihr Mann nach bestem Wissen und Gewissen »Ja!« sagen können; denn damals hielt er noch die Freundschaft und Dankbarkeit, die er für sein Weib empfand, für Liebe. Er sagte auch jetzt: »Gewiß, Ina, ich liebe dich, so sehr nur ein Mann sein Weib lieben kann!« Aber eine Blutwelle schoß ihm dabei heiß zu Kopf, denn er sprach die Unwahrheit, und er wußte, daß er die Unwahrheit sprach.

Frau Ina raffte sich auf. »Vergib, mein Liebling,« sagte sie, indem sie ihr von Thränen überströmtes Gesicht zu ihm erhob, »vergib; ich bin krank und die schwüle Luft hat meine Nerven angegriffen.«

Als sie ihm in die Augen sah, in die hellen 297 leuchtenden Augen, die sie so liebte, da kam ihr der Gedanke, ihm jetzt offen zu sagen, wie es um ihr Herz stand; aber sie verwarf ihn wieder. Liebte er sie wirklich, wie er sagte, so war keine Gefahr; wenn er sie aber nicht liebte, nicht mehr liebte – was lag dann daran, den Bruch hinauszuschieben.

So dachte sie, während sie mit einem Blicke voll heißer Liebe auf Georg sah und in ängstlicher Spannung den Ausdruck seines Gesichtes, seines Auges beobachtete. Sie fand in ihnen die alte warme Liebe. »Nein, ich liebe dich nicht mit der Liebe, die du in mir glaubst,« dachte der Graf, »und ich habe dich nie mit ihr geliebt; aber was thut das? Achte ich dich nicht hoch, liebe ich dich nicht als mein kluges, sanftes, herrliches Weib, als meiner Kinder Mutter? Und werde ich dich nicht immer so lieben? Nein, ich durfte doch aussprechen, was ich vorhin sagte.«

Sie saßen so eng umschlungen wie sonst und küßten sich wie sonst, und doch war alles anders geworden, und sie fühlten es, obgleich sie es nicht aussprachen.

Der Graf, der keine Ahnung von den Empfindungen hatte, die Frau Ina erfüllten, suchte seine Frau zu zerstreuen. Er erzählte ihr ausführlich von seinen Geschäften, von den gesellschaftlichen Begegnungen, die er gehabt, und von den kleinen Skandalen, die gerade die Klatschmäuler der Stadt in Bewegung setzten. Die Gräfin ging auch darauf ein, fragte nach diesem und jenem und schien sich sichtlich 298 wohler zu fühlen. Sie legte sich wieder auf die Couchette und ließ sich durch Amalie eine Tasse Thee bringen. Der Graf verließ sie auf einen Augenblick und kehrte dann in Begleitung eines Dieners, der eine Anzahl Schachteln und Schächtelchen trug und sie im Boudoir der Gräfin Amalie zum Weitertransport übergab, zurück. Der Graf kam nie aus der Stadt nach Hause, ohne für jeden Hausgenossen etwas mitzubringen, und er pflegte aus dem Mitgebrachten immer erst eine kleine Ausstellung für seine Frau herzurichten. »Das ist für dich,« sagte er, indem er eine prachtvolle Robe aus der Schachtel hob und sie der Gräfin hinhielt. Es war hellblau und weißgestreifte Seide, der Rock breit, der Überwurf schmal gestreift, letzterer mit Rosetten aufgenommen, wie es damals eben Mode wurde.

Dazu kamen noch ein paar reizende hellgraue, nach russischer Art reich mit Silber gestickte Pantöffelchen. Die kleinen Mädchen erhielten allerlei für ihre Puppen, die Gouvernante ein paar hübsche kleine Berliner Vasen, Amalie einen Plaid, die Dienerschaft Kleider, Westen, Halstücher.

Die Gräfin dankte ihrem Gemahl mit einem Kuß und war mit allem zufrieden. Eine Schachtel war noch nicht ausgepackt.

»Nun noch eine Bitte, Inachen. Du warst ja, glaube ich, dabei, als wir mit der Kleinen vom Reiten sprachen. Ich glaube, sie wollte nicht recht daran, weil sie kein Reitkleid hat. Da habe ich ihr 299 nun eins für dich mitgebracht. Das mußt du ihr schenken.«

Der Graf war, während er diese Worte sprach, damit beschäftigt, die Schnur, mit der die Schachtel umwickelt war, zu lösen; er bemerkte es daher nicht, daß seine Frau erbleichte und unwillkürlich die Hand aufs Herz legte. Die Gräfin wollte in diesem Augenblick nicht zu Amalie hinüberblicken, aber sie konnte nicht anders, und Amaliens Gesicht war so finster, als wäre die Katastrophe, die sie kommen sah, schon vor der Thür. Die Gräfin wandte sich nach der Wand hin und seufzte schwer.

Der Graf fuhr auf. »Hast du Schmerzen, Ina?« fragte er, indem er an die Couchette herantrat.

»Die gnädige Frau hat starke Schmerzen,« erwiderte Amalie für ihre Herrin.

»Sollen wir dich allein lassen, Ina?«

Die Gräfin nickte. Der Graf beugte sich zu ihr herab, küßte sie auf die Stirn und ging dann leise aus dem Zimmer.

Im Saal fand er die Kinder und die Gouvernante. Die Freude darüber, ihn wiederzusehen, sprach so deutlich aus allen dreien, daß er sich auf das angenehmste davon berührt fühlte. Er selbst war nie krank und fast immer heiter; Krankheit und Thränen waren ihm daher im höchsten Grade zuwider. So war er froh, wieder in lachende Augen sehen zu können, und war bald in der besten Laune. Er schickte endlich einen Diener ab, um die bei Frau Ina 300 zurückgebliebenen Geschenke zu holen. Als Amalie diese zusammenraffte, griff sie auch nach dem Reitkleid.

»Was willst du damit?« fragte die Gräfin.

»Das kann der Herr ihr selbst abgeben.«

Die Gräfin fuhr von der Couchette auf. »Was unterstehst du dich!« rief sie mit leuchtenden Augen. »Lege die Schachtel sofort wieder hin.«

Amalie gehorchte schweigend. 301

 


 


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