Theodor Hermann Pantenius
Im Gottesländchen
Theodor Hermann Pantenius

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Drittes Kapitel.

Um dieselbe Stunde, in der Wezwagar und sein Weib in Breede eintrafen, fielen die Strahlen der Sonne, die ihnen Meer und Limpik beleuchteten, auch in den weiten Garten von Waldburg. Während aber auf der Limpik der kalte Wind ihre Wirkungen zu nichte machte, verbreiteten sie hier, wo erst die uralten Bäume des Parks, dann die Shrups und Bosketts des Gartens den argen Gesellen fern hielten, die behaglichste Wärme. Der Baronin Thorhaken, die im Garten lustwandelte, während die Gouvernante und die Kinder damit beschäftigt waren, an dem der Sonne zugewandten Abhang eines künstlichen Erdhügels nach den ersten Veilchen zu suchen, thaten diese warmen Strahlen unsäglich wohl. »Wie köstlich!« rief sie ein über das andere Mal. »Fräulein Armbach, so machen Sie doch auch Ihrem Entzücken Luft!«

Die Angeredete, ein kleines zierliches Fräulein, das sich eben tief auf den Rasen herabgebeugt hatte, wandte sich der Baronin zu und lachte lustig auf.

»Lassen Sie mich doch auf meine Weise entzückt sein,« erwiderte sie.

40 »Ihre Weise ist gar keine Weise,« versetzte die Baronin. »Sie halten sich immer mit dem Kleinkram der Natur auf, mit der einzelnen Blume, dem einzelnen Vogel. Sie sollen das Ganze bewundern: Himmel und Erde und was zwischen ihnen ist.«

»Wenn ich mich auch nur auf das Ganze einlassen wollte, wie sollte dann wohl unser Veilchenstrauß zu stande kommen?«

»Den Veilchenstrauß müssen wir aber zusammen haben, ehe Papa und Tante nach Hause kommen,« erklärte die dreizehnjährige älteste Tochter der Baronin entschieden.

»Ja,« stimmte die jüngere Schwester bei, »ehe wir den Strauß haben, können wir unmöglich nach Hause gehen.«

Die Baronin lächelte und ging langsam auf dem großen Gang, der sich vor dem Hügel an einer natürlichen Hecke entlang zog, weiter. Die Baronin war sehr glücklich. Die warmen Sonnenstrahlen, der Chor der Lerchen vom Himmel, das Lied der Finken vom Park her – das alles vereinigte sich in ihr mit dem halbunbewußten Gefühl, daß sie einen trefflichen Mann habe, liebe Kinder, gute Nachbarn, treue Leute und was sonst alles zum Menschenglück gehört.

Da erklang aus dem Park, durch den der Weg zur Landstraße führte, lustiges Peitschenknallen. Der Baron und seine Schwester, die am Tage vorher in das benachbarte Städtchen gefahren waren, um nach den ältesten Söhnen, die dort das Gymnasium 41 besuchten, zu sehen und allerlei Einkäufe zu machen, kehrten nach Hause zurück. Die Baronin eilte jetzt den Gang wieder hinauf, rief die Kinder herbei und begab sich mit ihnen nach dem Ausgange des Gartens.

Sie trafen auch noch rechtzeitig ein, um den Baron und seine Schwester aus dem Wagen steigen zu sehen. Diese machten damit nur den beiden jüngsten Söhnen des Hauses Platz, die mit ihrer Bonne ebenfalls herbeigeeilt waren und nun nach flüchtiger Begrüßung mit Vater und Tante eilig in den Wagen kletterten, um sich von dem gefälligen Kutscher noch ein wenig im Hof umherfahren zu lassen.

Der Baron küßte seiner Frau erst die Hand, gab ihr dann einen Kuß auf den Mund und küßte ihr wieder die Hand. Fräulein Alexandra küßte die Schwägerin auf beide Wangen, so daß es laut schallte.

»Wir werden zu Tisch Gäste haben,« sagte der Baron. »Der Herr von Thorhaken auf Nörgeln wird uns das Vergnügen machen, mit uns zu speisen, und auch der Herr Pastor und der Herr Doktor waren so freundlich, uns für heute mittag ihren Besuch zuzusagen.«

»Ja, Fannychen,« wiederholte die Schwägerin, »sie kommen alle drei: der Pastor, der Doktor und der Nörgelnsche.«

»Nun, der letztere hätte auch wegbleiben können,« erwiderte die Baronin.

Der Baron blickte seine Frau ernst an. »Liebe Frau,« sagte er dann, »vergiß nicht, daß du von 42 einem Herrn redest, der noch heute unser Gast sein wird.«

»Pardon, mein Lieber,« erwiderte die Baronin und drückte ihrem Mann begütigend die Hand.

»Nun, das thut nichts zur Sache,« meinte Fräulein Alexandra. »Ich kann ihn auch in den Tod nicht leiden. Er macht sich über uns alle lustig.«

Herr von Thorhaken wußte aus langjähriger Erfahrung, daß Reprimanden bei seiner Schwester nicht verfingen; er schwieg daher zu diesem Ausfall und wandte sich wieder zu seiner Frau.

»Ich bringe schlechte Nachrichten mit,« sagte er. »Ich sprach bei Otto einen Baron Schmidt, einen angenehmen jungen Livländer, der vor vierzehn Tagen in Petersburg gewesen war. Es soll dort ein uns höchst ungünstiger Wind wehen.«

»Es liegt doch aber nichts Bestimmtes vor?«

»Nein, das nicht, aber es soll dort, wie gesagt, zur Zeit ein höchst ungünstiger Wind wehen. Wir werden gut thun, wenn wir jetzt zäher denn je an unserem Recht festhalten, und wir werden zumal darauf hinwirken müssen, daß über unsere Gerechtsame auch nicht der geringste Zweifel entstehen kann. Wir können uns jetzt, wo alles um uns schwankt, nicht streng genug an den Buchstaben unserer Privilegien und das gute alte Gewohnheitsrecht halten.«

Die Baronin fragte nun nach den Söhnen, und alle begaben sich in das Haus.

Gegen vier Uhr trafen der Pastor und der Doktor, die zusammen kamen, vor der Hausthür von 43 Waldburg mit dem Nörgelnschen Baron Thorhaken zusammen.

»Guten Morgen,« rief dieser den Herren zu und sprang aus dem Wagen, »guten Tag, Herr Pastor, guten Tag, Doktor! Also Sie auch! Dachte ich es mir doch, daß ich Leidensgefährten haben würde.«

»Wie meinen Sie das, Herr von Thorhaken?« fragte der Pastor.

»Ich meine, daß – daß dieser und jener die verdammten Diners bei meinem Vetter holen soll. Pardon, Herr Pastor, daß ich fluche, aber es sitzt im Herzen und will heraus. Ich kann die Engländer nicht leiden und Libausche am allerwenigsten. Hätte ich nur einen einzigen Auerhahn in meinem Walde, nur ein einziges Elen – nicht mit Zangen brächte man mich nach Waldburg; wenigstens nicht um diese Zeit. Es ist doch der Wahnwitz in Person, sich um eine Stunde, in der jeder vernünftige Kurländer Kaffee trinkt, den Magen mit halbrohem Gemüse und blutigem Fleisch zu überladen.«

Jetzt kamen zwei Diener, die zum äußersten Unwillen ihres Herrn gerade in dem Augenblick das Vorzimmer verlassen und sich in die Küche begeben hatten, in dem die erwarteten Gäste eintrafen, auf die Freitreppe und machten dadurch dem Gespräch ein Ende. Sie führten die Gäste in das Vorzimmer und zerrten ihnen, da sie ihr Versäumnis von vorhin durch verdoppelten Eifer wieder gut machen wollten, fast die Kleider zugleich mit den Paletots vom Leibe. 44 Dann stieß der eine die Flügelthüre auf, und der andere rief mit Stentorstimme:

»Herr Baron von Thorhaken auf Nörgeln! Herr Pastor Petri! Herr Doktor Pauli!«

»Das nenne ich doch mit Ehren ein Haus betreten,« flüsterte Herr von Thorhaken noch rasch dem Doktor zu, ehe er sich mit der Hausfrau und dem Hausherrn begrüßte.

Letzterer war, gegen alle Gewohnheit des Landes, im Frack, und ihm zuliebe war auch der Doktor im Frack erschienen. Der Pastor, der über ein solches Kleidungsstück nicht verfügte und sich als alter Mann und als Geistlicher von dieser Förmlichkeit entbunden glaubte, hatte sich auf einen schwarzen Rock beschränkt; ebenso der Nörgelnsche, der, wie er sich unter Freunden ausdrückte, ein Kurländer war und kein Libauscher Engländer und daher in der Komödie nicht mitspielte.

Man unterhielt sich nun eine Weile von dem Wetter, dem Stande der Saaten und dem Kirchenbesuch und ging dann, nachdem ein Diener gemeldet hatte, daß die Tafel angerichtet sei, zu Tisch. Der Waldburgsche führte seine Schwester, die Baronin nahm den Arm des Pastors, der Nörgelnsche und der Doktor bewarben sich gleichzeitig um Fräulein Armbach. Der Doktor wollte zurücktreten, der Baron fing aber die Sache so geschickt an, daß er ohne Dame blieb, ein Umstand, der ihm höchst willkommen war. Er konnte es nicht leiden, eine Dame zu Tisch zu führen. »Man gebe mir die Dame apart und 45 das Essen apart,« pflegte er zu sagen. »Beides zugleich ergibt eine Kollision der Pflichten, bei der weder unser Herz und unser Gemüt noch unser Gaumen und unser Magen zu ihrem Recht kommen.« In diesem Fall mochte ihm sein Alleinstehen besonders lieb sein, denn wenn er auch dem nur in Wasser gekochten Gemüse und dem Charles X keinen Geschmack abgewinnen konnte, und sich dem »trockenen« Champagner gegenüber ablehnend verhielt, so ließen doch die übrigen Gänge nebst Madeira, Markobrunner und Leoville nichts zu wünschen übrig. Er lehnte übrigens die zuerst genannten Speisen zum stillen Ärger des Hausherrn einfach ab und bemerkte es gar nicht, daß der Waldburgsche eben deshalb sich eine doppelte Portion nahm.

Als die Damen sich nach beendeter Mahlzeit zurückgezogen hatten, und die Cigarren herumgereicht waren, wurde das Thema berührt, das damals – am Anfang der sechziger Jahre – alle Gemüter in Atem hielt, die Agrarfrage.

»Haben Sie, meine Herren,« fragte der Pastor, »schon das jüngste Heft der baltischen Monatsschrift gesehen? Eine mit einem kleinen w gezeichnete Zuschrift aus Kurland macht darin in Bezug auf die Agrarfrage sehr weitgehende Vorschläge.«

»Nein, ich habe das Heft noch nicht erhalten,« erwiderte der Hausherr. »Was will man denn?«

»O, der Mann macht sehr weitgehende Vorschläge. Er will einmal, daß gesetzlich festgestellt werden soll, daß alle Gesinde nur durch schriftliche 46 Kontrakte und nur auf mindestens zwölf Jahre verpachtet werden dürfen. Er will zweitens –«

»Das ist aber doch zu toll!« unterbrach ihn der Waldburgsche. »Warum wird denn nicht lieber gleich verlangt, daß wir die Gesinde ihren Inhabern erb- und eigentümlich abtreten?«

»Nun, Herr Baron, bis dahin ist denn doch noch ein weiter Weg.«

»Erlauben Sie, mein Herr Pastor, erlauben Sie,« rief der Baron eifrig, »der Weg ist gar nicht so weit, wie Sie zu glauben scheinen. Es handelt sich hier um ein Prinzip, um das Prinzip des Eigentums. Gehören die Gesinde uns oder unseren Bauern? Gehören sie den Bauern, so darf der Staat nicht dulden, daß wir von ihnen ein Pachtgeld erheben; gehören sie aber, wie das jedermann weiß, uns, dann hat uns auch niemand darein zu reden, und es ist unsere Sache, ob wir es für vorteilhafter halten, unsere, wohlverstanden, Herr Pastor, unsere Gesinde auf zwölf Jahre zu verpachten oder auf eins, ob wir uns zu diesem Zweck schriftlicher Kontrakte bedienen oder mündlicher.«

»Nun,« meinte der Nörgelnsche, »darüber läßt sich denn doch noch streiten.«

»In allen Ländern Europas,« fügte der Pastor hinzu, »hat sich die Regierung früher oder später der Bauern angenommen.«

Der Waldburgsche legte seine Cigarre weg und blickte voll Verwunderung von einem der Herren zum anderen.

47 »Ich verstehe Sie nicht, meine Herren,« sagte er. »Wenn Sie einem solchen Gesetz das Wort reden, so predigen Sie, natürlich ohne sich dessen bewußt zu werden, den reinen Socialismus oder richtiger Kommunismus.«

»Sollte das nicht zu viel gesagt sein, Herr Baron?« fragte der Pastor und fuhr sich mit der Rechten über Stirn und Haar.

»Ich denke doch nicht,« war die Antwort. »Es liegt in der Natur des Eigentums, daß der Eigentümer darüber nach seinem Ermessen verfügen kann.«

»Nun, das fragt sich denn doch noch,« warf der Nörgelnsche hin.

»Mit welchem Rechte sollte das in Frage gestellt werden dürfen? Aussprüche wie: darüber läßt sich denn doch noch streiten, oder: das fragt sich denn doch noch, beweisen nichts.«

»Na ja, aber darüber kann man denn doch wieder verschiedener Meinung sein,« erwiderte der Nörgelnsche mit unzerstörbarem Ernst und stieß eine Wolke von Rauchkugeln aus, die sich zu größeren Rauchringen entfalteten, immer weiter und weiter wurden und sich endlich ganz auflösten.

Der Waldburgsche wandte sich ärgerlich von seinem Vetter ab und dem Pastor wieder zu.

»Erlauben Sie, Herr von Thorhaken,« begann dieser, »daß ich den Beweis zu führen suche, daß Ihre Behauptung doch nur mit großen Einschränkungen zugegeben werden kann. Sie besitzen in der Stadt ein Haus. Glauben Sie nun, daß Sie berechtigt 48 wären, dieses Haus, das doch unzweifelhaft Ihr Eigentum ist, niederzureißen, die Trümmer zu einem wüsten Haufen übereinanderzuwerfen und dann den Platz ruhig seinem Schicksal zu überlassen?«

Der Baron sann eine Weile nach. Dann sagte er: »Nein, das dürfte ich allerdings nicht. Die Sachen liegen eben in der Stadt anders als auf dem Lande. Ich gebe zu, daß der Städter, der dicht zwischen seinen Nachbarn sitzt, sich gewisse Beschränkungen seines Eigentums gefallen lassen muß. Auf dem Lande aber würde sich niemand um ein so unsinniges Unternehmen zu kümmern haben.«

»Aus dem, was ich angeführt habe,« fuhr der Pastor fort, »ergibt sich, wie mir scheint, das Prinzip, daß das Privateigentum immer nur so weit vom Staate geschützt werden kann, als es dem öffentlichen Interesse nicht widerstreitet. Ist eine Regierung davon überzeugt, daß das Staatswohl die Erhaltung oder die Begründung einer Klasse von ökonomisch sicher gestellten bäuerlichen Pächtern oder, ich sage sogar Besitzern, fordert, so ist sie verpflichtet, ihre Lage gesetzlich so zu ordnen, wie es ihr wünschenswert erscheint. Die Grundherren aber, denen doch ohnehin nur der Staat ihr Eigentum sichert, haben sich zu fügen.«

»Meine Herren,« rief der Baron eifrig, »Sie irren, wenn Sie glauben, daß es der Staat ist, der das Eigentum verleiht. Das Eigentum ist nicht von Menschen, sondern von Gott verordnet, und er weiß, wem er es gibt. Sie irren auch, wenn Sie glauben, 49 daß das Staatswohl je eine Ungerechtigkeit erfordern kann. Ich weiß sehr wohl, daß nach den Ansichten, die Sie, Herr Pastor, soeben aussprachen, fast in allen Ländern Europas verfahren worden ist; aber, meine Herren, ich glaube nicht, daß der Freiheit, der wahren Freiheit damit ein Dienst erwiesen worden ist. Die wahre Freiheit besteht eben zum größten Teil in der absoluten Sicherheit des Privateigentums. Blicken Sie auf das freieste Land der Welt, blicken Sie auf England. In England hat es nie eine Agrarfrage gegeben und wird es nie eine solche geben. Dort fällt es niemand ein, die starken Säulen der Ordnung und Freiheit, die mit großem Grundbesitz ausgerüsteten Edelleute dadurch zu schwächen, ja zu vernichten, daß man ihnen im angeblichen Interesse des Staatswohles das Eigentumsrecht über ihre Güter beschränkt. In diesem großen und wunderbaren Lande ist das Haus des Mannes, ist sein Eigentum eine feste Burg, an deren starken Mauern die Wogen der Willkür machtlos zerschellen. Keine Behörde, kein Gesetz hat dort die Beziehungen zwischen Gutsherren und Bauern zu regeln versucht, und doch sind sie die normalsten von der Welt. Nicht auf solche Gesetze kommt es an, sondern darauf, daß Gerechtigkeit in den Herzen der Menschen wohnt. Die peinlichste Gerechtigkeit muß von beiden Seiten beobachtet werden, nicht auf äußerem Zwang, sondern aus innerem Pflichtgefühl. Die Gerechtigkeit hat aber als ihr Fundament das Recht. Gerade in unseren Tagen, in denen alles schwankt, alles 50 willkürlich verrückt wird, gibt es nur einen Felsen von Bronze – das Recht.«

»Na, dagegen dürfte doch manches eingewendet werden können,« warf der Nörgelnsche hin.

»Summum jus - summa injuria« citierte der Pastor.

»Das ist ein alter Spruch,« eiferte der Baron »aber er ist trotzdem unwahr. Es gibt nur ein jus, und das ist niemals eine injuria. Das jus kann ebenso wenig je eine injuria werden, wie die injuria je ein jus. Darin besteht ja die ganze Misere auf dem Kontinent, daß man sich daran gewöhnt hat, die Bedeutung des Rechts zu unterschätzen. Dieses Waldburg hier ist mein Eigentum, und ich habe das Recht, mit ihm zu schalten und zu walten wie ich will, vorausgesetzt natürlich, daß ich nichts Unsittliches oder Verbrecherisches will. Ich ziehe es vor, meine Bauernhöfe zu verpachten, statt sie selbst zu bewirtschaften. Mit dem Eingehen eines Pachtvertrages – derselbe sei nun mündlich oder schriftlich abgefaßt, das thut für einen Ehrenmann nichts zur Sache – begebe ich mich teilweise und für eine gewisse Zeit meines unbedingten Verfügungsrechts. Sobald aber die Pachtperiode abgelaufen ist, oder aber die Vertragsbedingungen nicht pünktlich eingehalten werden, tritt mein Eigentumsrecht wieder voll in Kraft. Ich will das an einem Beispiel erläutern. Ich habe das Gulbegesinde auf ein Jahr an seinen jetzigen Inhaber verpachtet. Es hatten bisher er und seine Vorgänger in dem Teiche neben dem 51 Gesinde gefischt, und ich hatte ihnen dieses Recht ohne weiteres eingeräumt. Nun ersah ich aber in der vorigen Woche aus alten Papieren, in denen ich jetzt fleißig umherstöbere, um alle Gerechtsame des Gutsbesitzers festzustellen, so lange das noch möglich ist, daß in dem fraglichen Teich früher vom Hof aus gefischt worden ist. Ich reite also zu Gulbe hinüber und sage: ›Entweder hörst du von Georgi ab mit dem Fischen auf, oder aber du fischest dieses Jahr über noch – dieses Recht ihm zu nehmen, hielt ich mich nicht für berechtigt – mußt dann aber übers Jahr aus dem Gesinde.‹ Ich denke, das war korrekt gehandelt, meine Herren?«

»Ob das korrekt war?« warf der Nörgelnsche hin und zündete sich eine neue Cigarre an.

»Warum nahmen Sie dem Manne überhaupt seine Fischereiberechtigung?« fragte der Pastor mild. »Ihnen konnte an den paar Fischen nichts gelegen sein, ihn aber werden Sie dadurch tief verletzt haben; denn ihm, der, seit er denken kann, in dem Teiche gefischt hat, muß es doch erscheinen, als ob Sie einen Eingriff in sein Eigentumsrecht begingen.«

»Eben deshalb that ich es,« rief der Baron. »Ich glaube nicht, daß ein englischer Lord gestatten würde, daß sich bei seinen Pächtern die Ansicht ausbildet, sie hätten ein Recht auf sein Eigentum. Es müssen sich auch bei uns in Bezug auf das Eigentum gediegene Grundsätze bilden.«

Das Gespräch wurde hier durch die Baronin 52 unterbrochen, die die Herren aufforderte, sich doch wieder der Damen anzunehmen.

Jetzt taute auch der Doktor, der den Gesprächen der Herren ziemlich gelangweilt zugehört hatte, auf. Er war ein Poet und veröffentlichte ein um das andere Jahr einen Band Gedichte im Kommissionsverlage. Als er jetzt aufgefordert wurde, ein Erzeugnis seiner Muse vorzutragen, ließ er sich erst eine Weile nötigen, deklamierte dann aber nicht ohne Pathos eine Ballade, deren Held Walter von Plettenberg war, und eine Ode auf Patkul. Beide Dichtungen waren voll Schwung und ernteten den verdienten Beifall.

»Es ist mir unbegreiflich, Herr Doktor,« sagte Fräulein Alexandra in ihrer derben Weise, »wie Ihre Gedichte so wenig Beifall finden können. Man sieht sie in keinem Hause, und doch sollten sie auf jedem Tische liegen.«

»Mein Fräulein,« erwiderte der Doktor mit einem wehmütigen Aufschlagen seiner großen braunen Augen, während er sich mit der Rechten über den glänzend schwarzen Bart fuhr, »die Welt will heute von wahrer Poesie nichts wissen. Sie wendet sich dem Roman zu, und je mehr der das tägliche Leben in seiner ganzen traurigen Nacktheit darstellt, je realistischer er ist, wie man sagt, um so wärmer heißt man ihn willkommen. Was sollen auch die zarten Blüten der wahren Poesie in unserer grobsinnlichen Zeit! Wir leben in einer demokratischen Periode, und wann gedieh in einer solchen je die Poesie?«

53 »Sie haben recht,« rief Fräulein Alexandra eifrig, »das ist es, was Ihre Poesien so unpopulär macht. Sie sind ein Freund ständischer Gliederung, Sie verstehen die Bedeutung des Adels, und Sie haben den Mut, das offen auszusprechen. Das ist es, was man Ihnen nicht verzeiht.«

»Das dürfte denn doch noch zu beweisen sein,« meinte der Nörgelnsche. Er kam aber bei Fräulein Alexandra schlimmer an als bei ihrem Bruder.

»Ja, ja, Herr Vetter,« rief das Fräulein, »ich weiß sehr wohl, daß auch Sie des Doktors Gedichte nicht mögen. Sie sind eben auch ein halber Demokrat.«

Der Angeredete lachte. »Wenn Ihre Vermutung richtig wäre, Cousine,« erwiderte er, »so müßten die Gedichte des Doktors, den ich, offen gestanden – Sie nehmen es mir nicht übel, Doktor, nicht wahr? – mehr als Menschen und Arzt schätze denn als Dichter, doch wenigstens in allen adligen Häusern zu finden sein.«

»Das wäre noch kein Beweis gegen die Ansicht meiner Schwester,« nahm nun der Waldburgsche, dem die Rücksichtslosigkeit, mit der die beiden das heikle Thema in Gegenwart des Doktors verhandelten, äußerst peinlich war, das Wort. »Unsere Standesgenossen haben bisher überhaupt nur allzu wenig Verständnis für die Vertretung ihrer eigenen Interessen. Denken Sie z. B. an die neue konservative Zeitung. Dieses einzige konservative Organ im Lande wird, wie ich höre, demnächst aus Mangel an Abonnenten eingehen. In England ist das anders. In 54 England würde jeder Edelmann auf dieses trefflich redigierte Organ abonniert haben.«

»Sollte das wirklich in England so sein?«

Der Pastor griff die fragliche Zeitung an, und daraus entwickelte sich eine lebhafte Debatte.

Als die Herren sich am folgenden Morgen verabschiedeten, fuhr der Nörgelnsche mit dem Doktor. »Glauben Sie,« fragte ersterer, sobald sie den Gutshof verlassen hatten, »daß Fräulein Alexandra und ihr Bruder ganz zurechnungsfähig sind?«

Der Doktor blickte den Baron verwundert an. »Wie meinen Sie das?« fragte er.

»Nun man pflegt doch sonst Leute, die immer nur einen Gedanken haben und beständig nur von diesem sprechen, für nicht recht gescheit zu halten.«

»Was wollen Sie damit?«

»Nun, Doktor, Hand aufs Herz, haben Sie je mit meiner Cousine eine Unterhaltung gehabt, in der sie nicht von der Stellung des Adels sprach, oder mit meinem Vetter, ohne daß er Ihnen sein England vorritt? So etwas nennt man doch Manie.«

Der Doktor war nicht gesonnen, auf diesen Scherz einzugehen. Er lächelte also ein wenig, um den Baron nicht zu verletzen, und ging dann auf ein anderes Thema über.

Unterdessen sann der Pastor, der einsam seines Weges fuhr, darüber nach, wie es doch kam, daß der sittenreine und wohlmeinende Waldburgsche, der sich doch so ehrlich bemühte, vor Gott und Menschen so recht als ein christlicher Edelmann zu leben und 55 seinen Bauern ein guter und gerechter Herr zu sein, von eben diesen Bauern auf das tödlichste gehaßt wurde, während die Nörgelnschen Bauern für ihren ungleich roheren und selbstsüchtigeren Herrn, der nicht einen Grundsatz im Leibe hatte und sich um Recht und Gerechtigkeit nicht mehr kümmerte, als durchaus notwendig war, durch Feuer und Wasser gegangen wären.

»Das machen seine abscheulichen, gediegenen Grundsätze,« seufzte der Pastor endlich. 56

 


 


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