Theodor Hermann Pantenius
Im Gottesländchen
Theodor Hermann Pantenius

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Zweites Kapitel.

Der Graf war unterdessen am linken Flußufer zurückgeblieben und wartete auf den Reitknecht, der ihm sein Pferd bringen sollte. Als die Fähre sich in Bewegung gesetzt hatte, kam die Frau des Fährmanns aus ihrer Hütte und küßte dem Grafen die Hand.

»Nun, wie geht es der Kuh?« fragte dieser.

»Gott sei Dank, gnädiger Herr, sie ist wieder gesund. Sobald ich ihr die Tropfen, die der gnädige Herr mir mitgab, unter die Tränke goß, wurde sie sichtlich gesunder. Tausend Dank dafür!«

Sie wollte dem Grafen wieder die Hand küssen, aber dieser entzog sie ihr und klopfte ihr ein paarmal freundschaftlich auf die Schulter. Er sah ihr dabei in die Augen und er fand, daß sie hübsche blaue Augen hatte und überhaupt eine hübsche junge Frau war.

»Wie geht es denn sonst?« fragte er, indem er sich nach einem flachen Stein bückte und ihn über die Wasserfläche schnellen ließ. Der Stein sprang weit und hüpfte fünf-, sechsmal.

»Gut, gnädiger Herr! Wir kommen vorwärts.«

191 »Und mit Eurem Manne seid Ihr auch zufrieden?«

»Ganz und gar, gnädiger Herr!«

Der Reitknecht war unterdessen herangekommen und führte dem Grafen das Pferd zu. »Na, bei Euch ist alles in Ordnung,« sagte dieser lachend, klopfte der errötenden Frau auf die Wange, schwang sich aufs Roß und sprengte davon.

Die junge Frau schützte ihre Augen mit der Hand gegen die Strahlen der untergehenden Sonne und blickte ihm lange nach. »Es ist doch ein Vergnügen, ihn nur zu sehen,« dachte sie.

Der Graf ritt in kurzem Galopp die Straße entlang. Er war meist heiter und guter Dinge, aber heute abend war er ganz besonders fröhlich. Das Lob, das seine Schwiegermutter seiner wirtschaftlichen Tüchtigkeit erteilt hatte, die Überzeugung, daß das neue Unternehmen ein lohnendes sei, der köstliche Abend, zu guterletzt noch das Gespräch mit dem hübschen jungen Weibe – das alles hatte ihn in die beste Laune versetzt. Dazu galoppierte der neue Grauschimmel, den er ritt, so prächtig, daß schon darüber allein dem ehemaligen Husaren das Herz im Leibe lachen mußte. Dort, wo ein Feldweg von links her in die Landstraße mündete, entließ der Graf den Reitknecht. »Sage der gnädigen Frau, daß ich wohl erst nach ein paar Stunden nach Hause kommen würde,« sagte er.

Der Graf bog auf den Feldweg ein, ließ sein Pferd im Schritt gehen und blickte nach links und rechts über die Felder hin. Das Korn stand 192 ausgezeichnet, alles versprach eine reiche Ernte. Der Graf dachte wieder an Hallermünde, ließ im Geist alle die Verbesserungen, die er dort vornehmen wollte, zum tausendstenmal Revue passieren und fand, daß alles in Ordnung war. »Wenn das so fortgeht, werde ich einmal ein steinreicher Mann sein,« dachte er. »Seltsam! Wenn mir vor zehn Jahren ein Kamerad gesagt hätte, daß ich – ich, Georg Polderkamp – einmal an diesem Gedanken Freude finden würde! Damals war mir das Geld nur der häßliche Mammon, der zu nichts gut war, als so schnell wie möglich mit lustigen Kameraden und schönen Weibern in perlenden Wein umgesetzt zu werden; jetzt ist es mir ein teures Gut! Bin ich nun jetzt besser als früher oder schlechter? Pah, thörichte Frage! Jedes Alter hat seine Lust. Das Erwerben macht mir jetzt noch mehr Freude, als früher das Verthun.«

Der Feldweg, der erst durch Felder und dann durch Wiesen geführt hatte, bog jetzt in ein Birkenwäldchen ein. Der Graf hatte dieses eben erreicht, als sein Pferd plötzlich scheute. Kaum zwei Schritte vor ihm saß ein Kind auf dem Wege und weinte bitterlich.

»He! Du da! Wirst du wohl aus dem Wege gehen!«

Das Kind sah sich erschreckt um, erhob sich und trat ängstlich zur Seite. Es war ein kleiner Judenknabe. Der Kleine hatte ein zerrissenes Hemd an und ein paar zerschlissene Höschen, die nur von einer Schnur, die über die linke Schulter lief, gehalten wurden.

193 Der Graf hielt. »Nun, kleiner Bocher, was thust du denn hier?« fragte er.

»Ich woan!«

»Wo ist denn die Mammle?«

»I waiß nit!«

»Bist du denn ganz allein hier?«

Der Kleine schwieg. Der Graf blickte nach links und rechts in den Wald, aber niemand ließ sich sehen.

»Ist der Tätte hier?«

»Na.«

»Wie kommst du denn aber hierher?«

Keine Antwort.

»Das ist aber doch zu toll!« murmelte der Graf. Er legte die Rechte an den Mund und rief, so laut er konnte: »He–e! He–e!«

Ein paar Vögel erhoben sich aus ihrer Nachtruhe und flogen eilig davon, sonst blieb alles still.

Der Graf sprang vom Pferde und beugte sich über das Kind, das ihn mit großen Augen aber unerschrocken ansah.

»Wie heißt du?«

»Itzig.«

»Und dein Tätte?«

»Auch Itzig.«

»Wie heißt er noch?«

»Auch Itzig«

»Bist du mit deinem Tätte hierhergekommen?«

»Na.«

»Mit wem bist du hierhergekommen?«

»Ich bin hiergekummen.«

194 Der Graf überlegte. Das Kind, das sich offenbar verirrt hatte, konnte nur aus einem einige Werst entfernten Kruge, in dem sich ein jüdischer Schneider eingemietet hatte, stammen. »Es bleibt mir nichts übrig, als den Bengel hinzubringen,« dachte er. »Solch ein Takelzeug! Können nicht einmal auf seine Kinder aufpassen! Wartet, ihr sollt mir!«

»Komm her!«

Der Kleine kam ganz zutraulich heran. Der Graf hob ihn auf, schwang sich aufs Pferd, hielt den Kleinen vor sich und schlug den Weg nach dem Kruge ein.

»Oi! Das ist fein!« rief der Junge.

Der Graf lachte. »So? Findest du? Hör einmal, du könntest dich aber auch einmal waschen. Was?«

»Der Wasser ist kalt!«.

Sie unterhielten sich nun ganz vertraulich, bis langgedehnte Rufe, die ihnen entgegenschallten, dem Grafen sagten, daß das Kind vermißt worden war und gesucht wurde. Der Graf antwortete und stieß nach einiger Zeit auf den Vater des Kindes, einen langen hageren Juden, dem die Gebetslocken wild ums Gesicht hingen. »Gott gerechter!« schrie dieser, »unser Herr Graf haben den Itzig!«

Der Graf schwang sich vom Roß, ließ den Knaben zu Boden sinken, hielt mit der Linken das zurückscheuende Pferd und schüttelte mit der Rechten Itzig den älteren, daß dieser hin und her flog wie ein Päckchen nach Knoblauch riechender Kleider.

195 »Du Hundesohn,« rief er, »du nachlässige Bestie! Weißt du auch, du verdammter Kerl, daß der Kleine hätte überfahren werden können! Wirst du wohl besser aufpassen! Hast du nicht verdient, daß ich dich durchhaue, bis du kein Glied mehr rühren kannst?«

Damit ließ er den Juden zu Boden fallen, schwang sich aufs Pferd und galoppierte davon, ehe der Jude sich aufrichten konnte. Der Jude aber hob sein Büblein auf und überhäufte es mit einer Fülle von Liebkosungen. Darüber fanden sich denn auch die anderen Familienglieder und einige zur Hilfe aufgebotene Bauern ein. »Gott segne den Grafen,« rief der Vater, »Gott soll ihn segnen tausendmal und soll ihm geben Kinder die Fülle und Korn und Heu und Branntwein vollauf und Gesundheit!«

»War das unser Graf?« fragte das Kind.

»I ja wohl ist es unser Graf gewesen. Unser guter lieber Graf, den Gott soll erhalten, und den wir alle haben lieb!«

»Ich lieb' ihn och! Ich lieb' ihn sehr!« meinte der Knabe.

Unterdessen ritt der Graf rasch zu, denn er hatte einen tüchtigen Umweg machen müssen. Als er in Sergen eintraf, fand er dort eine große Gesellschaft vor. Herr von Ahlbach war Junggesell und eine gesellige Natur. Da ging es denn in Sergen zu wie in einem Taubenschlag. Auch heute mochten wohl ein Dutzend Herren anwesend sein. Da waren einige junge Gutsbesitzer von jenseits des Stromes; 196 da waren der Kreisrichter und der Friedensrichter; da waren einige Herren von der Branntweinaccise. Man war eben dabei, ein bescheidenes Abendbrot einzunehmen, als der Graf mit einem: »Guten Abend allerseits, meine Herren!« eintrat. Alsogleich entstand großer Jubel. »Guten Abend, Herr Graf! Guten Abend, Polderkamp! Gu'n Mojen, Georg, alter Junge!« Man rückte zusammen, zwei der jüngeren Herren rannten dicht vor dem Grafen mit Stühlen, die sie gleichzeitig herbeigeholt hatten, hart zusammen, der Diener brachte noch ein Couvert. Dann nahmen alle wieder Platz.

Der Graf hatte für jeden ein freundliches Wort: »Wie geht es Ihrer Frau Tante, Herr von Bärwald? Besser? Gott sei Dank!« – »Schotthof, Ihre Wiese steht aber wirklich brutal. Wo werden Sie mit all dem Heu hin?« – »Stockkirch, quält Ihr Euch noch immer mit der Brandstiftung. Verdammtes Volk diese Juden!« – »Alexander, wie bist du mit deiner neuen Flinte zufrieden? Der linke Lauf läßt zu wünschen übrig. Nicht?« &c.

Nach dem Abendessen wurde ein Jeuchen gemacht. Da man wußte, daß der Graf nicht spielte, so verschonte man ihn mit Aufforderungen, sich zu beteiligen. Er sah eine Weile dem Spiel zu und neckte bald diesen, bald jenen. Unter den Herren befand sich auch ein Baron Grünhof, ein junger Mann, der eine furchtbare Narbe im Gesicht trug, die seine linke Wange in zwei Hälften teilte. Er war offenbar der einzige in der Gesellschaft, der mit 197 Leidenschaft spielte, und er verlor beständig. »Armer Schelm,« dachte Polderkamp, »was wohl daraus werden wird!«

»Auf ein Wort, Herr Graf.«

Der Graf trat zurück. »Was gibt es, Herr von Bärwald?«

»Ich möchte mir Ihren Rat erbitten. Bernstein bietet mir für den Lapswald zwanzigtausend Rubel. Er will ihn in drei Jahren abführen. Was raten Sie?«

»Lehnen Sie unbedingt ab. In Rußland wirtschaften sie so unsinnig, daß sie in ein paar Jahren mit ihren Wäldern fertig sein müssen. Dann kommen wir an die Reihe und können die Preise machen. Lehnen Sie den Vorschlag ab; in fünf, höchstens in zehn Jahren werden Sie für Ihren Wald das Doppelte bekommen.«

»Tausend Dank! Sie haben gewiß recht. Es lag mir daran, das Urteil eines Sachverständigen zu hören.«

»Sie sind sehr freundlich, mich für einen solchen zu halten.«

»O, das thun wir alle.«

Die Herren traten wieder zurück an den Spieltisch. Der Herr von Grünhof verlor noch immer. Sein Gesicht war sehr bleich, seine Narbe sehr rot geworden; aber er bewahrte äußerlich seine Haltung. Trotzdem schienen seine hohen Einsätze allerseits peinlich zu berühren. »Armer Junge,« dachte der Graf, »die Leidenschaft, die dich fortreißt, kenne ich nur zu 198 gut.« Er mochte der Scene nicht länger zusehen, ging ins Nebenzimmer, wo die Gewehre hingen, nahm eine Flinte von der Wand und begab sich ins Freie.

»Wohin?« fragte der Hausherr vom Tisch her.

»Fledermäuse schießen,« war die Antwort.

Es war ein Hochgenuß, aus dem heißen vollgerauchten Zimmer in die frische Luft zu kommen, und der Graf atmete tief auf. Rings um ihn herrschte die kurze Dämmerung, die in dieser Jahreszeit vor Mitternacht die helle nordische Sommernacht einzuleiten pflegt. In der Nähe war alles still; aber in den Wiesen schrie der Wachtelkönig und schlug die Wachtel, und aus weiter Ferne klangen eintöniges Hundegebell und weitgezogene Volkslieder herüber. Über dem Hof und dem daranstoßenden Teiche flatterten zahlreiche Fledermäuse in jähen Zickzackwendungen. Vom Obstgarten her flog eine Nachtschwalbe meckernd nach links über den Hof weg und verschwand im Dunkel. Der Graf setzte das Gewehr an, aber er kam nicht zum Schuß. Da – da – da war sie wieder – und wieder vorüber. »Warte, dich bekomme ich,« dachte der Graf, behielt die Flinte an der Backe und gab scharf acht.

»Pardon, Herr Graf, störe ich?« fragte halblaut eine tiefe, leise zitternde Stimme. Der Graf kannte die Stimme. Es war die Stimme des jungen Mannes mit der Narbe, der so leidenschaftlich spielte.

»Einen Augenblick, Herr von Grünhof,« erwiderte 199 er halblaut und fuhr mit dem Gewehr an der Wange rasch nach links herum.

Der Schuß krachte, und der Vogel fiel herab wie ein Stein.

»Kommen Sie, Herr von Grünhof, wir wollen den Vogel aufsuchen.«

Der Graf ging rasch voran, und der Baron folgte ihm.

Sie entfernten sich dabei vom Wohnhause. »Hier muß er liegen,« sagte der Graf, indem er sich bückte und umherspähte. »Da – da ist er!« Er hob das Tier auf. »Was für ein seltsamer Vogel,« sagte er, und dann zum Baron gewendet: »Womit kann ich Ihnen dienen, Herr von Grünhof?«

»Ich wollte Sie fragen, ob Sie mir wohl tausend Rubel leihen könnten?«

Die Frage kam sehr gepreßt heraus.

Der Graf hielt den toten Vogel an einem Bein und schlug ihn mechanisch gegen den Flintenlauf.

»Haben Sie so viel verloren?«

»Ja.«

»Aber, bester Herr von Grünhof, das ist die Hälfte Ihres Gehaltes, und Sie haben doch kein Vermögen.«

Der Baron antwortete nicht.

Der Graf warf den Vogel weg, setzte den Hahn des zweiten Laufes in Ruhe und zuckte die Achseln. »Ich bedaure, Ihnen nicht helfen zu können,« sagte er. »Tausend Rubel sind eine große Summe; ich kann sie Ihnen nicht geben.«

200 »Pardon, daß ich lästig wurde.«

Der Baron wandte sich rasch um und schlug den Weg nach dem Wohnhause ein.

Der Graf blickte ihm ein paar Augenblicke unruhig nach.

»Du bist nicht mehr der alte Leichtfuß,« rief eine Stimme in ihm. »Tausend Rubel sind ein kleines Kapital, das man nicht auf die Straße werfen darf. – Willst du den Armen wirklich so von dir gehen lassen?« rief eine andere Stimme, »du, der du dich früher selbst so oft in einer ähnlichen Lage befunden hast?«

Der Graf schwankte einen Augenblick; dann eilte er dem Baron nach. »Herr von Grünhof,« sagte er, »ich kann Ihnen das gewünschte Geld doch geben.«

»Ich danke Ihnen, Herr Graf, ich reflektiere nicht mehr darauf.«

»Aber, bester Grünhof, Sie werden doch nicht mir gegenüber den Empfindlichen spielen? Ich sage Ihnen ganz aufrichtig, es war der verdammte Mammon, der für einen Augenblick Herr über mich wurde; aber ich bin, wie Sie sehen, mit ihm fertig geworden. Sie werden mich doch nicht der Möglichkeit eines Rückfalles aussetzen? Nicht wahr, das thun Sie mir nicht an?«

Der Baron schlug kräftig in die dargebotene Hand des Grafen. »Ich danke Ihnen, Herr Graf,« sagte er, »und ich verspreche Ihnen, daß ich künftig nie –«

»Aber lassen Sie das doch, lieber Grünhof. 201 Solche Gelübde thut man sich selbst, aber nicht anderen. Sagen Sie – haben Sie den Bergdorfschen Artikel über die Accise in Kurland gelesen? Sehr interessant! Nicht?«

Die Herren im Hause hatten unterdessen mit dem Spiel aufgehört und kamen nun auch ins Freie. Man stand paarweise oder in Gruppen zusammen, schwatzte und lachte.

»Apropos, Ahlbach, da hast du dein Taschenbuch. Du hattest es bei mir liegen lassen.«

»Richtig, besten Dank. Sag doch, dein Schwager Paul kommt ja in der nächsten Woche?«

»Woher weißt du das?«

»Mein Vetter August schrieb mir davon. Hör einmal, das ist ja heuer zum Regimentsfest höllisch hoch hergegangen. Donnerwetter.«

»Na, wir haben uns unserer Zeit auch nicht lumpen lassen. Schreibt dein Vetter Näheres?«

»Warte, ich bring' dir den Brief oder besser – komm lieber mit ins Zimmer. Du könntest ihn ja hier ohnehin nicht lesen. Er ließ dir auch noch etwas sagen – warte – was war es doch gleich? – richtig, er ließ dir sagen, die Schwägerin des Fürsten Duchanow – Stallmeister ist er, glaube ich – die Gräfin Lätitia – Lätitia – ja, wie sie weiter heißt, weiß ich nicht mehr – habe sich mit dem armenischen Fürsten – ja, wer kann diese unmenschlichen Namen behalten – verlobt. August meint, die Nachricht würde dich interessieren.«

Sie waren unterdessen bis an die Hausthür 202 gekommen. Der Graf blieb stehen und lehnte sich schwer an den Thürpfosten. »Wo bleibst du?« fragte der Baron, der vorausgegangen war, und wandte sich um. »Wo bleibst du?« wiederholte er, als keine Antwort erfolgte. Als der Graf auch jetzt unbeweglich blieb, ging der Baron rasch auf ihn zu.

»Bist du unwohl geworden, Georg?«

»Es ist nichts – einen Augenblick – laß mich – es ist so heiß.«

»Soll ich dir ein Glas Wasser bringen?«

Der Graf nickte. Der Baron eilte ins Zimmer und brachte eine Karaffe und ein Glas, das er vollschenkte und dem Grafen reichte. Der Graf leerte ein Glas und noch ein Glas. »Das thut wohl,« sagte er, »ich danke dir. Und nun mußt du mir deines Vetters Brief geben.«

Sie traten in das Zimmer und der Graf nahm am Tisch Platz. Der Baron brachte den Brief, rückte die Lichter näher und setzte sich dem Grafen gegenüber. »Du siehst schändlich übel aus,« sagte er.

»O, das hat nichts zu sagen.« Der Blick des Grafen flog hastig über die Seiten des Briefes. Da war erst eine Beschreibung des Regimentsfestes, das durch die Anwesenheit hoher und höchster Personen verherrlicht worden war; dann eine begeisterte Schilderung der letzten Aufführungen in der italienischen Oper; dann ein Vergleich zwischen der Deveria und der Lothar vom französischen Theater, wobei der Briefschreiber sich für letztere entschied. Da – da war endlich die gesuchte Stelle. Nein, doch noch 203 nicht: »Aus dem Handel mit Silberstierna konnte leider nichts werden. Die Stute war zwar ein Schimmel, aber ein Rotschimmel, und die können wir nicht brauchen. Jammerschade, die Mähre war schön und der Preis nicht hoch.« Aber da – da war es endlich. »Der Fürst Duchanow will sie für seine Schwägerin kaufen, die Gräfin Lätitia Pagusko, die sich eben mit dem Fürsten Ziziani, Rittmeister bei den Leibgrenadieren zu Pferde, verlobt hat. Ich schrieb dir, glaube ich, einmal von ihm. Er leitete im vorigen Jahre das Jahresessen der Kaukasusveteranen. Er ist ein Armenier und ein bildschöner Kerl. Er soll in seine doch schon passierte Braut rasend verliebt sein. Kein Wunder, an seiner Stelle wäre ich es auch. Die Gräfin ist noch immer unendlich liebreizend. Unterrichte den ›Ziethen der Salons‹ davon, es wird ihn interessieren. Was den unverschämten Junker anbetrifft, so kann meine Kleine jetzt wieder unbelästigt ausgehen. Ich habe mit seinem Schwadronschef gesprochen, und er hat dem Bengel ordentlich den Kopf gewaschen. Er hatte –«

Das gehörte nicht mehr zur Sache. Der Graf blickte wieder zurück. Da stand es: »Die Gräfin ist noch immer unendlich liebreizend.« Ja, das war sie. Der Graf sah sie vor sich, als ob er sich nie von ihr getrennt hätte. Da stand sie vor ihm, wie sie so oft vor ihm gestanden hatte, und blickte ihn an mit ihren schönen braunen Kinderaugen, wie sie ihn so oft angeblickt hatte. Er sah wieder das reiche braune Haar, die holden Grübchen in Wangen 204 und Kinn, die volle und doch so graziöse Gestalt. Er sah das alles, und die tiefe Trauer, die aus dem Antlitz der Jugendgeliebten sprach, ließ sein Herz sich in wildem Wehe zusammenziehen.

»Warst du mit der Gräfin näher bekannt, Georg?«

Der Graf erhob sich. »Ja, ich war oft im Hause ihrer Schwester. Bitte, laß mein Pferd satteln.«

»Willst du nicht lieber fahren, Georg? Du siehst noch so elend aus. Ich will anspannen lassen.«

»Nein, bitte, laß nur. Ich danke dir. Ich bin wirklich wieder ganz wohl. Ich habe in der letzten Zeit mehrmals solche Anfälle gehabt; aber sie gehen bald vorüber.«

»Du greifst dich zu sehr an, Georg. Du bist von Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang zu Pferde und auf dem Felde. Ich habe immer gefürchtet, daß du es nicht aushalten würdest.«

»O, das halte ich schon aus. Man muß sich tummeln, Leberecht, man muß erwerben, man muß reich werden. Nicht?« Der Graf lachte, aber es war nicht sein gewöhnliches Lachen, das so herzlich klang und so ansteckend wirkte.

Das Pferd wurde vorgeführt, der Graf schüttelte den Herren die Hände, schwang sich in den Sattel und ritt langsam, im Schritt, davon.

Ahlbach ging noch ein paar Augenblicke neben ihm her. »Willst du nicht doch lieber einen Wagen nehmen?« fragte er besorgt.

205 »Nein. Besten Dank. Laß dich bald wieder bei uns sehen.«

Sie schüttelten sich die Hände, und Ahlbach kehrte zu den Herren zurück. Diese sprachen vom Grafen und waren seines Lobes voll. Jeder wußte einen neuen liebenswürdigen Zug von ihm zu erzählen.

»Ja, er ist ein Prachtmensch; und was das Beste ist, er ist mein Freund!« rief Ahlbach.

Der Graf ritt langsam seines Weges. Über dem Busch am Bach, in dem die Nachtigall schlug, über den Feldern, in denen die Wachtel rief, über den Wiesen, in denen der Erdkrebs schnarrte, lag ein zartes rosa Licht. Ein zartes rosa Licht lag auch auf dem ganzen Horizont, selbst die Sterne am Firmament schienen durch einen zarten rosa Schleier zu glänzen. Ein kräftiger Geruch von schwarzer Erde und grünem Birkenlaub erfüllte die Luft.

Es war eben eine helle, herrliche nordische Sommernacht, und sie rief in dem Grafen Erinnerungen wach an Sommernächte, die noch heller und herrlicher gewesen waren als diese. O, wie deutlich erinnerte er sich noch der ersten dieser Sommernächte! Er hatte in Pawlowsk mit den Kameraden gezecht, während der Chor der Volkssänger des Fürsten Galizin das zahlreich versammelte Publikum durch seine holden Lieder entzückte. Da war Pagusko auf ihn zugetreten: »Erlaube, daß ich dich meiner Schwester Lätitia vorstelle.« Das war eine köstliche Nacht geworden, und die darauf folgende war noch schöner gewesen. Am folgenden Tage hatte das große 206 Offiziersrennen stattgefunden. Der Graf wäre auch sonst wie unsinnig geritten, denn er hatte am Tage vorher die letzte Samoletaktie, die aus dem väterlichen Nachlaß noch übrig war, zum Geldwechsler getragen, und er mußte den Sieg davontragen; aber heute übertraf er sich selbst. Auch die »Hoffnung« übertraf sich selbst. Es war, als ob das kluge Tier wußte, daß heute ein paar braune Augen ängstlich auf seinen Reiter gerichtet waren, die in stolzer Freude erstrahlen mußten. Um zwei Pferdelängen schlugen die beiden ihre berühmten Konkurrenten. Sie thaten es um hohen Lohn. Wie freudig strahlten am Nachmittag die braunen Augen dem Grafen entgegen, als er seinen ersten Besuch machte, wie sanft streichelten die weißen Hände den Hals der »Hoffnung«, als diese noch am späten Abend auf speziellen Wunsch der Damen vor die Villa des Fürsten geführt wurde.

Dann kam eine wonnige Zeit und dann eine wildbewegte und endlich eine schreckliche. Was sollte aus dem Verhältnis werden? Er hatte kein Vermögen, sie hatte kein Vermögen; aber er hatte einen alten anspruchsvollen Namen, und sie hatte auch einen alten anspruchsvollen Namen. Er war immerhin noch schlimmer daran als sie, denn er hatte weniger als nichts, er hatte Schulden. Sollte er, der sein Leben lang erst im Kadettencorps, nachher im Regiment aufgetreten war wie ein großer Herr, sollte er, der Liebling der Salons, seinen Abschied nehmen, um als ein von seinen Gläubigern gehetzter Accisebeamter in irgend einem kleinen baltischen 207 Judenstädtchen seine Tage unter Landedelleuten zu verbringen?

Und wenn er das auch allenfalls konnte, er, der ein leidenschaftlicher Jäger und Naturfreund war, und der überdies für die Vettern daheim angeborene Sympathien hatte, konnte er aber auch Lätitia zumuten, ihm auf diesem Wege zu folgen? Und wenn sie es doch wollte – und sie wollte es – durfte er ein solches Opfer annehmen?

Es war keine helle freundliche Sommernacht, es war eine finstere stürmische Winternacht, in der der Graf den Brief schrieb, der diese Frage endgültig beantwortete. Als der Morgen trübe und schläfrig über die endlosen Ebenen daherschritt, sah er den Grafen im Schlitten der halbvergessenen Heimat zueilen.

Als er nach einem Monat zurückkehrte, war er der Bräutigam seiner Cousine Ina Campbell, der reichsten Erbin und, wie man sagte, des schönsten und besten Mädchens des Landes.

Als Polderkamp fast noch ein Knabe war, hatte ihn ein fremder Hund in den Arm gebissen. Die Familie, auf deren Landhaus der Kadett gerade weilte, war dadurch in große Aufregung versetzt worden, denn die Ärzte waren nicht zu finden, und es war nicht unmöglich, daß das Tier toll gewesen war. Der junge Graf hatte sich darauf in die Küche begeben und mit einem glühend gemachten Eisen die Wunde ausgebrannt. »Um Gotteswillen, Georg, was thun Sie?« rief die Hausfrau, die dazu kam. – 208 »Ich brenne mir die Wunde aus, damit ich aller Ungewißheit ein Ende mache. Ich kann Ungewißheit nicht ertragen,« war die Antwort.

»Arme Lätitia,« dachte der Graf jetzt. »Du warst treuer als ich. Zehn Jahre hast du gewartet. Gewartet? Worauf konnte sie gewartet haben? Auf –« Der Graf dachte den Gedanken nicht zu Ende. Er schlug dem Pferde die Hacken in die Weichen, daß der Hengst sich wild aufbäumte und sich wie toll im Zügel hin und her warf.

Der Graf brachte ihn wieder zur Ruhe und fuhr sich dann mit der Hand über die Stirn. »Fort damit,« sagte er halblaut und erschrak über seine eignen Worte. Er gab dem Tiere die Zügel frei, und dieses eilte im schnellen Lauf Rotenhof zu.

Zu Hause entkleidete der Graf sich rasch und schlich dann leise ins Schlafzimmer. So leise er aber auch auftrat, so erwachte seine Frau doch. Die Gräfin hatte einen sehr leichten Schlaf, und sie hatte beim Erwachen nie mit ihm zu kämpfen. So schlug sie denn auch jetzt die Augen hell auf und sagte freundlich lächelnd: »Das nenne ich lange fortbleiben. Aber was ist das, Georg,« fuhr sie fort, indem sie sich im Bette aufrichtete, »du siehst so elend aus! Bist du unwohl?«

»Sei unbesorgt,« erwiderte der Graf, »es hat nichts auf sich. Ich habe in Sergen Bier trinken müssen, und du weißt ja, ich kann das Zeug nicht vertragen.«

209 Die Gräfin wollte aufspringen, aber ihr Mann ließ es nicht zu. »Bitte, bitte, laß mich dir etwas Limonade bringen,« bat sie; aber er blieb unerbittlich. Sie fragte nun noch nach diesem und jenem; dann sagten sie sich Gute Nacht! Die Gräfin war bald wieder eingeschlafen, den Grafen aber floh der Schlaf. Er lag eine Weile mit geschlossenen Augen da; dann richtete er sich leise auf, stützte sich auf seinen rechten Arm und blickte liebevoll auf die schönen regelmäßigen Züge seiner Frau. Es war, als ob der Adel, der auf ihnen lag, die häßlichen Gedanken, die den Grafen gequält hatten, bannen wollte; aber sie kamen doch wieder. Vergeblich vergegenwärtigte er sich, wie treu und voll das Herz seines Weibes für ihn schlug; vergeblich führte er sich vor die Seele, wie unendlich viel er seiner Frau verdankte; vergeblich rief er zehn glücklich verlebte Jahre zu Hilfe – aus dem Dunkel der Vergangenheit tauchte ein holdes Frauenbild auf, blickte ihn traurig an sagte: »Du liebst sie nicht, wie ich ihn nicht liebe. Du bist ihr dankbar für die Liebe, die sie dir geweiht hat, wie ich ihm dankbar bin für die Liebe, die er mir entgegenbringt; aber du liebst sie nicht, wie ich ihn nicht liebe. Du liebst nur mich, und ich liebe nur dich, und doch dürfen wir uns nicht haben, dürfen wir nicht einmal aneinander denken. Das hast du gethan, du armer, armer Thor.«

In den Bosketts vor den Fenstern klagten die Nachtigallen, als hätten auch sie ein verfehltes Lebensglück zu beklagen.

210 »Das ist Unsinn,« rief der Graf halblaut und schnellte im Bett empor, »Unsinn, Unsinn!«

Die Gräfin erwachte. »Was gibt es, Georg?«

»Nichts, mein Liebchen, ich hatte nur einen tollen Traum.«

Die Gräfin lächelte und reichte ihm ihre Rechte. »Hast du mich lieb, Georg?« fragte sie.

»Gewiß, Ina, gewiß! So sehr, wie du es verdienst.«

Die Gräfin lächelte glücklich. 211

 


 


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