Theodor Hermann Pantenius
Im Gottesländchen
Theodor Hermann Pantenius

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Zweites Kapitel.

»Du hast deinem Bruder das Pachtgeld gebracht,« sagte Wezwagar nach einer Weile.

Die junge Frau sah erschreckt zu ihm auf. »Warum glaubst du das?« fragte sie betreten.

Der Bauer lächelte. »Ich müßte mein Weiblein schlecht kennen,« erwiderte er, »wenn ich glauben sollte, es sei im stande, die Not der Geschwister anzusehen, ohne ihnen zu helfen. Es geschah nicht ohne Absicht, daß du gerade heute zu ihnen wolltest.«

Die Bäuerin ergriff ihres Mannes Hand und drückte einen Kuß auf den wollenen Handschuh, der sie bedeckte. »Ich danke dir,« sagte sie innig und nickte ihm dankbar zu.

Wezwagar schlang seinen rechten Arm um ihren Leib, drückte sie herzlich an sich und sprach: »Mein liebes Weiblein, du bist mein ein und alles. Ich habe nicht nur nie geglaubt, daß mir je so reiches Glück auf Erden geschenkt werden würde, als mir durch dich zu teil geworden ist; ich glaubte überhaupt nicht, daß es so viel Glück auf Erden geben könne. Wie sollte ich es da nicht gern sehen, wenn 24 du die Deinigen unterstützest. Macht es dir doch Freude.«

»Lieber Mann,« begann die Bäuerin eifrig, »ich habe –«

»Du hast dir das Geld natürlich rechtschaffen erspart,« fiel ihr der Mann ins Wort. »Ich bin über das, was in meiner Abwesenheit in meinem Gesinde vorgeht, nicht so wenig unterrichtet, daß ich nicht wüßte, daß mein Weiblein dann bis tief in die Nacht am Webstuhl saß. Ich habe dich nur gewähren lassen.«

»Wie bist du gut,« flüsterte die Frau und schmiegte sich zärtlich an ihn.

»Ich will dir nicht abraten, die Geschwister zu unterstützen,« fuhr der Bauer fort. »Es macht dir Freude, und wir können es ja. Du bist nicht leichtsinnig, ich bin nicht faul und verzagt, da geht natürlich alles gut und wir kommen vorwärts. Trotzdem thut es mir leid um das schöne, schwer verdiente Geld. Die dort« – er wies mit der Peitsche nach rückwärts – »werden sich doch nicht lange halten, und ich fürchte, wir werden ihnen nur zu bald die Badestube als Wohnung einräumen müssen. Jakob ist jetzt träge und faul, ich hoffe aber, daß er, wenn man ihn kurz hält, einen brauchbaren Knecht abgeben wird.«

»O, wie schwer muß es sein, sein Gesinde verlassen und bei anderen in den Dienst treten zu müssen!«

»Ach ja! Ich überlebte das nicht. Ich habe 25 lange genug anderer Leute Brot gegessen, um zu wissen, wie bitter es schmeckt.«

Sie verließen bald die Limpik und fuhren schweigend weiter. Der Weg führte anfangs durch die Sümpfe, dann durch einen prachtvollen Hochwald von Nadelholz, lief später durch Wiesen und Felder und mündete endlich in die große Landstraße, die in einiger Entfernung von der Küste von Norden nach Süden läuft. Dort stand ein großer, aus Feldsteinen erbauter Krug, und in ihm schien heute abend frohes Leben zu herrschen. Durch die halbgeöffnete Thüre des Stalles sah man beim Schein einer vom Querbalken herabhängenden Lampe eine Anzahl Wagen und Pferde, die Flur des Hauses war hell erleuchtet, und aus den Fenstern ertönten Tanzmusik, lustiges Gelächter und frohe Lieder.

Als Wezwagars Gefährt auf die Landstraße eingebogen war und an dem Kruge vorüber wollte, wurden seine Insassen von einer Anzahl Männer, die in lebhafter Unterhaltung vor dem Kruge standen, erkannt und sofort angehalten. Es waren lauter Wirte aus derselben Gemeinde und zwar meist ältere, denn die jüngeren tanzten in der großen Krugsstube.

Wezwagar hatte eigentlich nach Hause fahren wollen, er ließ sich aber bereden, noch auf ein Stündchen in den Krug zu treten, und seine Frau hatte nichts dagegen.

Nach einiger Zeit hatte sich alles wieder gruppiert. Wezwagar und die übrigen Wirte hatten sich zu einem Glase Bier in das hinter der Tanzstube gelegene 26 kleinere Zimmer zurückgezogen, Frau Wezwagar bei bekannten Frauen in der Tanzstube Platz genommen, um dem Tanze zuzusehen.

»Wezwagar, habt Ihr schon von dem neuesten Stückchen gehört, das der Baron hat ausgehen lassen?« fragte der Namikwirt, ein langer hagerer Mann mit blondem Haupthaar und stechenden schwarzbraunen Augen.

»Nein. Was hat es denn gegeben?«

»Er hat gestern Gulbe das Fischen in dessen eignem Teiche untersagt.«

»Aber warum denn? Gulbe hat doch von jeher in dem Teiche gefischt?«

»Und Gulbes Frau ist überdies des Barons Amme gewesen,« fügte ein alter weißhaariger Wirt hinzu.

»Nun, dann hat er ja nur fortgesetzt, was er bereits anfing,« rief einer der wenigen jungen Wirte. »Erst hat er sie ausgesogen, jetzt saugt er auch ihre Familie aus.«

Schallendes Gelächter belohnte den frechen Witz. Es war aber ein ingrimmiges, unheilverkündendes Lachen.

»Warum hat der Baron ihm das Fischen im Teich untersagt?« forschte Wezwagar, als es wieder still geworden war, weiter. »Welchen Grund hat er angegeben?«

»O an Gründen fehlt es dem Wolf nicht, wenn er das Lamm zerreißen will,« meinte Namik.

»Laßt doch Pilskaln erzählen!« hieß es jetzt von mehreren Seiten.

27 »Was ist da viel zu erzählen,« begann jetzt Pilskaln, der Eidam Gulbes. »Gestern nachmittag kommt der Baron auf seinem hochbeinigen Braunen nach Gulbe geritten und fragt nach meinem Schwiegervater. Als der herauseilt, sagt er: ›Gulbe, du darfst von Georgi an nicht mehr im großen Teich fischen.‹ ›Warum nicht?‹ stammelt mein Schwiegervater, ›ich habe das doch bisher immer thun dürfen?‹

»›Allerdings,‹ versetzt der Baron und sitzt so kalt und steif auf seinem Pferde wie ein Götze, ›du hast allerdings bisher im Teiche fischen dürfen, aber ich habe aus alten Papieren ersehen, daß früher in dem Teiche vom Gut aus gefischt wurde und wünsche, daß es in Zukunft wieder so gehalten wird.‹

»›Herr,‹ versetzt mein Schwiegervater darauf, ›nicht ich allein, nein, auch mein Vater und mein Großvater haben in dem Teich gefischt.‹ Da lächelt der Baron und sagt: ›Es gibt noch ein Mittel, durch das du dir die Berechtigung in dem Teiche zu fischen, wenigstens für einige Zeit bewahren kannst.‹ ›Welches?‹ fragt mein Schwiegervater eifrig. Da erwidert der Baron: ›Kündige mir übermorgen das Gesinde, dann kannst du noch bis zum nächsten Georgi, also ein rundes Jahr hindurch deine paar Fische fangen.‹ – Damit wendet der Baron sein Pferd um und reitet langsam, im Schritt, aus dem Hofe des Gesindes.«

Die Bauern hatten, obgleich ihnen der Vorgang schon bekannt war, der Erzählung doch wieder mit gespannter Aufmerksamkeit gelauscht. Jetzt brach von 28 allen Seiten ein Strom von Verwünschungen gegen den Baron los. »Er hat gut spotten,« hieß es. »Er gibt uns nur jährliche Kontrakte, und wenn wir uns seiner Willkür widersetzen, so heißt es einfach: ›Du kannst ja kündigen und fortgehen.‹« Wilks aber sang:

O, du Deutscher, Teufelskind,
Wärst du doch nicht groß geworden!
Machst nun Jagd auf meine Brüder,
Wie der Kater auf die Mäuse!

Wezwagar saß mit gerunzelter Stirn nachdenklich da. Dann fragte er: »Hat der Baron wirklich ohne jede Entschädigung Gulbe seine Fischereiberechtigung genommen?«

Die Bauern blickten alle auf Pilskaln.

»Nun, nicht gerade ohne jede Entschädigung,« erwiderte dieser mürrisch. »Er hat ihm dafür fünfzehn Rubel von dem Pachtgelde erlassen; aber was will das sagen?«

»Ja, was will das sagen?« hieß es wieder von allen Seiten.

»Das will soviel sagen,« rief Wezwagar eifrig, »daß der Baron damit Gulbe die paar Fische, die überhaupt in dem Teiche gefangen werden können, reichlich bezahlt hat.«

Die Bauern schwiegen und sahen einander an.

»Es handelt sich nicht um die paar Fische,« rief Wilks, »sondern um unser Recht. Die Fische wollen wir ihm gern gönnen und aufrichtig wünschen, daß er an ihnen ersticken möge.«

29 »Wie soll das Herrchen nicht übermütig werden,« meinte Namik, »wenn wir uns alles von ihm gefallen lassen? Wir wollen diese Angelegenheit benutzen und alle zusammen klagen.«

»Was, klagen?« rief Pilskaln. »Sollen die Mäuse beim Fuchs über die Krähe Klage führen? In allen Gerichten sitzen lauter Edelleute, und die thun einander nichts. Bei uns gibt es weder Recht noch Gerechtigkeit, wohl aber Flinten, Pulver und Schrot.«

»Nun, bei den Gerichten dringen wir natürlich nicht durch,« erwiderte Namik, »aber wir können ja nach Riga zum Generalgouverneur. Das ist ein russischer Herr, der an des Kaisers Statt Recht spricht, der wird auch uns zu unserem Recht verhelfen.«

»Das führt zu nichts,« wandte Wilks ein, »das kennt man. Der Generalgouverneur meint es gut und verspricht mehr als wir verlangen. Er kann aber doch nicht nach Waldburg kommen und sich selbst überzeugen, wie die Dinge stehen. Er fragt also beim Hauptmann an, und dieser, der, wie ihr alle wißt, des Barons Vetter ist, antwortet, wir hätten alle gelogen, an der Geschichte sei kein wahres Wort. Ist er so mit dem Generalgouverneur fertig, dann kommt die Reihe an uns. Er läßt die, die in Riga waren, vorladen und als Verleumder auspeitschen. Damit ist die Sache dann zu Ende. Ich schlage vor, daß wir uns mit dem Baron selbst auseinandersetzen. Nachher möge dann der Hauptmann kommen und sich noch ein Dutzend Kosaken aus der 30 Stadt holen lassen. Was geschehen ist, ist geschehen, und wir haben Ruhe.«

»Hört, Leute,« begann Wezwagar jetzt, »ich kann und will den Baron nicht in allen Dingen entschuldigen, denn er ist oft unnütz hart und eigensinnig wie ein russisches Pferd, aber er ist ein gerechter Mann. Er gibt uns zwar nur einjährige Pachtkontrakte, aber wir stehen uns mit ihnen doch nicht schlechter als unsere Nachbarn, deren Pachtverträge auf zwölf Jahre lauten. Seit die Fron aufhörte und die Gesinde verpachtet wurden – und das mag doch schon fünfundzwanzig Jahre her sein – ist uns das Pachtgeld nicht erhöht worden, und es ist auch nicht vorgekommen, daß jemand, der sein Gesinde in Ordnung erhielt und sein Pachtgeld pünktlich entrichtete, aus dem Gesinde gesetzt worden wäre. Wenn der Baron kleine Veränderungen vorgenommen hat, wie in dem Fall mit Gulbe, so hat er die Wirte immer reichlich entschädigt.«

»Ja, ja,« erwiderte Wilks, »daß du es mit dem Baron hältst, wissen wir alle seit lange.«

»Ja, ich halte es mit dem Baron,« erwiderte Wezwagar gereizt. »Ich halte ihn für einen Narren, aber für einen guten gerechten Menschen.«

»Du stehst dich dabei nicht schlecht.«

»Was willst du damit sagen?« fragte Wezwagar errötend.

»Ich will damit sagen, daß er dich wohl deshalb aus einem armen Fischerknecht in Warpeln zu einem reichen Wirt in Waldburg gemacht hat.«

31 Wezwagar wollte heftig antworten, aber Namik schnitt ihm das Wort ab.

»Das ist nicht wahr,« rief er. »Wezwagar hat sich die Gunst des Barons schwerer erworben als dadurch, daß er Gutes von ihm redete. Er hat ihm mit eigner Lebensgefahr das Leben gerettet.«

»Andere sagen, der Baron habe ihm das Leben gerettet.«

»Wie verhält es sich eigentlich damit?« fragte man jetzt von verschiedenen Seiten.

Wezwagar sah eine Weile vor sich nieder auf den Tisch; dann sagte er: »Ich will euch die Geschichte erzählen, damit das alberne Gerede darüber aufhört. Ihr wißt alle, daß der Baron, so lange sein Vater lebte, nicht in Waldburg, sondern in Warpeln wohnte. Ich hatte, als das Laiwe-Gesinde des Sandes wegen aufgegeben werden mußte, Laiwe, der nach Warpeln übersiedelte, in sein neues Gesinde begleitet und stand bei ihm im Dienst, allerdings als Fischerknecht. In einem Jahr hatten wir einen unerhört frühen und kalten Winter. Der Frost kam sozusagen stoßweise, das heißt, das Meer ging dazwischen auf und fror dann unglaublich rasch wieder zu. Eines Tages hatte ein Südwest alles Eis zerbrochen und fortgetrieben, gegen Nachmittag aber wurde es windstill, und zugleich trat starker Frost ein. Über Nacht war das Meer ruhig und unbewegt wie ein Landsee und fror auch wie ein solcher zu. Als ich am folgenden Morgen hinaustrat, um Holz in das Haus zu bringen und meiner Gewohnheit nach einen 32 Blick auf das Meer warf, erblickte ich trotz des trüben Morgenlichts ein paar Werst von der Küste ein Boot. Ich lief ins Haus, holte den Wirt und die Wirtin heraus, und wir blickten alle drei nach dem Boot, denn ein solches hatten wir zweifellos vor uns. Als es heller wurde, gewahrten wir auch Menschen darin, die uns mit einem Frauentuch zuwinkten. Nun riefen wir das ganze Dorf herbei; aber da war guter Rat teuer. Wir thaten uns zwar fünf beherzte Bursche zusammen, versahen uns mit Stricken und Leitern und versuchten das Boot zu erreichen; aber wir mußten schon auf halbem Wege umkehren, denn das Eis hielt uns, zumal weiter von der Küste ab, nicht. Die Verzweiflung, die die Leute im Boote packte, als sie uns umkehren sahen, war unbeschreiblich. Wir sahen sie wie unsinnig im Boote hin und her laufen und sich vor Jammer und Verzweiflung das Haar raufen.«

Wezwagar hielt einen Augenblick inne, wischte sich den Schweiß von der Stirn und that einen tiefen Trunk. Die Tanzmusik im Nebenzimmer hatte aufgehört, die Frauen und die Jugend waren leise hereingekommen und hörten nun, Kopf an Kopf gedrängt, in atemloser Spannung zu.

»Die Lage war schrecklich,« fuhr Wezwagar fort. »Die Sonne schien so hell vom blauen Himmel, und wir sollten ruhig zusehen, wie die Leute im Boot dem Frost erlagen. Mittlerweile waren auch der Baron und die Baronin herbeigeholt worden. Die Baronin, die damals erst seit vier Wochen 33 verheiratet war, weinte bitterlich und flehte uns an zu helfen, der Baron bot für die Rettung der Unglücklichen hundert Rubel. Er hatte gut bieten, es fand sich niemand, der für hundert Rubel sein Leben aufs Spiel setzen wollte. Da trat ich vor und sprach: ›Gnädiger Herr, Ihr Geld will ich nicht, aber mich dauern die armen Leute. Finden sich noch zwei Männer, die mich begleiten, so will ich es versuchen.‹ Es fand sich aber keiner. Da spricht der Baron und wird so bleich wie der Sand unter seinen Füßen: ›Nun denn, Georg‹ – so heiße ich nämlich – ›bin ich dir genug, so nimm mich mit.‹ Wie der Baron das sagt, fällt ihm die Baronin um den Hals, weint und schluchzt: ›Thu mir das nicht an! Ich kann es nicht ertragen!‹ ›Herr,‹ sage ich, ›das geht über Ihre Kräfte. Hier geht es ums Leben.‹ Und er: ›Her mit einer Leiter und einem Strick! Zurück, Frau! Soll ich feige zusehen, wie die Menschen dort erfrieren?‹ Als die Leute sahen, daß es dem Baron Ernst war, traten zwei Strandreiter von der Zollstation am Warpelnschen Leuchtturm vor und sagten, sie wollten uns begleiten. Wir nahmen je zwei eine Leiter und machten uns auf den Weg. Die Leute im Boot waren nicht mehr sichtbar, wir wußten nicht, ob sie erfroren waren oder sich nur warm zugedeckt auf den Boden des Bootes gelegt hatten. Da es stark fror, war die Eisdecke jetzt fester als am Morgen, so daß wir die erste Werst ohne Unfall zurücklegten. Dann aber brach bald der eine bald der andere ein. Wir zogen uns zwar an der Leine immer wieder 34 glücklich heraus; aber das Eis wurde, je weiter wir vordrangen, um so dünner. Ich verstehe heute noch nicht, wie wir endlich bis an das Boot gelangten. In dem lagen, wie sich jetzt erwies, drei Leute, ein Mann, eine Frau und, warm zugedeckt, ein kleines Mädchen. Der Mann und die Frau lagen wie tot da, aber das Kind hatte nur geschlafen und war frisch und gesund. Wir drei, die beiden Strandreiter nämlich und ich, nahmen nun jeder eines der Fremden auf den Rücken und der Baron ging voran. Er war aber von Nässe und Kälte so erschöpft, daß er hin und her schwankte und seine Hand, als er wieder einmal einbrach, die Leiter fahren ließ. Ich hatte diesen Fall vorhergesehen und nur das Kind genommen. So gelang es mir denn, ihn glücklich wieder herauszuziehen. Schließlich gelangten wir alle sieben unversehrt an den Strand, auf dem die Baronin und die übrigen auf den Knieen lagen und für uns beteten.«

Wezwagar schwieg, sichtlich ergriffen. Es war im Zimmer so still, daß man eine Stecknadel hätte zu Boden fallen hören.

»Und wer waren die Leute, die ihr gerettet hattet?« fragte endlich ein junger Mann.

»Es waren die alten Breedes, meine späteren Schwiegereltern, und das kleine Mädchen war meine Frau. Die beiden Alten hatten mit Kartoffeln zu Boot zur Stadt gewollt und das Kind mitgenommen, weil sie seine Pate, die in der Stadt diente, besuchen wollten. Als sie schon dicht am Ziel waren, hatte 35 der Südwest sich zum Sturm gesteigert und sie über den Hafen hinausgetrieben. Am anderen Morgen waren sie der Küste von Ösel so nahe gewesen, daß sie die einzelnen Häuser unterscheiden konnten; da war der Wind umgeschlagen und hatte sie wieder aufs hohe Meer zurückgetrieben. Über Nacht führte sie dann eine Strömung an die Küste von Warpeln.«

»Nun, und dafür bekamst du das Gesinde?«

»Ja. Als ich dabei blieb, eine Geldbelohnung auszuschlagen, fragte der Baron: ›Gut, aber würdest du ein Gesinde annehmen, ein schönes, großes Gesinde, nicht hier in Warpeln, sondern da unten in Waldburg? Mein Vater hat eins frei.‹«

»Nun, ihr wißt alle, daß man ein Gesinde nicht auf der Straße findet. ›Wenn Sie mir ein Gesinde geben wollen,‹ erwiderte ich, ›so nehme ich es gern an, gnädiger Herr. Sie wissen aber, daß ich mir das Inventar nicht beschaffen kann.‹ – Da fragt er: ›Hast du denn keine Verwandten, die dir helfen können?‹ – ›Herr,‹ erwidere ich, ›meine Mutter begruben sie, als ich eben geboren war, und mein Vater ertrank im Meer, lange ehe ich ein Ruder führen lernte. Ich habe mir nun zwar etwas erspart, aber es reicht nicht aus.‹ – Da ruft die Baronin: ›Sei nur unbesorgt, ich schenke dir das Inventar und noch dazu ein so vollständiges, wie es nur irgend ein Wirt hat.‹ – Und ich: ›Schenken dürfen Sie es mir nicht, gnädige Frau, aber wenn sie es mir leihen wollen, so nehme ich es dankend an.‹ – So geschah es,« schloß Wezwagar seine Erzählung, 36 »daß ich wieder nach Waldburg kam und zwar als Wirt in das Wezwagar-Gesinde.«

»Und das war gut so!« hieß es von mehreren Seiten.

Frau Wezwagar mahnte jetzt zum Aufbruch, und die Eheleute fuhren davon, obgleich man von allen Seiten in sie drang, noch zu bleiben.

Der Wind hatte aufgehört, die Nacht war still und klar.

»Es ist merkwürdig,« sagte Wezwagar, als sie im Wagen saßen und ihrem Gesinde zurollten, »wie verhaßt der Baron ist. Ich fürchte, daß sein wunderliches und eigensinniges Verfahren noch Unheil anrichten wird, obgleich er es so gut meint und gewiß nie jemand wissentlich zu nahe trat.«

Als Wezwagar vor dem Schlafengehen nach seiner Gewohnheit noch einmal einen Gang durch Hof und Gebäude machte, wurde er sich seines Wohlstandes so recht bewußt. Ja, bei ihm sah es anders aus als beim Schwager in Breede!

Als er wieder ins Wohnzimmer trat, fand er seine Frau damit beschäftigt, ihm seine besten Kleider für den folgenden Tag zurechtzulegen.

»Du vergißt doch das Ei nicht?« fragte er. »Daß es nur ja nicht wieder zurückbleibt!«

»Sei ohne Sorge. Es liegt mir schwer genug auf dem Herzen.«

Dann gingen sie zu Bett. Die Bäuerin war bald eingeschlafen, der Bauer aber lag noch lange wach und dachte, durch seine Erzählung im Kruge 37 dazu angeregt, an die alten Zeiten. Er sah sich wieder als von jedermann mißhandelten Waisenknaben, wie er in der Gemeinde von einem Wirt zum anderen wanderte, um den Leuten das Vieh zu hüten. Hatte ihm ein Wolf – damals gab es in den Grihnen noch hin und wieder Wölfe – ein Schaf geraubt, so wurde er unbarmherzig geschlagen, als ob er, der sich doch selbst so sehr vor den Wölfen fürchtete, das Raubtier hätte verscheuchen können. Damals hatte er keinen anderen Freund gehabt als den jungen Hund, den ihm der benachbarte Buschwächter in jedem Frühling mitgab. Der Buschwächter erzog und dressierte Hühnerhunde für den Verkauf. Da er der Meinung war, daß die Hunde am besten gerieten, wenn sie den ersten Sommer halbwild auf der Hütung zubrachten, so gab er das betreffende Tier immer dem Hirtenknaben mit.

Als der Knabe älter geworden war und man ihn auf den Fischfang mitnahm, hatte er es anfangs kaum weniger schwer gehabt; denn sein erster Herr war ein harter und ungeduldiger Lehrmeister gewesen. Erst als er zum Jüngling herangewachsen war, hatten ihn sein Mut, seine Kraft und seine Geschicklichkeit so beliebt gemacht, daß er sich den besten Wirt in der Gemeinde hatte aussuchen können. Und doch war er nicht glücklich gewesen. An den Wochentagen, an denen es vollauf zu thun gab, vermißte er nichts; wenn er aber am Sonntagnachmittag auf dem Schnabel seines ans Land gezogenen Bootes saß, und die leise heranrauschenden Wogen ihm den 38 Fuß umspülten, dann hatte ihn die Sehnsucht gepackt nach einer Mutter, einem Weibe, nach irgend jemand, der ihn so recht von ganzem Herzen liebte, den er so recht mit ganzer Seele lieben konnte, daß er geglaubt hatte, das Herz müsse ihm brechen vor Kummer. Und doch hatte ihm keines der jungen Mädchen gefallen, so daß er lange Junggesell gewesen war und schon fast auf jedes Eheglück verzichtet hatte. Und nun war doch alles so schön geworden, wenn auch erst spät.

Der Bauer lag bewegungslos da und lauschte den leisen Atemzügen seines jungen Weibes. Es war ihm, als ob die Laima, die alte Glücksgöttin seines Volkes, neben ihm atme. So schlief er ein. 39

 


 


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