Theodor Hermann Pantenius
Im Gottesländchen
Theodor Hermann Pantenius

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Fünftes Kapitel.

Wezwagar war in der widerwärtigsten Stimmung. Ihm war zu Mut wie einem für gewöhnlich nüchternen, mäßigen Manne, der viel auf sich hält und der sich nun sagen muß, daß er sich einen Rausch angetrunken und vor vielen Leuten wie ein Betrunkener benommen habe. Jetzt, wo der Jähzorn von ihm gewichen war, schämte er sich desselben, bereute er ihn von ganzem Herzen. »Wäre ich ruhig geblieben,« sagte er sich, »so hätte der Baron doch noch nachgegeben, wenn nicht jetzt, so doch gewiß nach einem Jahr. Und nun? Nun ist alles aus.« Dieses »alles« umfaßte eine Fülle von Frieden und Glück, nicht nur für ihn, nein, auch für sein Weib. In all dem Schmerz, der des Bauern Herz durchwühlte, stand der Gedanke an sein Weib doch immer obenan. Aber ließ sich denn wirklich gar nichts mehr thun, um das Unglück noch abzuwenden? Wie, wenn er morgen hinüberfuhr und den Baron um Verzeihung bat? Nein, das konnte nichts helfen. Der Mann, der ihm den Wald verschloß, weil er das Ei ein wenig später brachte, konnte ihm seinen Zornausbruch, der noch 72 dazu in Gegenwart des Schreibers erfolgt war, nimmermehr verzeihen. Er würde den Bauern mit Schimpf und Schande aus dem Zimmer jagen. Als Wezwagar an diese Möglichkeit dachte, stieg ihm das Blut wieder so jäh zu Kopf wie am Vormittag.

Nein, das ging nicht, darauf konnte er es nicht ankommen lassen. Da gab er lieber sein Gesinde hin. »Ich bin vierzig Jahre lang ein armer Fischerknabe und Fischerknecht gewesen,« dachte er, »ich verstehe zu arbeiten, und ich werde mir schon mein Brot verdienen. Es wird anfangs bitter schmecken, aber ich werde mich daran gewöhnen, wieder Fremden zu dienen. Ich – ja, aber mein Weib? O, die ist brav und fleißig, die wird sich auch darin finden.«

Der Bauer sah im Geist, wie sein Weib so recht lebensfroh in dem eignen Heim schaltete, wie sie mild und doch fest die Leute regierte, so daß in ihrem Hause mehr gearbeitet wurde als in allen anderen. Und doch gingen die Leute für sie durch Feuer und Wasser. Jetzt sollte sie durch seine Schuld das alles verlieren, mit ihm in eine Knechtskaserne ziehen auf ein Gut oder in die Knechtsstube eines Gesindes. Er sah die schlecht verhehlte Schadenfreude voraus, mit der die übrigen Bäuerinnen ansehen würden, wie die Tochter des armen Strandbauern nun hinabsteigen mußte von dem vielbeneideten Hausfrauensitz im fetten Wezwagargesinde, um eine Knechtsfrau zu werden.

Als der Bauer daran dachte, stieg ein grimmiger Haß gegen den Baron in ihm auf und verwirrte ihm den sonst so klaren Sinn.

73 Durfte ihm der Baron überhaupt das Gesinde nehmen? Vor dem Gesetz vielleicht, aber durfte er es auch vor Gott? Mußte ihn aber dann nicht auch das Gericht in seinem Recht schützen? Wenn er recht hatte vor Gott, und das Gericht schützte ihn nicht in seinem Recht, dann mußte er eben zur Selbsthilfe greifen, dann mußte er die Gerechtigkeit selbst in die Hand nehmen und – ja, was war das für ein schreckliches »und«!

Der Bauer erhielt sein Pferd, das den ganzen Tag über nichts gefressen hatte und jetzt ungeduldig nach Hause wollte, mit starker Hand im Schritt und sann nach über dieses entsetzliche »und«, das sein Antlitz erdfahl färbte und seine starken Glieder wie im Fieber beben ließ. Er wußte, daß er nicht war wie die anderen, die jahrelang mit in der Tasche geballter Faust umhergehen und sich immer und immer wieder gegenseitig aufreizen konnten, ohne doch zu einem Entschluß zu kommen. Wenn er sich erst für dieses entsetzliche »und« entschied – dann wehe dem Baron, wehe ihm selbst!

Während die Seele des Bauern hinabgestiegen war in die finstersten Tiefen des Menschenherzens, lächelte rings um ihn ein köstlicher Frühlingsabend. Der dichte Wald, durch den der Weg führte, war ein aus allen Holzarten, aus Kiefern, Tannen, Lärchen, Birken, Eschen und Eichen gemischter, recht wie die Vöglein und die Tiere des Waldes ihn lieben. Jetzt klang er wieder von vieltausendstimmigem Vogelgesang, die Waldschnepfen zogen, sich jagend, über 74 die feuchten Lichtungen, auf den Waldwiesen sah man schon äsende Rehe. Kein Blättlein regte sich an den Bäumen, als ob sie alle den Atem anhielten, um sich des lauen Frühlingsabends zu erfreuen.

Dort, wo der enge Gesindeweg von der Landstraße auf die Lichtung und zum Gesinde abführte, blieb das Pferd stehen.

Als Wezwagar aus seinem Grübeln auffuhr, sah er sein Weib vor sich. Die Bäuerin lehnte an einer schlanken Birke, und die untergehende Abendsonne übergoß mit ihrem Rot den weißen Stamm der Birke und die holden Züge des jungen Weibes. Ach, ihre Strahlen glänzten in den Thränen wieder, die unaufhaltsam über die zarten Wangen herabrannen!

Der Bauer sprang aus dem Wagen, ging auf sein Weib zu und schloß es in seine Arme. Die junge Frau verbarg ihr Haupt an seiner breiten Brust, und nur das gewaltsame Zucken ihres Leibes verriet ihm, daß sie bitterlich weinte.

Der Fuchs hatte eine Weile still gehalten und den Kopf mit gespitzten Ohren nach der Bäuerin gewendet, als erwartete er, daß sie ihm wie gewöhnlich, wenn er nach Hause kam, eine Brotkruste reichen würde; da er aber gar nicht beachtet wurde, so stieß er erst ein leises Wiehern aus und ging dann, als auch das nicht verfing, langsam, im Schritt nach Hause. Der verhallende Ton seiner Hufen und das Knirschen der Wagenräder auf dem Kies des Weges unterbrachen allein die Abendstille.

75 »Weiblein,« fragte der Bauer nach einer Weile mit bebender Stimme, »weißt du um alles?«

Keine Antwort.

Der Bauer richtete nun mit der Rechten das in Thränen gebadete Gesicht seiner Frau empor und küßte sie heiß auf Augen, Stirn und Mund. Die Bäuerin überließ sich ihm widerstandslos.

»Hat man dir alles gesagt?« wiederholte er.

Sie nickte.

»Wer?«

Die Bäuerin fuhr sich mit dem Taschentuch über Augen und Gesicht und erwiderte mühsam: »Gulbe.«

»Kam Gulbe eigens deshalb zu dir?«

»Nein,« erwiderte die Bäuerin und bemühte sich, ihrer Thränen Herr zu werden. »Er fuhr zur Stadt. Ich hatte die schwarze Blässe hinausgetrieben, da wurde er mich gewahr und hielt an.«

»Nun, und was sagte er?« fragte der Bauer finster.

»Ach, wozu soll ich das wiederholen?«

»Sprich nur. Was sagte er?«

»Er sagte,« schluchzte die junge Frau, und verbarg ihr Antlitz wieder an seiner Brust, »er sagte, daß der Baron dich geschlagen habe!«

Der gewaltige Körper des Bauern erbebte. »Das hat er nicht gethan,« sagte er ganz leise.

Die Bäuerin erhob ihr Haupt und sah ihn fragend an.

»Nein, das hat er nicht gethan. Er wies aber das Ei zurück, weil ich es ihm, wie er behauptete, 76 zu spät brachte, und verbot mir den Weg durch den Wald.«

Das Antlitz der Bäuerin erhellte sich. »War es weiter nichts?« fragte sie. »Das ist ja auch schlimm genug, aber doch nicht so schrecklich.«

Der Bauer schwankte einen Augenblick, ob er seinem Weibe jetzt gleich die volle Wahrheit sagen sollte; es kam ihm aber unrecht vor, sie zu täuschen.

»Weiblein,« begann er, »das ist noch nicht alles.«

Die Bäuerin blickte ihn erschreckt an. Wenn sie erregt war, zogen sich auf ihrer Stirn zwischen den Brauen ein paar Falten zusammen, die ihrem guten, unschuldigen Gesichtchen einen unsäglich rührenden Ausdruck gaben.

»Als der Baron das Ei nicht nahm,« fuhr der Bauer fort, »da überkam es mich –«

»Um Gott, du hast doch nicht –«

»Ich warf das Ei vor ihm auf den Tisch und ging davon.«

Die Bäuerin hatte sich von ihrem Mann gelöst und wieder an die Birke gelehnt. Jetzt verhüllte sie ihr Gesicht mit den Händen und weinte bitterlich.

Über ihr flatterte ängstlich lockend und rufend ein Finkenpaar von Zweig zu Zweig. Dem hatten die Kinder des Knechts am Morgen das kaum begonnene Nest zerstört.

»Weiblein,« rief der Bauer, »Weiblein!«

»Ach laß mich nur!« schluchzte die Bäuerin. »Ich habe nicht verdient, dein Weib zu sein.«

»Was weinst du, mein Weiblein?«

77 »Ach, nenne mich nicht dein Weiblein, mich, die ich über dich Guten so schweres Leid gebracht habe!«

»Mein Herzensweib, dich trifft keine Schuld.«

»Gewiß trifft sie mich und nur mich. Ich wußte, wieviel an dem Ei lag, wie konnte ich dich von mir lassen, ohne mich überzeugt zu haben, daß du es mit hattest!«

»Mein liebes, liebes Weiblein, ich wußte das so gut wie du. Mich trifft die Schuld und niemand anders.«

Die freundlichen Worte des Bauern machten seine Frau nur noch unglücklicher. »Ach, was würde mein seliger Vater dazu sagen,« rief sie, »daß ich so pflichtvergessen gewesen bin! Wie soll ich mir das je vergeben!«

Sie standen noch lange bei einander, und die Sonne war längst untergegangen, als sie sich dem Gesinde näherten. Über dem Bemühen, sein Weib zu trösten, war der Groll des Bauern gegen den Baron zurückgetreten vor der Trauer über die Thatsache; er loderte aber wieder hell auf, als er, sobald er sein Haus betrat, die Kündigung vorfand. »Gut!« knirschte er, indem er das zerknitterte Schreiben auf den Boden warf und mit Füßen trat, »gut! Du kündigst mir; wir wollen aber sehen, wer zuerst heraus muß, du aus dem Hof oder ich aus dem Gesinde!«

Die Bäuerin nahm den erwarteten Schlag verhältnismäßig ruhiger auf. Sie fand die Kündigung auch natürlich und in der Ordnung; sie hütete sich aber wohl, diese Ansicht vor ihrem Manne zu 78 entwickeln und ihn dadurch noch mehr zu reizen. Sie maß innerlich die Schuld an allem Unglück nach wie vor hauptsächlich sich zu, und sie war sehr niedergedrückt; sie sagte sich aber, daß es jetzt galt, vor ihrem Manne gefaßt zu erscheinen. Sie sprach daher, obgleich ihr bei dem Gedanken, ihr liebes Wezwagar verlassen zu müssen, das Herz still stand, so ruhig als möglich:

»Sei nur unbesorgt, Georg, wir finden schon ein anderes Gesinde. Ein Mann wie du wird sich nicht lange nach einem solchen umzusehen brauchen.«

»Ehe ich das thue, muß ich doch erst aus Wezwagar vertrieben sein,« erwiderte der Bauer mit funkelnden Augen.

Die Bäuerin that, als ob sie die Drohung, die in diesen Worten lag, nicht verstanden hätte. »Ich meine natürlich nur im schlimmsten Fall,« fuhr sie fort, und streichelte ihrem dreijährigen Erstgeborenen, den sie auf den Schoß genommen hatte, den flachsblonden Kopf. »Wir werden uns in dem neuen Gesinde gewiß bald ein ebenso trauliches Heim schaffen, wie wir es hier haben.«

»Es ist auch ganz gut, daß wir hier fortmüssen,« sprach sie weiter, als ihr Mann, der, den Kopf auf die hohle Hand gestützt, bewegungslos dasaß, schwieg, »hier muß es zwischen dem Baron und den Bauern doch bald zu Händeln kommen, in denen du, der du den Baron achtest und liebst, viel leiden würdest. In dem neuen Gesinde werden wir damit nichts zu thun haben.«

79 Der Bauer lächelte spöttisch; aber es that ihm doch wohl, daß seine Frau von dem »neuen Gesinde« so sprach, als ob er ein solches schon gepachtet hatte. Sie hatte übrigens recht, er war vorhin zu kleinmütig gewesen. Mit dem Knechtsstande hatte es noch gute Weile.

»Wenn wir weiter im Lande wohnen werden, werden wir auch besseres Vieh halten können,« fuhr die Bäuerin fort. »Darauf freue ich mich ganz besonders. So große Kühe wie unsere schwarze Blässe können bei der Waldweide hier doch nicht gut fortkommen.«

Der Bauer erhob sich und ging mit großen Schritten im Zimmer auf und nieder. Dann blieb er plötzlich vor seiner Frau stehen und fragte, während es in seinem Gesicht seltsam zuckte: »Frau, wenn ich nun aber doch ein Knecht werden müßte und du eine Knechtsfrau?«

Die Frau sah ihn aus ihren großen Augen ernst an und erwiderte langsam: »Wenn du ein Knecht werden müßtest, so müßtest du nichts anderes werden, als was du lange gewesen bist, und wenn ich eine Knechtsfrau werden müßte, so würde ich nichts anderes werden, als was ich, die Tochter eines armen Strandbauern, ohne dich jetzt ohnehin wäre. Gottes Wille geschehe, nicht unserer. Wir sind auch als Knecht und Knechtsfrau Gottes Kinder.«

Der Bauer beugte sich auf sein Weib herab und küßte es heiß. Dann ging er wieder mit großen Schritten im Zimmer auf und ab und rang, während 80 die Bäuerin ihren Knaben, der auf ihrem Schoß eingeschlafen war, zu Bett brachte, mit sich selbst. Die wunderbare Größe seines einfachen, schlichten Weibes, für die er Verständnis hatte, machte ihm die Seele weit und groß; aber der Gedanke an die Erlebnisse des heutigen Tages schnürte sie wieder ein. Jetzt erschien ihm die Notwendigkeit, sein Gesinde aufgeben zu müssen, wie kein unerträgliches Unglück – blieben ihm doch sein herziges Weib, seine lieben Kinder, reichliche Habe; dann wieder empörte sich sein männlicher Sinn wider jede Resignation, schrie alles in ihm nach Rache an dem Baron – verlor er doch um einer Laune willen das Gesinde, das er so lange und sorgsam bebaut hatte, mußte doch auch sein Weib hinaus in die Fremde!

Als die Bäuerin vor dem Schlafengehen das Vaterunser gesprochen hatte, betete sie laut weiter: »Ja, Herr, vergib uns unsere Schuld. Strafe uns, gnädiger Gott, nicht dadurch, daß du Ungeduld aufkommen läßt in unseren Herzen, sondern verleihe uns vielmehr Geduld, daß wir uns willig beugen unter deine Hand. Laß uns stets eingedenk sein der eignen Sündhaftigkeit, auf daß wir nicht ins Gericht gehen mit unserem Nächsten. Gib uns nicht Gedanken der Rache, sondern des Friedens und des Verzeihens. Gib, daß wir erkennen, daß nichts geschieht wider deinen allezeit guten und gnädigen Willen! Amen.«

Der Bauer saß mit gefalteten Händen still neben seinem Weibe. Der ganze Handel, der ihn eben noch bis ins Innerste erregt hatte, erschien ihm jetzt 81 erbärmlich, ja, es kam ihm vor, als ob er ihn eigentlich kaum angehe. Was lag an dem Gesinde? War nur seine Frau bei ihm mit ihrer weichen, melodischen Stimme und ihrem frommen, geraden Sinn, so erschien es im Grunde gleichgültig, ob sie in Wezwagar hausten und sich liebten oder sonst wo. Der Bauer dachte jetzt ohne Groll an den Baron wie an einen ihm fremden und gleichgültigen Menschen.

Als er aber am folgenden Morgen nach kurzem Schlaf erwachte und die Erinnerung an die Erlebnisse des vorhergehenden Tages plötzlich in ihm lebendig wurde, überkam ihn wieder jene widerwärtige Empfindung, in der er sich gestern seinem Heim genähert hatte. War es denn wirklich möglich, daß all das Glück, das ihm bisher an jedem Morgen entgegenlachte, auf Nimmerwiedersehen verschwunden war? Und warum? Weil er in der Eile ein Ei vergessen hatte. Das war barer Unsinn. Ein so dummes Ding wie ein Ei konnte ein Menschenglück nicht zerstören. Es mußte noch alles gut werden, es galt nur, kalt zu überlegen und klug zu handeln.

Der Bauer richtete sich in seinem Bett auf, stützte sich auf seinen rechten Arm und blickte durch das Fenster hinaus in die Morgendämmerung. Was thun? Sollte er zum Baron fahren und ihn zu versöhnen suchen? Das ging nicht, er hatte den Baron zu schwer beleidigt. Sollte er das ganze Erlebnis als eine Fügung Gottes hinnehmen und sich, froh der ihm gebliebenen Güter, geduldig von Haus und Hof treiben lassen? Gestern abend war ihm das so 82 selbstverständlich, so leicht erschienen – heute lehnte sich alles in ihm dagegen auf. Hatte der Baron das Recht, ihm den Weg zu verbieten? Nein, denn in dem Pachtvertrage war nur verabredet worden, daß der Bauer das Ei pünktlich am 23. April entrichten müsse. Diese Bedingung hatte er erfüllt, der Baron durfte ihm also den Waldweg nicht versperren. Durfte der Baron das Gesinde kündigen? Wezwagar hätte diese Frage gern verneint, aber er mußte sie doch bejahen. Der Baron hatte ihm das Gesinde immer nur auf ein Jahr verpachtet; es kam daher nur auf ihn an, ob er den Pachtvertrag verlängern wollte oder nicht. Nun war dem aber so nur in der Theorie, denn in der Praxis wurden die Waldburgschen Gesinde von ihren Inhabern nicht ohne Grund als auf ihre Lebenszeit gepachtet angesehen, da es noch nie vorgekommen war, daß der Baron einem Bauern, der tüchtig war und sein Gesinde in Ordnung hielt, das Pachtgeld erhöht oder ihm gar gekündigt hatte. So erschien der ganze Vorgang Wezwagar als eine empörende Ungerechtigkeit. Konnte aber eine Handlungsweise, die ungerecht war, zugleich gerecht sein? Vor Menschen ja, vor Gott nein. Vor Gott lag hier nur eine gen Himmel schreiende Ungerechtigkeit vor. Wie, wenn Wezwagar nun diese Ungerechtigkeit nicht menschlichen Gerichten, sondern Gottes Gericht zur Entscheidung vorlegte? Wenn er diese Entscheidung durch sein von Gott erleuchtetes Gewissen fällte und die Sentenz dann selbst vollstreckte?

Wezwagar stand wieder an dem Punkt, zu dem 83 er bereits gestern zu seinem Schrecken gelangt war. Er sprang mit einem Satz aus dem Bett und fuhr eilig in die Kleider. Seine Frau schien sein Aufstehen nicht zu bemerken und nach wie vor fest zu schlafen. »Gottlob, daß du dir wenigstens die Sorgen verschlafen kannst,« dachte er und eilte ins Freie. Er wollte sich die bösen Gedanken fortarbeiten.

Als er auf den Hof trat, schien es ihm, als ob ihn der Knechtsjunge, der, mit einem Pflug auf der Schulter, eben sein Pferd aus dem Stall zog, mit spöttischem Lächeln betrachtete. Peter hatte eben dem Braunen gegenüber einen Witz gemacht und lächelte nun für seinen Zuhörer; Wezwagar aber glaubte, der Junge habe wohl auch schon von dem Gerücht gehört, daß der Baron ihn geschlagen habe, und lache nun darüber. Das Blut stieg ihm heiß zu Kopf, er sagte aber nichts, sondern begab sich mit Pferd und Pflug auf das Feld und ackerte dort so rasch und sicher wie gewöhnlich. In seinem Innern aber wälzte er immer drei Fragen umher. Wenn er die Furche begann, dachte er: es wird sich schon noch ein Ausweg finden lassen und alles gut werden; wird es nicht gut, so ist das auch kein Unglück, meinte er, wenn er sich in der Mitte des Feldes befand; wenn er den Graben erreicht hatte und sein Pferd auf dem Feldrain umwandte, schrie alles in ihm nach Rache.

Die Frühstücksstunde war längst herangekommen, aber der Knecht und der Knechtsjunge warfen heute vergeblich fragende Blicke auf ihren Herrn, der, mit raschen Schritten hinter seinem schweißtriefenden 84 Pferde einherschreitend, seine Furchen so tief und regelmäßig zog, als ob er eben mit der Arbeit begonnen hatte.

Endlich sagte der Knecht: »Wirt, es ist Frühstückszeit!«

»Gut,« erwiderte Wezwagar, spannte sein Pferd aus und ging mit den Leuten nach Hause. Dort begrüßte er sein Weib kurz und zerstreut, nahm schnell und schweigend sein Frühstück ein und ging dann sofort in den Stall. Er holte aus diesem ein anderes Pferd und ackerte wieder so rasch und regelmäßig, wie sein Geist die Fragen erwog, auf die er keine entscheidende Antwort fand. Er hatte heute keinen Sinn für den blauen Frühlingshimmel über ihm, den Vogelgesang, der vom Walde her zu ihm herüberschallte, und das üppige Grün der prächtig gedeihenden Winterfelder.

So bemerkte er auch das seltsame Gespann nicht, das auf dem vielerwähnten Waldwege daherkam. Es war ein jämmerliches Fuhrwerk: das Pferd rauhhaarig, klein und entsetzlich mager, das Angespann geflickt und zerrissen, der Wagen auf unbeschlagenen Rädern, die sich mit lautem Quieken um die Achsen drehten. In diesem Wagen saßen Breede und seine Frau.

Als Breede Wezwagar erblickte, wandte er sich zu seiner Frau und jammerte: »Erbarme dich, was wird er sagen?«

»O er weiß ja von nichts,« erwiderte die Frau, »und mit deiner Schwester werde ich reden. Sie ist 85 eine kluge Frau und wird verstehen, daß man Unglück haben kann.«

»Ach du mein lieber Gott! Erbarme dich! Erbarme dich!« jammerte Breede, ohne näher anzugeben, worüber seine Frau sich erbarmen sollte.

»Sei nur guten Mutes,« tröstete diese, »Wezwagar weiß von nichts.«

»Aber wenn er doch schon darum wüßte?« fragte Breede und zog die Zügel an. Der Gaul blieb sofort stehen und suchte mit der weit vorgestreckten Oberlippe das Gras am Rande des Grabens zu erreichen; die Bäuerin aber riß ihrem Mann ungeduldig die Peitsche aus der Hand und schlug so derb auf das Tier los, daß es, für einige Augenblicke wenigstens, in eine Art Trab verfiel.

Je näher das Gefährt Wezwagar kam, umsomehr fiel Breede in sich selbst zusammen. Auch seiner Frau schlug das leichtlebige Herz schneller, denn sie hatte vor dem Schwager gewaltigen Respekt.

Wezwagar bemerkte den Wagen, der schon seit einer Weile in seiner Nähe hielt, erst, als ein unbestimmter jammernder Ton, den Breede ausstieß, sein Ohr erreichte. Er hielt nun sein Pferd an, stützte sich auf seinen Pflug und sagte: »Willkommen!«

Die Schwägerin sprang mit einem Satz aus dem Wagen, ihr Mann folgte ihr langsam.

»Das ist doch einmal köstliches Wetter!« rief Frau Breede und schüttelte dem Schwager die Hand. »Wie die kleinen Lerchen da oben jubilieren und wie warm das Sonnchen scheint! Wir werden im Herbst eine 86 Ernte haben, die wir kaum in zwei Wintern werden ausdreschen können!«

Der Mann blickte unterdessen unverwandt auf Wezwagar, zog mit der rechten Hand an den Fingern der linken, bis sie knackten, und hob bald den einen bald den anderen Fuß.

»Ach du lieber Gott,« begann er jetzt, »wie ist der Weg hierher schlecht! Ach, mein armes Pferdchen hat uns kaum hierher bringen können. Es ist ja freilich auch nur armer Leute Pferd und bekommt Hafer nicht zu sehen. Ach, und im Herbst wird es nicht einmal Mehl bekommen können, denn wenn das Wetter so trocken bleibt, wird man ja die Sommerfelder gar nicht bestellen können. Ach du lieber Gott! Erbarmt Euch, Schwager, erbarmt Euch!«

»Fahrt nur voraus,« bat Wezwagar, »ich folge euch sogleich.«

Es war, als ob Breede jetzt das ärgste Kanonenfieber hinter sich hatte. Er kletterte rasch in den Wagen, zerrte unbarmherzig an den Fahrleinen, schwang die Peitsche und schrie: »Noh! Ach du Litauer! Ach du verdammter Litauer! Ach du Judenpferd! Warte, ich will dich lehren!«

Das Pferdchen nahm denn auch schließlich Vernunft an und setzte sich, wenn auch nur langsam, in Bewegung.

»Was mögen die nur wollen?« dachte Wezwagar, als er, nachdem er sein Pferd ausgespannt hatte, ihnen folgte. Daß die Breedes immer nur kamen, wenn sie ein Anliegen hatten, wußte er. Der Schwager 87 verstand es eben gar nicht, sich selbst zu helfen. Wezwagar hatte bisher immer nur mit verächtlichem Mitleid an diese Thatsache gedacht; jetzt ging ihm der Gedanke durch den Kopf, daß er sich zur Zeit in derselben Lage befand. Es fiel ihm ferner ein, daß er seinen Schwager gestern nicht gesehen hatte. Aber das war ja bei der Aufregung, in der er sich selbst befunden hatte, natürlich genug. Überdies ging ihm der Schwager, wenn er irgend konnte, aus dem Wege – »wie die Dummheit dem Verstande«, hatte Wezwagar bisher gesagt.

Unterdessen hatten sich die Gäste mit Frau Wezwagar, die, sobald sie dieselben gewahr wurde, gleichfalls Schlimmes ahnte, auf das herzlichste begrüßt.

»Nein, wie ihr hier hübsch wohnt!« rief die Schwägerin. »Ich glaube nicht, daß es in der ganzen Hauptmannschaft, ja im ganzen Gottesländchen noch ein Gesinde gibt wie eures. Man glaubt wahrhaftig, man käme auf einen Herrenhof! Was habt ihr für Gebäude! Was für Dächer!

Die Worte der Schwägerin zerrissen das wunde Herz der jungen Bäuerin nur noch mehr; sie fühlte aber, daß noch ein Unglück im Anzuge war und daß sie aller ihrer Kraft bedürfen würde, um es ertragen zu können. Sie hielt sich daher gewaltsam aufrecht.

Als sie ihre Gäste ins Zimmer geführt hatte, sagte sie gerade heraus: »Ich sehe aus Jakobs Gesicht, daß euch ein Unglück zugestoßen ist. Was ist es?«

»Ach Gott, Schwesterchen, erbarme dich, ein 88 schweres, schweres Unglück! Nun ist alles aus und wir sind ganz verloren!«

Die Bäuerin stand fest und ruhig da. »Ihr habt das Pachtgeld verloren?« sagte sie.

»Nicht verloren, Schwesterchen, nicht verloren – wer wird denn Geld verlieren? – nein, nur verlegt. Es wird sich gewiß noch finden, noch vor Sonnabend finden.«

»Ach du mein lieber Gott, wie soll es sich finden? Erbarme dich, wie haben wir es gesucht! Das ganze Haus haben wir durchsucht und den ganzen Stall und die ganze Kleete (Vorratshaus) und den Hof haben wir durchharkt, aber es war alles vergebens. Man sieht, es ist Gottes Wille, daß wir Bettler werden und mit dem weißen Stabe durch das Land sollen.«

»Ach, geh doch! Wie kann man so thöricht reden! Wo kann es denn geblieben sein? Man verliert doch nicht Geld? Ich sage dir, noch vor Sonnabend wird es sich finden.«

»Ach du mein lieber Gott! Erbarme dich, wo soll es sich finden? Im Sande ist es geblieben, im bösen, gelben Sande, in dem auch unsere Felderchen geblieben sind und unsere Wiesen. Da wird es liegen bis zum jüngsten Gericht.«

Breede schien eine Art Trost darin zu finden, daß die Ersparnisse seiner Schwester so sicher angelegt waren.

Diese saß wie gebrochen da. Es war ihr zu Mut wie der Birke, die man mit dem Stumpf herausheben 89 will, um die man einen Graben gezogen hat, und der eine unbarmherzige Hand nun eine Wurzel nach der anderen durchhaut. Diese beiden Tage nahmen ihr das eigne Heim und das Vaterhaus.

An dem Zaune steht die Weide,
Unter ihrem Schatten wuchs ich.
Als man mich zur Fremde führte,
Brach der Sturmwind ab die Weide,

klang es in ihr wieder.

»Liebes Schwesterchen,« begann unterdessen die Schwägerin und umfaßte die junge Frau zärtlich, »glaube ja nicht, daß uns irgend welche Schuld trifft. Als ihr vorgestern fortfuhrt, wollte ich noch auf einen Augenblick hinüber zu Butte. Die Wirtin hatte mir Wolle versprochen, und ich wollte sie mir abholen, um die Woche über tüchtig arbeiten zu können. Ich hatte mir das Geld hinter das Busentuch gesteckt, wo es ganz sicher war; als ich es aber am Abend hervorholen wollte, war es fort. Es kann aber gar nicht verloren sein, es wird sich gewiß noch finden. Man darf nicht gleich verzagen, man muß Vertrauen auf Gott haben.«

Wezwagar, der in diesem Augenblick ins Zimmer trat, hörte die letzten Worte der Schwägerin. »In welchem Anlaß ist wieder einmal Gottvertrauen nötig?« fragte er. »Ist euch abermals ein Stück Vieh erkrankt, so daß ihr es notwendig schlachten und aufessen mußtet?«

»Nein, lieber Schwager,« erwiderte die Schwägerin rasch, »unser Vieh ist ganz gesund, und es geht uns auch sonst vortrefflich.«

90 Frau Wezwagar saß mit in den Schoß gefalteten Händen still da. »Sie haben das Pachtgeld verloren,« sagte sie jetzt und sah ihren Mann an mit einem Blick voll Jammer und Qual.

Die Schwägerin wurde feuerrot, Breede kratzte sich den Kopf und blickte ängstlich zu Boden.

»Seid ihr denn ganz toll!« brauste Wezwagar nach alter Art auf. »Geht ihr so mit dem schwer verdienten Geld um, das euch gute Menschen schenken? Habt ihr nicht verdient, daß man euch mit Schimpf und Schande von Haus und Hof jagt, euch leichtsinniges Volk!«

»Ach du mein lieber Gott! Es ist Gottes Wille, daß wir aus unserem Gesinde müssen. Wer will sich ihm widersetzen?«

»Scheltet mich allein, Schwager! Jakob ist an allem ganz unschuldig. Ich bekam das Geld und ich habe es verloren oder richtiger verlegt, denn es muß und wird sich ja noch finden. Findet es sich aber nicht, so ist das ganz meine Schuld.«

Die Schwägerin erwartete, daß Wezwagar abermals aufbrausen würde; er schwieg aber und blickte nur finster vor sich nieder. Bei den Worten der Verwandten war ihm der Gedanke gekommen, daß er sich ziemlich in derselben Lage befand wie sie. Sie hatten das Geld nicht gebracht, er das Ei nicht, dafür mußten sie nun alle aus den Gesinden. Und doch oder vielmehr gerade deshalb lehnte sich sein innerstes Empfinden gegen die Möglichkeit auf, daß er das Unglück nun ebenso als Gottes Willen hinnehmen 91 sollte, wie sein tief verachteter Schwager. Breede war wirklich im Unrecht, er in seinem Recht. Mit ihm sollte darum der Baron einen schwereren Stand haben.

Breede bat Wezwagar, er möge sich doch für ihn bei dem Baron verwenden, und erschrak nicht wenig, als er erfuhr, daß sein Schwager sich selbst mit dem Herrn überworfen hatte. Er bat dann, man möge doch wenigstens ihn und seine Familie, die nach sechs Wochen ihr Gesinde verlassen müßten, in die Badstube aufnehmen. Als Wezwagar versprach, seine Bitte zu erfüllen, war er ganz glücklich. Seine Frau fand sogar ihren Humor wieder. »Von uns wird es jetzt auch heißen:

Hirten, treibt heim nun!
Schon dampft das Essen!
Drei Hundefüße,
Ein Welpenköpfchen,«

sang sie.

Als die Gäste am Abend davon fuhren, hatte Wezwagar einen Entschluß gefaßt. Er wollte zunächst zur Stadt, um von einem Sachverständigen zu erfahren, ob seine Sache rechtlich ganz aussichtslos war. 92

 


 


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