Theodor Hermann Pantenius
Im Gottesländchen
Theodor Hermann Pantenius

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Achtes Kapitel.

Der Graf ritt am folgenden Morgen sofort nach Campbellshof, um den Arzt über den Zustand der Gräfin zu befragen. Dieser gab nur schlechten Trost: es sei leider nicht unmöglich, ja nicht einmal ganz unwahrscheinlich, daß bei der Gräfin ein zwar ungefährliches, aber langwieriges und schmerzliches Übel in der Entwicklung sei. Die Patientin müsse jedenfalls nach jeder Richtung hin sorgsam geschont und vor jeder Anstrengung oder Aufregung behütet werden. »Na ja, letztere ist freilich in diesem Falle nicht zu befürchten,« fügte der Doktor lachend hinzu. »Ich wüßte wahrhaftig nicht, worüber Ihre Frau Gemahlin sich aufregen sollte.« Der Graf dankte dem Doktor, bat ihn um Entschuldigung, daß er ihn hatte wecken lassen, und ritt davon. Bald nahmen ihn die Tagesgeschäfte so in Anspruch, daß er darüber die traurigen Aussichten für den Gesundheitszustand seiner Frau vergaß. Auch zu Hause hatte er nicht die Zeit, mit der Familie zu frühstücken, und mußte sich schließlich in aller Hast umkleiden, um nur rechtzeitig an der Mittagstafel erscheinen zu können. Er war müde 302 und hatte in hohem Maße das Bedürfnis sich zu zerstreuen.

Als er den Speisesaal betrat, trat Alice auf ihn zu. »Ich muß Ihnen, Herr Graf,« sagte sie, »für die freundliche Vermittlung des hübschen Geschenkes danken, durch das Ihre Frau Gemahlin mich in so liebenswürdiger Weise überrascht hat.«

Der Graf blickte mit großem Wohlgefallen auf ihr durch eine gewisse Schüchternheit noch verschöntes Gesichtchen herab. »O bitte, mein Fräulein,« erwiderte er, »ich verdiene Ihren Dank nicht. Das Kleid kommt ja nicht von mir, sondern von meiner Frau, und ich werde überdies für meine geringe Mühe schon dadurch belohnt werden, daß ich künftig meine Spazierritte in Ihrer Gesellschaft werde machen können. Du wirst ja leider in diesem Sommer jedenfalls auf das Reiten verzichten müssen, Ina.«

»Allerdings. Fräulein Heinersdorf hat übrigens keine Ursache, damit unzufrieden zu sein, da auf diese Weise meine Stute frei wird.«

»O bitte, gnädige Frau! Ich würde es nie wagen, Ihre Stute zu besteigen. Es war, denke ich, von einem ehrwürdigen alten Herrn, einem Schimmel, die Rede, wenn ich nicht irre.«

»Ein solcher ist allerdings vorhanden; aber nehmen Sie das Anerbieten meiner Frau nur an, der alte Herr wird Ihnen hoffentlich bald gar zu sanft erscheinen. Aber wir werden ja sehen. – Friedrich, sage dem Reitknecht, er möge für das gnädige Fräulein den Schimmel und für mich den Wallach satteln. Er 303 soll auch die Reitleine anlegen. – Ich bin überzeugt, mein Fräulein, daß Sie bald Lust am Reiten finden werden.«

Sobald die Tafel aufgehoben war, zog sich Alice zurück, um das Reitkleid anzulegen. Der Graf umfaßte seine Frau, küßte sie und fragte zärtlich: »Wie geht es, Ina?«

»Ich danke dir, ich fühle mich wohler,« war die Antwort.

Als die Pferde vorgeführt worden waren, ging die Gräfin, obgleich sie heftige Schmerzen hatte, mit den Kindern hinab in den Hof und sah zu, wie diese die Pferde mit Brot fütterten, das sie ihnen auf der flachen Hand reichten. Der Graf hatte den Schimmel in der ersten Zeit ihrer Ehe geritten, und er erinnerte die Gräfin an manchen köstlichen Abend. »Es möge kommen, wie es wolle,« dachte sie, »die Erinnerung an mein früheres Glück kann mir wenigstens niemand rauben.« Als aber jetzt Alice erschien, frisch und reizend wie eine Rosenknospe, als die Kinder, hingerissen von dem Liebreiz, der auf ihr lag, auf sie zueilten, sie umfaßten und ausriefen: »Nein, wie sind Sie reizend, Fräulein,« als selbst der Stallknecht sie anglotzte wie ein höheres Wesen – da lohte in Frau Ina die Eifersucht so jäh und wild auf, daß sie sich umwandte und rasch ins Haus schritt.

Der Graf begegnete ihr im Vorsaal. »Wohin?« fragte er, »du mußt doch mit ansehen, wie die Kleine ihren ersten Reitversuch macht.«

Die Gräfin eilte schweigend an ihm vorüber. Der 304 Graf blickte ihr einen Augenblick verwundert nach und folgte ihr dann. »Beste Ina,« sagte er, »fühlst du dich wieder unwohler?« Die Gräfin sank in einen Sessel, beugte ihren Kopf herab auf den Tisch und brach in Thränen aus.

Der Graf biß sich auf die Lippen, aber er beherrschte sich: Ina war krank. »Ich will Fräulein Heinersdorf sagen, daß du dich nicht wohl fühlst, und will bei dir bleiben,« sagte er freundlich und wandte sich zum Gehen.

»Ich bitte dich, thue es nicht. Ich flehe dich an – reitet!«

Der Graf ergriff ihre Hand. »Laß mich bei dir bleiben,« bat er.

»Nein, nein, nein! Auf keinen Fall! Ich bitte dich, reitet nur.«

Der Graf wandte sich rasch um und ging. Diese Nervosität, dieses ganz unmotivierte Pathos war unerträglich.

Als er den Hof betrat, glättete sich seine Stirn. »Was für ein reizendes Mädchen,« dachte er. Als er Alice in den Sattel geholfen und sie gelehrt hatte, wie ihr Händchen die Zügel halten müsse – es ließ sich dabei nicht vermeiden, daß er das Händchen auch berührte – war jeder Mißmut von ihm gewichen.

»Jetzt reiten wir anfangs ein wenig Schritt,« sagte er, als sie sich in Bewegung gesetzt hatten, und amüsierte sich über den Ausdruck kindlichen Vertrauens und harmloser Wißbegierde, mit dem Alice zu ihm aufblickte, »nachher reiten wir dann nur kurzen 305 Galopp. Das ist für den Anfänger die bequemste Gangart.«

So geschah es. Sobald sie den Park hinter sich hatten, gingen die Pferde in Galopp über. Alice wunderte sich selbst darüber, daß sie so mutig war; aber sie hatte das Gefühl, daß ihr in der Gesellschaft des Grafen unmöglich etwas zustoßen könne.

Der Graf seinerseits blickte mit Behagen auf das junge Mädchen. »Die wird mit der Zeit eine tüchtige Reiterin werden,« dachte er und freute sich schon darauf, wieder einmal in Gesellschaft einer Frau einen tüchtigen Ritt machen zu können.

»So,« sagte der Graf, als sie den Wald erreicht hatten, lächelnd, »erschrecken Sie nicht, ich werde meinen Arm um Ihre Taille legen, damit Sie nicht herabfallen; wir wollen doch wieder etwas Schritt reiten.«

Er zwang sein Pferd an das ihre heran, umfaßte sie und zügelte die Tiere. Als er sie so umfaßt hielt, lächelte er, während die Berührung durch seinen Arm in Alice ein wunderbares Gefühl wachrief, über das sie selbst erstaunte. Ihre Bewegung entging dem Grafen nicht, und er amüsierte sich darüber wie ein Mann, der als Knabe eifrig den Krammetsvögeln nachgestellt hat und nun im späteren Alter, da ihn die Drosseln nichts mehr angehen, eine solche in die Schlinge gehen sieht. »Es ist gut, daß wir uns erst jetzt begegnet sind,« dachte er, »vor einem Dutzend Jahren wäre ich kein Kumpan für dich gewesen.«

Der Abend war wundervoll. Die Birken dufteten, 306 die Vögel sangen, ein leiser Wind trieb den beiden die milde, weiche Frühlingsluft ins Gesicht.

»Sie sind wohl ganz in der Stadt erwachsen?« fragte der Graf.

»Ja. Ich bin aber eine leidenschaftliche Freundin der Natur.«

»Wie gewöhnlich die Städterinnen. Lassen Sie den Zügel nur loser – so – aber Sie haben doch auch schon auf dem Lande gelebt?«

»Ja, ich habe meine Ferien bei den Grandenschen verlebt. Der Grandensche ist ein Bruder meiner verstorbenen Mutter.«

»Granden ist ein hübsches Gut? Nicht wahr?«

»Es ist hübsch gelegen, aber das Wohnhaus ist recht alt und verfallen, und für den Garten kann mein Onkel nicht viel thun. Mein Onkel ist nicht reich – er hat, als mein armer Vater Berghof verkaufen mußte, viel verloren.«

Alice sah sehr traurig aus, als sie diese Worte sprach. Beides, ihre Trauer und ihr Vertrauen zu ihm rührten den Grafen. Er wußte, daß der alte Heinersdorf das Vermögen seiner Frau und das ihrer sämtlichen Verwandten in kürzester Frist und auf die schnödeste Weise verschlampt und verspielt hatte, wie er denn auch jetzt noch jeden Kopeken, den er sich irgendwie und irgendwoher verschaffen konnte, in Speise und Trank umsetzte, die er heimlich, aber doch nicht ganz allein genoß, aber darum rührte ihn der »arme Vater« nur um so mehr.

307 »Sie haben wohl eine recht schwere Jugend verlebt?« fragte er weiter.

»Ja und nein. Zu Hause war es oft recht einsam, und wir mußten uns ja sehr einschränken – Papas Rente ist nur klein, und das Leben in der Stadt ist jetzt sehr teuer – aber ich habe doch auch viele Freundinnen gehabt, und mein guter Papa hat alles gethan, um mir eine frohe Jugend zu verschaffen. Und dann –« hier sah Alice den Grafen voll an – »Armut schändet nicht, und unser Wappenschild ist rein und unbefleckt.«

»Du liebe Seele,« dachte der Graf, »wenn du wüßtest, daß deines Papas ›Rente‹ in dem Gelde besteht, das er sich zu Johannis als ›Bruder‹ zusammenbettelt; daß alles, was er für dich gethan hat, darin bestand, daß er deinen Verwandten erlaubte, für dich zu sorgen; daß niemand dein Wappenschild annähme, auch nicht einmal die, die überhaupt keins haben!« Als der Graf ferner daran dachte, daß sie das doch einmal erfahren könnte, fühlte er, wie sich sein Herz mitleidig zusammenzog.

Diese Gedanken gingen dem Grafen durch den Kopf; er sagte aber nur: »Gewiß, mein Fräulein.«

»Diejenigen, die nicht adlig sind,« fuhr Alice fort, »behaupten wohl, der Adel sei zu nichts da, als um seine Träger hochmütig zu machen. Sie irren. Das Bewußtsein, aus einer Familie entsprossen zu sein, deren Glieder durch so viele Jahrhunderte immer ehrenhaft handelten, gewährt eine kräftige Stütze. Ich kann mir nicht denken, daß zum Beispiel jemand, der 308 Heinersdorf heißt, je unedel handeln könnte. Ich denke mir, daß schon unser Name hinreicht, um jede Versuchung von uns fern zu halten.«

Dem Grafen war die Wendung, die das Gespräch genommen hatte, unendlich peinlich. »Sie haben ganz recht, liebes Fräulein,« sagte er rasch, »aber man muß den Wert der Familientradition auch nicht überschätzen. Ausschlaggebend sind denn doch die persönlichen Eigenschaften des einzelnen. Wenn es Ihnen übrigens recht ist, so kehren wir jetzt um.«

Auf dem Rückwege fragte der Graf nach Alices Schulfreundinnen, nach den Familien, in denen sie verkehrt, endlich auch nach den jungen Leuten, mit denen sie getanzt hatte. »Ich muß doch herausbekommen,« dachte er, »ob die Kleine schon verliebt ist.« Seine freundliche Art bewirkte, daß Alice das Herz aufging. Sie erzählte lebhaft und gestikulierte dabei so sehr, daß sie fast vom Pferde gefallen wäre. Es war ihr eine Wohlthat, endlich einmal wieder so recht von der Leber weg plaudern zu können und sie fühlte sich dem Grafen gegenüber schon ganz vertraut. »Nein,« dachte der Graf, »sie hat noch nie geliebt; glücklich der Mann, für den einmal dieses Herz in Liebe erglühen wird.«

Als sie im Schloßhofe vom Pferde stiegen, hatten beide das Gefühl, einen schönen Abend verlebt zu haben. »Wir müssen recht oft spazieren reiten,« sagte der Graf.

»An mir soll es nicht fehlen,« erwiderte Alice lachend.

309 Der Graf begab sich zu seiner Frau. Ihm war frisch und fröhlich zu Mute, aber diese Stimmung verließ ihn, nachdem er eine Weile bei ihr zugebracht hatte. Frau Ina hatte vom Weinen gerötete Augen und verhielt sich, wie er fand, sehr teilnahmlos. Er sprach von diesem und jenem, aber sie ging auf kein Gespräch recht ein. Es war das ja natürlich, denn sie war krank, aber es war nicht gerade sehr unterhaltend. Der Graf verstummte endlich auch, und beide saßen schweigend nebeneinander. Der Graf war sehr müde, und im Zimmer war es sehr still, so sann er denn erst darüber nach, wovon er wohl seine Frau unterhalten könnte, dachte dann an das Gespräch mit Alice und an den alten Heinersdorf, und träumte endlich, daß er mit Alice nach Nowaja Derewnä (einem Ort bei Petersburg) ritt. Sie saß auf einem wunderschönen, schneeweißen Zelter, und alle Spaziergänger blieben stehen und blickten ihr nach.

Plötzlich fuhr er zusammen und erwachte. Die Gräfin lag noch immer auf der Couchette und hatte die Augen geschlossen. Sie hatte, gottlob, offenbar gar nicht bemerkt, daß er eingeschlafen war. Er erhob sich leise und ging auf den Zehen der Thür zu. Dort wandte er sich noch einmal um und blickte zurück. Die Gräfin bewegte kein Glied.

Er ging hinaus.

Und doch hatte Frau Ina alles gesehen. Ach, und wie gesehen! Georg schlief in ihrer Gesellschaft ein!

310 Der Graf war am folgenden Tage in Hallermünde und kehrte erst kurz vor Tisch nach Hause zurück. Er hatte dort endlich den längst erwarteten Boniteur vorgefunden und ihn – da der folgende Tag ein Sonntag war – mit nach Rotenhof genommen.

Herr Schwäberle war ein kleines altes Männchen mit kurzgeschnittenem grauem Haupthaar, das er von Zeit zu Zeit durch eine jähe Handbewegung aufwärts strich, einer ungeheuren Habichtsnase und kleinen Äuglein, die unter buschigen Augenbrauen klug und aufmerksam in die Welt blickten. Man schätzte den alten Mann, der schon lange im Lande war, ebensosehr um seiner Kenntnisse als um seines liebenswürdigen bescheidenen Wesens willen allgemein, und er konnte sicher sein, auf jedem Edelhof, den er betrat, willkommen zu sein.

Als sie über den Hof fuhren, gewahrte der Graf, daß auf demselben ein Campbellshöfsches Reitpferd hin und her geführt wurde. »Ist der alte Herr gekommen?« rief er dem Reitknecht zu.

»Nein, der junge Herr,« war die Antwort.

»Ah, Paul.« Nun, der kam diesmal zur rechten Zeit. Der Graf wußte, wie sehr seine Frau an ihrem Bruder hing.

Als der Gast in sein Zimmer geführt worden war, eilte der Graf, die Geschwister aufzusuchen. Er war noch durch ein Gemach von dem traulichen Raume getrennt, in dem Frau Ina in gesunden Tagen einzelne liebe Gäste zu empfangen pflegte, als er eine sehr wohlklingende sonore Stimme mit 311 ausgesprochenstem russischen Accent rufen hörte: »Was soll ich dir sagen? Ich sage dir, es war herrlich, wundervoll!«

Der Graf blieb unwillkürlich einen Augenblick stehen und lauschte lächelnd.

»Ich kann dir gar nicht sagen, wie dankbar ich dem Baron bin, der mir den Urlaub verschaffte und wie ich voll Dankbarkeit bin gegen den Höchsten – natürlich – der mir Gesundheit verlieh und Kraft und Jugend – Jugend, Ina – Duschinka – diese herrliche Jugend – und wie ich Papa vergöttere, daß er mir das Geld gab und wie ich Mama anbete – ja wahrhaftig – tschestnoje blagorodnoje Slowo (auf adliges Ehrenwort) anbete, daß sie auf mich verzichtete.«

»Guten Tag, Paul!« sagte der Graf und trat ins Zimmer.

»Guten Morgen, Georg, mein lieber, lieber Georg!« Der Baron fiel dem Grafen um den Hals und küßte ihn erst auf die Wange und dann die üblichen drei Mal auf den Mund.

Der Baron war ein sehr schöner junger Mann, sehr lang, sehr schlank, sehr blond, mit ungemein edel geschnittenen Gesichtszügen. Er trug die Interimsuniform seines Regiments.

»Nun, wie verlief die Reise?«

»Was soll ich dir sagen? Wenn ich sage unbeschreiblich herrlich, so ist das viel zu wenig.«

»Das freut mich aufrichtig; aber bitte, nimm doch wieder Platz.«

312 Der Baron nahm seinen Platz neben Frau Ina wieder ein, umschlang sie und küßte sie mehreremal. »Ich kann dir nicht sagen, Duschinka, wie sehr ich mich darauf gefreut habe, dich wieder zu sehen. Nein, wie wundervoll traulich ist es bei euch – und dich auch, mein Lieber. Bitte um etwas Feuer.«

Der Baron holte aus der hinteren Tasche seiner Uniform ein kleines silbernes Cigarettenetui hervor, setzte eine Cigarette in Brand und rauchte so schnell und hastig, wie man nur innerhalb der Grenzen des russischen Reiches raucht.

»Ich versichere euch, es war wirklich süperbe. Wien – gut – ich bin verliebt in Wien. Ihr wißt, ich liebe Piter (Petersburg) über alles – und Paris – aber ich bin verliebt in Wien. Diese Fiacres, diese Kunstschätze, diese Kirchen! Und dann die Berge! Ich bitte euch – die Alpen! Das ist – was soll ich sagen? Das ist gefrorener Granit! Zum Beispiel das Salzkammergut! Ischl – erbarmt euch – oder Hallstadt – das ist nun schon gewiß ein Reiz!«

»Ja, es ist hübsch da. Warst du auch auf dem Schafberge?«

»Wie denn – wie denn – Duschinka. Ich ritt in Gesellschaft von einem österreichischen Kameraden hinaus, dem Fürsten Felix Wolkenstein. Die österreichischen Kameraden waren sehr liebenswürdig – wenn man Offizier ist, findet man überall Bekanntschaft. Ich traf ihn ganz zufällig in St. Gilgen. Ich sehe, ich sehe – ein junger Mann mit 313 Schnurrbärtchen und so eine gerade Haltung, und ich denke – wo habe ich ihn schon gesehen? Da kommt er auf mich zu – wahrhaftig – ganz von selbst und fragt: Ich habe die Ehre mit dem Baron Campbell zu sprechen? – und gibt mir seine Karte. Nun, natürlich, der bin ich. Also ich lese die Karte: Fürst Felix Wolkenstein. Also ich: ich bin sehr erfreut, mon prince, durch den Zufall.«

»Hattet ihr einen schönen Sonnenaufgang?«

»Herrlich, himmlisch! Was soll ich dir sagen? Ganz wie aus einem Bilde von – na, wie heißt er gleich – von – Calame. Ich bitte euch – es war zum Beten! Ich zündete mir eine Cigarette an – bitte um etwas Feuer – und dachte: wie groß ist der Höchste! Man hätte einen Nihilisten dort hinstellen müssen auf den Schafberg! Oder eine Nihilistin. Was die Canaille wohl gesagt hätte? Was meinst du, Inachen, mein Seelchen?«

»Ich meine, daß du dich eines recht kräftigen Ausdrucks bedientest.«

Der Baron lachte mit seinem sonoren wohlklingenden Lachen. »Was willst du? Wir Reiteroffiziere« – hier ließ der Baron die Sporen klingen – »nehmen es damit nicht so genau. Nicht wahr, Georg?«

»Hm – ja!«

»Ach, es ist doch herrlich« – hier umfaßte der Baron mit beiden Armen die neben ihm Sitzenden und preßte die sich ein wenig Sträubenden an sich – 314 »so jung zu sein und so kräftig zu sein und ein Reiteroffizier zu sein! Ach, ich bin so froh darüber, so froh!«

Der Diener meldete, daß angerichtet sei, und man ging zu Tisch. Während man sich in das Speisezimmer begab, preßte und küßte der Baron seine Schwester noch in einer Weise, daß ihr alle Glieder wehe thaten.

Der Baron wurde Alice vorgestellt und mit Herrn Schwäberle bekannt gemacht. Beide bekamen eine formelle Verbeugung.

Im Rotenhof warteten die Diener nicht auf. Sie brachten, wenn nicht gerade zahlreicher Besuch war, die Speisen nur herein, stellten sie vor die Hausfrau auf den Tisch und entfernten sich dann, um nicht durch ihre Gegenwart die Unterhaltung zu genieren.

»Entschuldigen Sie, daß ich nicht weiter reiche,« sagte der Baron zu dem neben ihm sitzenden Herrn Schwäberle, indem er den Teller, den ihm seine Schwester reichte, vor sich hinstellte, »allein es wäre unhöflich gegen die Hausfrau.«

Herr Schwäberle beantwortete diese Belehrung mit einem freundlichen Grinsen.

»Fräulein Heinersdorf,« wandte der Baron sich nun an Alice, die er bisher in sehr ungenierter Weise durch sein Lorgnon angestarrt hatte, »es gibt auch eine altadlige Familie Ihres Namens.«

»Das Fräulein gehört dieser Familie an, lieber Paul,« sagte der Graf lächelnd.

315 Alice errötete über und über. »Allerdings!« antwortete sie scharf.

Der Baron fuhr zurück. »Ah so! Merci – Pardon, mein Fräulein!«

»Wann kommen Papa und Mama?« fragte die Gräfin.

»Papa und Mama? Wann sie kommen? Gleich nach Tisch. Weißt du – ich bin kaum eine Stunde bei ihnen gewesen. Es war eine wunderbar herrliche Stunde, aber ich ließ gleich satteln; ich hatte solche Sehnsucht nach dir. Was soll ich sagen – bis zum ›ich kann nicht mehr‹.«

»Kamst du über Berlin zurück?«

»Ich – nein, wahrhaftig nicht. Ich bitte dich, was soll ich in Berlin? Berlin ist wie Moskau, das sind große Dörfer. Erbarmt euch, was soll ich in Berlin?«

»Nun, darüber könnte dich dein Nachbar aufklären. Herr Schwäberle ist ein Berliner.«

Der Baron fuhr wieder zurück und betrachtete jetzt seinen Nachbar ebenso erstaunt, wie vorhin Alice. In beiden Fällen gebärdete er sich wie ein Naturforscher, der ganz unerwartet auf eine neue und interessante Spezies stößt.

»Ah, Sie sind ein Berliner? Pardon, mein Herr, aber ich liebe Berlin nicht. Ich liebe Petersburg, ich liebe Paris, ich liebe Wien – aber ich liebe Berlin nicht. Wissen Sie, Berlin ist nicht mein Genre. Nein, auf Ehrenwort nicht. Aber Sie – 316 Sie sind ein Berliner, und Sie können jetzt auf dem Lande leben?«

»O, gewiß. Und ich fühle mich noch dazu sehr wohl dabei.«

»Nicht möglich! Ich begreife euch nicht, ihr Herren. Ich versichere euch, ich verstehe euch nicht, Ina, Georg. Daß der arme Landedelmann auf dem Lande lebt – gut – ich begreife das – mon dieu, c'est son métier! – aber ihr! Erbarmt euch! Du Ina, ich will nichts sagen, du bist bei Hofe gewesen in Stuttgart; nun das ist nichts, das ganze Königreich Württemberg ist, glaube ich, nur ein Zehntel so groß wie das Gouvernement Kursk; aber du, Georg! Mein Gott, das muß ja ganz fürchterlich sein hier unter dem Landadel.«

»Nun, Brüderchen, es ist nicht so schlimm. Verlaß dich darauf, wir Landedelleute sind gar nicht solche Buschklepper, wie du zu glauben scheinst.«

»Ich bitte, ich bitte, ich nehme euch aus, versteht sich, aber diese engen Begriffe, diese Vorurteile! Zum Beispiel, ich fuhr in der Nacht mit einem Baron Wächter zusammen. Ein ganz vernünftiger Mann, ja sogar ein ganz kluger Mann. Kennt Petersburg, Paris, Wien – London sogar. Er kommt aus Dresden. Ich frage ihn, was er dort gemacht hat. Er hat seine Söhne dorthin gebracht. Ich bitte euch, was hat ein Russe seine Söhne ins Ausland zu bringen? Da ist das Pagenkorps, da ist die Rechtsschule, wozu hat er sie nach Dresden zu bringen?«

317 »Er wird ihnen wohl eine deutsche Erziehung haben geben wollen.«

»Das ist es eben. Das ist eben das Vorurteil. Und er war sonst ein ganz verständiger Mann.«

Es war die Zeit der schärfsten politischen und nationalen Gegensätze. Der Adel des Landes hatte sich mit steigendem Widerwillen durch die Regierung und eine einsichtsvolle Partei von Reform zu Reform drängen lassen und wollte nun durchaus nicht weiter; die rückläufige Bewegung der griechisch-orthodoxen Letten, die leidige Zeitungspolemik, die Bockschen Broschüren und die Adresse der livländischen Ritterschaft waren vorhergegangen. Alice hatte den Baron mit steigendem Unwillen betrachtet. Sie hatte gehofft, der Graf oder selbst die Gräfin würden gegen ihn auftreten, aber der erstere schwieg, weil er im konkreten Falle wie sein Schwager dachte und die letztere, weil sie dem Bruder nicht gleich am ersten Tage widersprechen wollte.

Da lief Alice die Galle über. »Vielleicht hat der Herr deutschen Jünglingen auch eine deutsche Erziehung geben wollen, um zu verhüten, daß sie einst fahnenflüchtig werden,« sagte sie.

Der Baron fuhr zurück, setzte sich sein Lorgnon wieder auf und zeigte Alice ein Gesicht, auf dem deutlich »du Unverschämte« zu lesen stand. Er dachte das auch, begnügte sich aber mit einer Verbeugung und einem höhnischen: »Ich danke für die Belehrung.«

318 Auf der Stirn der Gräfin zeigte sich ein leichtes Rot. »Fräulein Heinersdorf, bitte, binden Sie doch Erna die Serviette um,« sagte sie.

Alice waren die Thränen nah, aber sie war doch mit sich zufrieden. Der Graf kam ihr zu Hilfe. »Da hast du es,« sagte er zu seinem Schwager. »Wer läßt dich auch die leidige Politik in die Familie hineintragen. Erzähle uns lieber von deinem Wien.«

Der Baron ging auf den Vorschlag ein, nahm sich aber vor, der »impertinenten kleinen Person« einmal den Standpunkt klar zu machen. Diese Rachepläne verhinderten ihn indessen nicht, wieder ganz der begeisterte deutsche Jüngling zu werden. Als, noch während man bei Tisch saß, eine wandernde Truppe Prager Musikanten vor dem Fenster eine Polka anstimmte, tanzte er sogar mit Erna und Eleonore und verfiel dadurch auf den Gedanken, seine Schwester darum zu bitten, daß sie für übermorgen ihm zu Ehren einen kleinen Ball arrangieren möge. Frau Ina wollte anfangs nicht recht daran, fügte sich aber endlich, die Prager wurden engagiert und in aller Eile und unter vielem Scherzen und Lachen eine Liste der Einzuladenden entworfen. Die alten Campbells fanden bereits eine Thatsache vor.

Als die Campbells am Abend aufbrachen, trat Baron Paul auf Herrn Schwäberle, der sich bis dahin in seiner bescheidenen Weise mit diesem oder jenem über landwirtschaftliche Dinge unterhalten hatte, zu, reichte ihm die Hand und sagte: »Wenn ich Ihnen 319 in Petersburg irgendwie gefällig sein kann, so wenden Sie sich nur an mich.«

Der Alte blickte ihn verwundert an. »Ich danke Ihnen, Herr Baron,« erwiderte er, »ich wüßte aber freilich nicht, in welcher Angelegenheit ich Ihre Hilfe in Anspruch nehmen könnte.« 320

 


 


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