Theodor Hermann Pantenius
Im Gottesländchen
Theodor Hermann Pantenius

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Drittes Kapitel.

Der Graf hatte kaum ein paar Stunden geschlafen, als die Strahlen der aufgehenden Sonne ihn weckten. Die Gräfin liebte es nicht, daß die Rouleaux oder gar die Vorhänge an den nach Osten gehenden Fenstern ihres Schlafzimmers herabgelassen wurden, und der Graf hatte sich um so mehr diesem Wunsche angepaßt, als er selbst gewohnt war, mit der Sonne aufzustehen. Er kleidete sich rasch an und eilte hinaus in den lachenden Sommermorgen. Es war, als ob die Erinnerungen, die ihn in der Nacht so beunruhigt hatten, vor den Strahlen der Morgensonne dahinschwanden, wie die leichten Nebelwolken über den Wiesen. Es blieb von ihnen nichts zurück als ein Gefühl körperlichen Druckes auf dem Herzen hier, als zahllose funkelnde Tautropfen da.

Das laute bunte Treiben des großen Herrenhofes nahm den Grafen bald ganz in Anspruch. Er verließ sich weder auf die höheren Wirtschaftsbeamten, noch auf Kutscher oder Viehpfleger, sah überall selbst nach, ordnete selbst auch das Kleine an. Der Graf war immer ein bildschöner Mann, aber er war nie 212 so schön, als wenn er so in der Frühe des Sommermorgens, in kurzer grauer Joppe, hohen Stiefeln und mit einem kleinen schirmlosen Mützchen auf dem blonden Lockenkopf auf seinem Hofe herumhantierte. Für jeden hatte er ein paar freundliche Worte, und selbst die, auf die er heißblütig losfuhr, waren ihm nie länger als für einen Augenblick böse. Die Frauen zumal waren von der alten »Hofmutter« bis zum jüngsten Gänsemädchen herab im Grunde alle in »unseres Grafen« lachende blaue Augen, seinen kirschroten Mund und sein keck nach oben gedrehtes Schnurrbärtchen verliebt.

Nachdem der Hof inspiziert war, stieg der Graf zu Pferde und ritt erst auf dieses, dann auf jenes Vorwerk, dann zur Brennerei, an der gebaut wurde, dann zur neu errichteten Mühle und so fort. Überall mußten Auskünfte verlangt, Anordnungen getroffen werden; der Graf kam, wie man zu sagen pflegt, kaum zur Besinnung. Es ging zu wie gestern und vorgestern und wie alle Tage, seit der Schnee geschmolzen war; neu war nur der leise seltsame Druck, den der Graf auf dem Herzen fühlte. Er wollte nicht an ihn denken; aber er fragte sich, während der Baumeister ihm auseinandersetzte, warum er an dieser Stelle das Fundament des Anbaues um einen Fuß tiefer habe legen lassen, ob dieser Druck mit der gestern empfangenen Nachricht zusammenhänge, und er sann, während der Müller ihm schlagend nachwies, daß er noch einen Mühlstein haben müsse, über dieselbe Frage nach. Er sagte sich, während er anordnete, daß man der 213 kranken Kinder von Jakob Brandwien wegen nach dem Arzt schicken solle, daß er diese Frage gar nicht aufwerfen dürfe; aber er bemerkte, daß er mitten unter Anordnungen über den Ort, an dem künftig der Klee zum Grünfutter geschnitten werden sollte, über sie nachsann. Sie trat erst in den Hintergrund, als er nach Hause zurückkehrte, und seine Töchter ihn jubelnd willkommen hießen.

»Guten Morgen, Papa! Heute kommt die neue Gouvernante.«

»Guten Morgen, mein liebes gutes Väterchen! Heute kommt Fräulein Heinersdorf. Nicht?«

»Ja wohl, ja wohl, und sie bringt jeder von euch einen Sack Pfeffernüsse mit.«

Jedes ergriff nun eine Hand des Vaters, und so gingen alle vom Stalle dem Wohnhause zu.

»Papa, wie sieht die neue Gouvernante aus? Ist sie hübsch?«

»Papa, ist Fräulein Heinersdorf blond oder brünett?«

»Das will ich euch sagen. Fräulein Heinersdorf ist –«

»Wie alt ist sie, Papa? Siebzehn Jahre? Was?«

»So hört doch nur! Fräulein Heinersdorf ist eine Dame von zweiundvierzig Jahren. Sie hat –«

»Nein, Papa. Mama hat uns gesagt sie sei noch ganz jung. Erzähle ordentlich, Papa!«

»Sie hat rote Haare, einen so breiten Mund wie du, Erna – das heißt, von einem Ohr bis zum andern – und im ganzen nur sieben Zähne. Sie 214 hinkt etwas, weil sie einen Plattfuß hat, und hört auf dem einen Ohr gar nicht und auf dem anderen nur halb.

Der Jubel war endlos, und der Graf hatte alle Mühe, sich der ausgelassenen Mädchen zu erwehren, »Wartet nur, ihr albernen Dinger,« sagte er, »Fräulein Heinersdorf wird euch schon Mores lehren!«

»Sie wird uns Moritz lehren!« hieß es nun. Die drei lachten schließlich so laut, daß die Gräfin auf die Veranda trat.

»Dachte ich es mir doch,« rief sie, mit dem Finger drohend, »daß der Herr Papa wieder da ist! Da gibt es gleich einen Lärm, daß man es über den ganzen Hof hört.«

»Das geschah heute unwiderruflich zum letztenmale,« erwiderte der Graf, »von heute abend an kommen die Füllen unter Zaum und Sattel.«

»Ich fürchte, daß, wenn du dabei bleibst, die Zügel nicht allzu scharf angezogen werden,« war die Antwort. »Aber nun hört auf, Mädchen! Wenn ihr euch einlacht, so gibt es den ganzen Tag über kein Aufhören.«

Der Graf trat auf seine Frau zu, um sie zu umarmen, begnügte sich aber plötzlich damit, einen heißen Kuß auf ihre Hand zu drücken.

Die Gräfin blickte ihn verwundert an. »Nun,« sagte sie lachend, »was sind denn das für neue Manieren?« Sie schlang ihre Arme um seinen Nacken, blickte ihn schelmisch an und sagte: »Haben 215 wir einen kleinen Katzenjammer, Monsieur? He? Haben wir einen?«

»Wahrhaftig nicht, Ina. Im Ernst, ich habe gestern so gut wie nichts getrunken.«

»Hm, hm!« meinte diese. »Warum fährt man dann plötzlich in der Nacht auf und ruft: ›Unsinn, Unsinn!‹ Warum thut man das, Herr Graf?«

»Weil man Bier getrunken hatte und infolge dessen unruhig träumte. Darum thut man das, Frau Gräfin.«

Sie lachten, küßten sich und gingen auseinander, da mehrere Personen auf den Grafen warteten. Dieser begab sich in sein Arbeitszimmer; aber er war sehr zerstreut, so daß die Leute, die mit ihm verhandelten, verwundert dreinschauten. Sie waren gewohnt, daß der Graf eben so aufmerksam zuhörte als klar sprach.

Nach Tisch forderte der Graf seine Frau auf, ihn auf einem Ritt zum Förster zu begleiten. Die Gräfin erklärte sich bereit, und sie ritten bald dem Walde zu. Der Grauschimmel der Gräfin ging wie immer in einem leichten, nicht allzu raschen Trott; der neue Hengst des Grafen aber hatte sich an diese sanfte Gangart noch nicht gewöhnt und drängte ungestüm vorwärts. »Wollen wir nicht ein etwas rascheres Tempo einschlagen?« fragte der Graf.

»Nein, ich danke. Du weißt, ich liebe es nicht, rasch zu reiten.« Der Graf schwieg und suchte seinen Hengst zu bändigen. Das Tier wurde aber immer unruhiger.

216 »Du mußt künftig, wenn Du mit mir reitest, wieder die Stute nehmen,« sagte die Gräfin. »Die hat sich ganz gut in meinen »Alteherrentrab« gefunden.«

»Es ließe sich doch auch denken, daß ich den Hengst nehme und wir rascher reiten,« erwiderte der Graf.

Der Ton, in dem diese Worte gesprochen wurden, verletzte die Gräfin. Sie trieb schweigend ihr Pferd an und ritt im Galopp weiter.

»Pardon, Ina,« bat der Graf, der neben ihr blieb, und ergriff ihre Hand.

Die Gräfin ließ ihr Tier sofort wieder in die gewohnte Gangart übergehen.

»Was willst du nur, Georg?« fragte sie. »Du thust, als ob ich heute zum erstenmale in diesem Tempo ritte. Ich bin seit zehn Jahren nie anders geritten, oder richtiger, seit ich überhaupt reite, denn meine Eltern haben es ganz mit Recht immer für unschicklich und unschön gehalten, daß eine Dame im Galopp einhersprengt.«

»Du hast ganz recht,« erwiderte der Graf und fuhr sich mit der Rechten über die Stirn; »doch du hast auch nicht recht. Ich habe eine Dame gekannt, das heißt, ich habe Damen gekannt, die gern im Galopp ritten und dabei doch nichts Unschickliches oder gar Unschönes thaten – aber einerlei. Nochmals entschuldige. Ich werde künftig die Stute nehmen.«

217 Die Gräfin hielt und blickte ihren Mann verwundert an.

»Liebster Georg,« sagte sie, »du hast gewiß gestern Unannehmlichkeiten gehabt. Ich bitte dich, vertraue dich mir an.«

Der Graf suchte sie zu beruhigen, aber es gelang ihm nicht ganz. Sie sprachen nun von gleichgültigen Dingen, aber ihre Gedanken waren nicht bei ihren Gesprächen. Die Gräfin dachte darüber nach, was nur die Seele ihres Mannes bewegen möge, und der Graf bewachte einen Gedanken, ein Bild, das immer wieder in ihm auftauchen wollte, und das niederzuhalten er fest entschlossen und ängstlich bemüht war.

Das Haus des Försters stand auf einer Lichtung im Birkenwalde. Es war ein langes schmales Gebäude, über dessen Thür ein riesiges Elengeweih seine gewaltigen Schaufeln ausbreitete. Einige Schritte davon, im Schatten zweier hochstämmiger Birken war eine Quelle zu einem Brunnen eingefaßt und neben ihr eine Rasenbank errichtet worden.

Als der Graf und Frau Ina vor dem Hause hielten, sprangen ihnen ein paar Dachshunde laut bellend entgegen, während aus dem Stall im Nebengebäude erschallende tiefere Stimmen verrieten, daß dort größere Hunde ihre Ferien verbrachten. Das Bellen der Hunde rief den Förster herbei, einen hünenhaften alten Mann mit einem Gesicht, das eben so breit als lang war, und einer Stimme, deren Klang einen Bären erschreckt hätte.

»Guten Abend, Herr Graf!« rief der Alte so 218 laut, als ob die Herrschaften noch einen Büchsenschuß weit von ihm entfernt gewesen wären. »Guten Abend, gnädigste Frau Gräfin! Danke für die Ehre. Hein–rich, Hein–rich – verzeihen Sie, aber das Luder ist natürlich wieder nicht da, wenn man ihn braucht, – Hein–rich!«

In der Thür des Nebengebäudes erschien ein langer semmelblonder Junge mit einem langen semmelblonden Gesicht und eilte, als er die Gruppe gewahr wurde, rasch auf sie zu.

»Nun, du Rammskopf,« rief der Förster, während der Junge dem Grafen die Hand und der Gräfin den Ärmel küßte, »hast du keine Löffeln? Der Herr Graf und die Frau Gräfin werden doch absteigen?«

Sie stiegen ab. Der Graf sprang zuerst aus dem Sattel und half dann der Gräfin aus demselben. Der Junge ergriff die Zügel der Pferde, nicht ohne zuvor von seinem Herrn ermahnt worden zu sein: »Daß du mir aber nicht wieder die Steigbügel auf den Sattel legst, du Schmaltier!«

Die Gräfin ging auf die Rasenbank zu und setzte sich.

»Förster,« sagte der Graf, »bringen Sie uns ein paar Stühle.«

»Lassen Sie es nur, ich bleibe hier auf der Rasenbank.«

»Aber, beste Ina – bringen Sie nur die Stühle – du könntest dich erkälten.«

»Nicht doch, ich danke dir, aber ich bleibe hier sitzen.«

219 »Aber warum – du siehst – da kommt der Alte schon.«

»Nun, Herr Leitmann, wie geht es?«

»Danke, Frau Gräfin, wie soll es gehen, immer munter. Aber wollen Sie nicht Platz nehmen?«

»Nein, danke, ich sitze schon. Haben Sie Nachrichten von Ihrer Tochter?«

»Aber wollen die Frau Gräfin nicht doch lieber einen Stuhl nehmen? Der Boden ist doch noch nicht ganz trocken.«

»Ich bitte dich, Ina, setze dich auf einen Stuhl.«

»Ich sitze ganz trocken. Ich fragte, wie es Ihrer Tochter geht, Herr Leitmann?«

Der Graf biß sich in aufsteigendem Zorn auf die Lippen, schwieg aber, und setzte sich nun auch auf die Rasenbank. Ist das nun weiblich, dachte er, so hartnäckig zu sein. Aber das ist so recht Inas Art. Ob ich wohl jene andere auch vergeblich um eine solche Kleinigkeit gebeten hätte?

»Danke für die Nachfrage,« erwiderte der Förster im breitesten Deutsch, »meine Tochter ist natürlich so lustig wie eine Ricke im August. Was fehlt ihr? Sie hat einen Mann, und es würde mir nicht wundern, wenn da bald auch ein Kleines wäre. Aber ich? Was mach' ich? Ich bin so allein wie der Birkhahn im Juli. Ich meine, der liebe Gott schießt mir bald ab. Ich meine, der Herr Graf würden damit auch ganz zufrieden sein. Nicht? Alte Hunde führt man nicht gern. Da hilft kein Majoran mit Butter. Die Nase ist weg. Ha, ha, ha!«

220 Der Graf fuhr aus seinem Nachdenken auf. »Was sagten Sie, Alter?« fragte er.

»Ich sagte, daß ich nun bald im siebzigsten Felde stehe, und daß der Herr Graf froh sein werden, einen im zwanzigsten zu bekommen.«

»Nein, Alter, das wäre ich gewiß nicht, wahrhaftig nicht. Aber – was ich Sie fragen wollte – wie steht es mit der Anpflanzung.

»Wie soll es damit stehen? Schlecht steht es mit ihr. Ich sagte es ja gleich, mit den Bauern geht es nicht. Wenn ein Bauer und ein Bulle nebeneinander stehen, stehen zwei Stück Vieh zusammen. Ein Bauer ist gar kein Mensch. Ich sag' Ihnen, Frau Gräfin, ich wollte lieber eine Kette Auerhühner beten lehren, als Bauern Bäume pflanzen. Früher, als man noch mit der Karbatsche über sie kommen konnte, da ging es noch; aber jetzt soll man ja zum Ochsen sagen: Hab die Freundlichkeit und geh links! Ha, ha, ha! Die Brotpeitsche kommt schon noch wieder! Oho, sie kommt schon noch wieder. Wer wird die Fichte mit dem Hammer fällen? Wer kriegt den Bauern mit Gefängnis klein? Er hat sein Heu, er hat seine Schlämpe, er schläft sich was und lacht den Hauptmann aus.«

Der Graf lachte. »Darüber sind wir verschiedener Meinung, Leitmann,« sagte er, indem er sich erhob und ein Papier aus der Brusttasche zog. »Da haben Sie die Wegroute. die Sie schlagen lassen müssen. Der Revisor kommt morgen früh. Ich bin fertig, Ina!«

221 Als der Graf und die Gräfin nach Hause zurückkehrten, erblickten sie – ihr Weg führte am Ufer des Stromes entlang – auf dem anderen Ufer den Schnellzug. Die Wagenreihe glitt rasch über die Fluren, donnerte über eine kleine Brücke und verschwand dann im Walde. Nur ein weißes Wölkchen, das rasch vorwärts schritt, deutete noch den Weg an, den der Zug nahm.

Die Gräfin seufzte. »Da kommt die neue Hausgenossin,« sagte sie. »Ich kann dir nicht sagen, wie unangenehm mir der Gedanke ist, daß unser schönes Alleinsein nun ein Ende haben soll.«

»Es handelt sich doch nur um ein blutjunges Mädchen,« meinte der Graf. »Wir hatten doch auch bisher schon die Bonne.«

»Lieber Georg, Annette war ein Dienstbote und störte als solcher natürlich nicht. Jetzt aber bekommen wir ein Fräulein ins Haus und noch dazu eine Standesgenossin.«

»Ach was, Standesgenossin! Gouvernante ist Gouvernante, sei sie nun bürgerlich oder adelig!«

»Du hast leicht guten Mutes sein, denn dich geht sie nichts an, ich aber muß ihr nun die richtige Stellung anweisen. Ich sehe ja ein, daß Mama recht hat, wenn sie verlangt, daß ich das gleich anfangs thun soll, aber mir ist gar nicht wohl dabei. Ich sage dir, als ich Johann befahl den Einspänner zur Bahn zu schicken, wurde mir heiß und kalt.«

»Aber, liebes Herz, warum thatest du es denn überhaupt?« fragte der Graf mißmutig. »Wir lassen 222 ja nicht einmal die kluge Frau in einem Einspänner holen.«

»Nein, nein, Georg, auf solche Kleinigkeiten kommt es eben an. Das Fräulein muß gleich anfangs gewahr werden, daß sie bei uns eine dienende Stellung einnimmt und keine Ansprüche machen darf. Nachher ist es zu spät.«

Der Graf war unzufrieden. »Das ist kleinlich,« sagte er.

»Laß mich nur gewähren,« erwiderte die Gräfin. »Vieles, was ihr Männer kleinlich nennt, ist für uns Frauen und schließlich auch für euch selbst groß und wichtig. Glaube mir, es wird mir schwer genug, so zu handeln, aber ich erkenne, daß es notwendig ist. Das Fräulein muß entweder von vornherein Gouvernante sein oder junge Dame, und so sehr ich ihr letztere Stellung gönnte, so ist für dieselbe in unserem Hause doch kein Platz.«

* * *

Der Zug hielt unterdessen an der Station.

»Campbellshof! Drei Minuten Aufenthalt! Bitte, Sie wollten nach Campbellshof,« rief der Kondukteur, indem er das Damencoupé zweiter Klasse öffnete. Das junge Mädchen, das sich allein im Coupé befand, faßte ein Köfferchen und einen Beutel mit der einen, ein Plaid und einen Schirm mit der anderen Hand und stieg mit Hilfe des Kondukteurs aus. Auf dem Perron herrschte für einen Augenblick ein wüstes 223 Gedränge. Herren, die aus dem Zuge sprangen, stürzten eilig in die Restauration; einige Juden zerrten große Packen hinter sich her aus den Waggons, während andere Hals über Kopf in dieselben kletterten; ein Herr, der hier einsteigen wollte, schrie nach einem Platz erster Klasse. Dann ertönte die Glocke zum drittenmale, alles eilte zurück in die Waggons, die Kondukteure schlugen die Thüren zu, der Lokomotivführer rief: »Alles fertig!« und pfiff. Der Zug setzte sich in Bewegung; der Bahnhofsinspektor, ein großer Mann mit einem weit herabwallenden schwarzen Vollbart und einem überaus stolzen Ausdruck im Gesicht ging ins Haus; die ausgestiegenen Juden hasteten davon und nach ein paar Augenblicken blieb niemand auf dem Perron zurück, als die junge Dame und ein schäbig aussehender Mann, der neben zwei Kisten und einem alten braunen Koffer stand.

Der Mann schnob sich mit Zeigefinger und Daumen die Nase, fuhr sich mit dem Ärmel über das Gesicht und kam dann auf das junge Mädchen zu.

»Das gnädige Fräulein wollen wohl auf den Hof?« fragte er.

»Nein, ich will nach Rotenhof,« war die Antwort. »Ist keine Equipage da?«

Der Mann schlurrte schwerfällig in das Bahnhofsgebäude und kam nach einigen Augenblicken mit der Nachricht zurück, daß kein Wagen da sei. Der Bahnhofsinspektor folgte ihm auf dem Fuße und trat mit militärischem Gruße an die junge Dame heran.

»Pardon, mein Fräulein,« sagte er, »ich höre, 224 daß Sie nach Rotenhof wollen. Es muß ein Mißverständnis vorliegen, wenigstens ist kein Wagen da; ich will aber, wenn es Ihnen recht ist, in den Hof schicken und den Herrn Baron um einen Wagen bitten lassen.«

»O, ich danke, Sie sind sehr freundlich, aber ich möchte Herrn von Campbell nicht bemühen. Der Wagen hat sich vielleicht nur verspätet und kommt noch.«

»Hm, hm! Sehr möglich. In der That. Allerdings. Erlauben Sie, daß ich mich Ihnen vorstelle: mein Name ist Sirius.«

Die junge Dame verneigte sich ein wenig, schwieg aber. Herr Sirius grüßte wieder militärisch und ging ein paarmal auf dem Perron auf und nieder. Der Koffer am Ende desselben sah, wie schon gesagt, alt und verbraucht aus, und die beiden Kisten hatten nach den Fakturen auch schon früher im kaufmännischen Verkehr Dienste gethan.

»Wer zum Kuckuck kann das bildhübsche Ding sein,« dachte der Inspektor und betrachtete den ungewohnten Gast mit verdoppeltem Interesse. Er konnte das thun, da die junge Dame aufmerksam über den Zaun des Bahnhofsgärtchens weg nach dem vom Strom heraufführenden Weg blickte. Sie hatte ein edles regelmäßiges Profil, volles dunkles Haar und dunkle Augen. Sie war fein aber für ihr zartes Alter voll gebaut; sie war endlich ordentlich und sauber, aber doch sehr einfach gekleidet. Herr Sirius warf die Frage auf, ob sie wohl adelig sei., und verneinte sie. Für ein Edelfräulein war sie zu füllig, die waren alle hager. Sie hätte eine Polin sein können, aber 225 sie hatte im reinsten Deutsch gesprochen. Wer, zum Kuckuck, war sie?

»Hm, hm! Waren das Fräulein schon einmal in Rotenhof?«

»Nein.«

»Hm, hm! Kennen das Fräulein den Herrn Grafen?«

»Nein.«

»O entzückender Mensch! Unser Graf! Wir nennen ihn alle ›unser Graf‹, weil wir ihn alle lieb haben. Ein herrlicher Mann! Wird Ihnen sehr gefallen. Nicht?«

Die junge Dame schwieg.

»Kennen das Fräulein die Frau Gräfin?«

»Nein.«

»O, auch sehr achtungswerte Dame. Wird allgemein sehr geachtet. Ist auch sehr schön. Eine sehr schöne Frau die Frau Gräfin Polderkamp, geborene Baronesse Campbell. Man findet das allgemein.«

Das junge Mädchen zog sein Taschentuch, fuhr sich damit über die Stirn und hielt es dann vor den Mund.

»Die Herrschaften haben auch zwei Töchter. Sehr hübsche kleine Mädchen. Hm, hm! Richtig, zwei Töchterchen. Entschuldigen Sie, Fräulein, aber wollen Sie vielleicht als Gouvernante nach Rotenhof?«

Auf der dem Frager zugewandten Wange der jungen Dame erschien ein allerliebstes Grübchen. Sie zog das Taschentuch vom Gesicht und lachte hell auf.

226 Herr Sirius fand, daß er noch nie ein so silberhelles Lachen gehört und nie weißere Zähnchen gesehen hatte.

»Ganz richtig, Herr Inspektor, ich will als Gouvernante nach Rotenhof.«

»O, ich gratuliere Ihnen von Herzen. Sie werden sich dort gefallen, mein Fräulein. Die Frau Gräfin ist zwar ein bißchen adelsstolz – Sie wissen bei den Tschernomoren (Spitzname für den Adel) geht es ohne Stolz selten ab, – aber doch nicht allzusehr, und der Graf ist es gar nicht. O, nicht im mindesten. Nein, es ist ein sehr anständiges Haus.«

Das Fräulein wurde durch diese Unterhaltung offenbar auf das höchste belustigt.

»Ein sehr anständiges Haus,« fuhr der Inspektor fort. »Ich muß Ihnen sagen, daß ich grundsätzlich nie einen Edelmann zuerst anrede – wer etwas auf sich hält, sollte das überhaupt nicht thun – man kann ihnen doch nie ganz trauen, nein – aber mit dem Grafen mache ich eine Ausnahme. ›Herr Graf,‹ sage ich, wenn er angefahren kommt, ›Ihr Diener!‹ Und er: ›Moien, Sirius‹! Und ich: ›Sie haben noch fünf Minuten Zeit, Herr Graf‹, oder zehn Minuten, oder fünfzehn, je nachdem. Dann sagt er: ›Na, viel zu thun?‹ Oder: ›Verdammt schlechtes Wetter heute!‹ Oder: ›Na, heute wärmt einmal das Sonnchen.‹ Ja, wir stehen auf ganz gleichem Fuße miteinander. Sehen Sie, Fräulein, gegen die anderen Barone bin ich grob, sobald ich es irgend sein kann – Sie wissen – von Standeswegen, – man muß etwas 227 auf sich halten – aber gegen den Rotenhofschen nie. Der Rotenhofsche ist eben ›unser Graf‹. Aber was ich sagen wollte: Haben Sie schon einmal konditioniert, mein Fräulein?«

Der Ausdruck »konditioniert« machte der Heiterkeit des jungen Mädchens ein Ende. Sie errötete bis an die Schläfen.

»Nicht? Nun, dann erlauben Sie mir wohl, daß ich Ihnen einige Ratschläge erteile. Sie müssen nämlich wissen, daß ich zwei Jahre Medizin studiert habe und dann selbst mehrere Jahre hindurch bei Tschernomoren Hauslehrer gewesen bin. Also: Begehren Sie gleich anfangs recht auf. Zum Beispiel: man stellt Ihnen zwei Lichte hin. Sagen Sie, daß Sie kurzsichtig seien und verlangen Sie drei. Oder: Sie haben sich Ihre Fettstiefel schmutzig gemacht – na, zum Kuckuck, Damen tragen übrigens keine Fettstiefel. Oder nein – doch – oder der Diener gießt Ihnen, wenn Besuch da ist und Wein getrunken wird, keinen ein, – das thun die Halunken manchmal, – nun dann stehen Sie auf und gehen auf Ihr Zimmer. Sie stehen auf und gehen auf Ihr Zimmer. Jetzt kommt der – aber mein Gott – was haben Sie, Fräulein?«

Das junge Mädchen hatte ihr Gesicht in das Tuch gehüllt und schluchzte still in dasselbe hinein. O Gott! Sie war im Begriff, in ein Verhältnis zu treten, in Bezug auf das man ihr solche Ratschläge geben konnte!

Lustiges Peitschenknallen und ein rasch vom Strome 228 heran rollendes Wägelchen machten der peinlichen Scene ein Ende. Der auf das äußerste erschreckte Herr Sirius war froh, versichern zu können, daß das eine Rotenhofsche Equipage sei. Das junge Mädchen fuhr sich mit dem Tuch über das Gesicht, schluchzte noch ein paarmal und eilte dann, ohne irgend auf die Entschuldigungen des Inspektors zu achten, durch das Bahnhofsgebäude ins Freie.

»Sind Sie der Kutscher aus Rotenhof?«

»Der Kutscher nicht, gnädiges Fräulein, aber der Stallknecht.«

»Einerlei – sollten Sie mich hier abholen?«

»Ja, gnädiges Fräulein. Nehmen Sie es mir nicht übel, daß ich zu spät komme – aber ich wurde auf der Fähre aufgehalten.«

»Schön. Können Sie meine Sachen alle mitnehmen? Es sind zwei Kisten und ein Koffer.«

Die Sachen werden morgen abgeholt werden.«

»Gut.«

Das junge Mädchen wies die Hilfe des Inspektors zurück und stieg rasch in den Wagen, ja es war so undankbar, daß es den Gruß des Herrn nicht einmal erwiderte. Dieser schien ihr das übrigens nicht übel zu nehmen. Er blickte dem Wagen lange nach und murmelte: »Hätten dem armen Dinge doch auch einen Jagdwagen schicken können. Aber das ist wieder so ein tschernomorischer Tick. Für uns bürgerliches Pack ist ein Einspänner gut genug. Armes Mädel, so jung schon unter die Tschernomoren gehen zu müssen.«

229 Herr Sirius setzte sich auf eine Bank und stellte nach längerem Nachdenken fest, daß das hübsche Mädchen, wenn es einmal Frau Sirius werden sollte, nicht mehr nötig haben würde, unter den Tschernomoren zu hausen. »Ich muß den Grafen warm halten,« murmelte er, als seine Schwester ihn zum Abendessen rief. 230

 


 


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