Theodor Hermann Pantenius
Im Gottesländchen
Theodor Hermann Pantenius

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Dreizehntes Kapitel.

An einem Sommerabend klopfte ein junger Kurländer spät abends an die Thür des Hotels in einem vielbesuchten Tiroler Dorf. Er hatte einen zehnstündigen Marsch über die Berge gemacht und war todmüde. Als ihm die Thür geöffnet wurde, hörte er in der dunkeln Vorhalle jemand im ausgesprochensten Dialekt seiner Heimat ausrufen: »Erbarme dich, ist das ein Schweinehund!« Froh, so unerwartet einen Landsmann gefunden zu haben, und durch die charakteristische Ausdrucksweise desselben höchlichst ergötzt, trat der Fremde näher. »Ich will Hans heißen, wenn Sie nicht der Doktor Berg sind!« rief er lachend. Der Angeredete, der bisher mit dem in demütiger Haltung vor ihm stehenden Wirt verhandelt hatte, wandte sich rasch um. »Guten Tag,« sagte er, »sind Sie ein Landsmann?«

»Jawohl. Erkennen Sie mich nicht?«

»Pfui, nicht die Spur. Es ist ja stockrabenfinster. Wer sind Sie?«

Der Fremde nannte seinen Namen.

403 »Na ja, wir kennen uns. Schön. Können Sie mir bis morgen abend fünfhundert Gulden geben?«

»Das nicht, aber dreihundert.«

»Danke. Hören Sie, Herr Mayr oder wie Sie Schwindler sonst heißen, ich lege noch bare dreihundert Gulden zu.«

»Ich wiederhole Ihnen, mein Herr, daß ich Ihnen die Erlaubnis nicht geben könnte, und wenn Sie mir dreitausend Gulden gäben. Ich habe schon sehr viele Engländer im Hotel und ich erwarte noch mehr. Ich würde sie alle verlieren.«

»Hol Sie der Teufel! Kommen Sie.« Der Doktor nahm den Arm des Fremden und stieg mit ihm die Treppe hinan. »Was haben Sie nur?« fragte dieser oben und blieb auf dem nur durch eine Öllampe spärlich erhellten Korridor stehen.

»Haben Sie schon Ihr Zimmer?« fragte der Doktor.

»Zwei Stiegen höher,« erwiderte der Wirt, der ihnen gefolgt war.

»Schön, kommen Sie.«

Sie stiegen noch zwei Treppen hinauf und betraten ein kleines Zimmerchen. Der Wirt steckte eine Kerze in Brand und fragte, ob die Herrschaften noch etwas wünschten. Der Fremde verlangte eine Flasche Wein. »Sie trinken doch mit?« fragte er.

»Na ja, meinetwegen.«

Als der Wirt das Zimmer verlassen hatte, fragte der Fremde wieder: »Was haben Sie nur, Doktor?«

Der Doktor ging mit schweren Schritten ein 404 paarmal auf und ab, schneuzte sich und fuhr sich mit seinem rotseidenen Taschentuch über die Augen.

»Kennen Sie die Rotenhöfsche Frau?« fragte er und blieb vor dem Fremden stehen. Das Licht der Kerze schien ihm hell ins Gesicht, das rot und entstellt aussah.

»Bester Doktor,« erwiderte der Gefragte, »es gab eine Zeit, in der ich von jeder –schen Frau wußte, wer sie war; aber ich bin so lange aus der Heimat fort, es sind mittlerweile so viele Rotenhöfsche Frauen Schwarzenhöfsche geworden und umgekehrt, und so viele junge Frauen an die Stelle ihrer Mütter oder Schwiegermütter gerückt, daß ich nicht mehr Bescheid weiß. Soviel mir erinnerlich ist, gehörte Rotenhof früher einem Polderkamp, der auf der Jagd verunglückte, und dieser hatte es von einem Fremden gekauft, Hamilton oder Douglas, was weiß ich.«

»Na ja, Campbell hieß er, und er hat es nicht verkauft, sondern seiner Tochter mitgegeben. Aber einerlei.«

Der Doktor machte wieder ein paar Schritte, setzte sich dann auf das Bett, stützte den Arm auf das Knie und legte den Kopf auf die Hand. »Die Sache ist die,« erzählte er. »Wir waren mit den alten Campbells, der Gräfin Polderkamp und den jungen Gräfinnen in Innsbruck. Von dort aus machten die Gräfin und ich einen Ausflug in die Berge hierher. Vor zwei Stunden ungefähr starb die Gräfin. Ich habe einen Boten auf die Telegraphenstation geschickt, aber sie können trotzdem nicht vor morgen 405 mittag hier sein. Nun verlangt dieser Hundesohn von einem Wirt, daß die Tote aus dem Hotel geschafft wird. Ich war so wütend, daß ich noch nicht begreife, wo ich die Selbstbeherrschung herbekam, ihn nicht zu Boden zu schlagen. Na ja! Wer will aber auch an einer Leiche Streit haben!«

Der Doktor warf sich auf das Kissen und schluchzte laut.

Der Fremde war tief erschüttert. »Aber, bester Doktor,« sagte er, »der Mann wird doch nicht verlangen, daß Sie die Tote ins Freie schaffen?«

Es währte eine Weile, bis der Doktor sich soweit gefaßt hatte, daß er antworten konnte. »Nein,« sagte er, »er will sie in eine Scheune bringen – mein Inachen in eine Scheune! Daß Gott erbarm – als ob sie in ihrem Leben nicht schon genug gelitten hätte!«

Der Fremde erbot sich, mit dem Doktor bei der Toten zu wachen. Der Doktor erhob sich, wischte sich mit dem Tuch die Thränen aus den Augen und sagte: »Kommen Sie, Sie sind ja ein Landsmann; gegen Sie wird auch Amalie nichts haben.« Sie stiegen langsam die knarrenden ächzenden Treppen hinab. Der Doktor öffnete in der ersten Etage eine Thür, und beide traten ein.

Eine große, finster blickende Frau trat ihnen entgegen.

»Der Herr ist ein Landsmann, Amalie,« sagte der Doktor lettisch, »und er wird uns helfen, der gnädigen Frau die letzte Ehre zu erweisen.« Der Name 406 des Fremden war Amalie bekannt. »Gottlob, endlich einmal einer von uns unter diesen Deutschen und Heiden!« rief sie ebenfalls lettisch.

Sie befanden sich in einem großen dreifenstrigen Zimmer. In der Mitte desselben stand ein Bett, und auf diesem lag, ganz in weiße Tücher gehüllt, die Tote. Rechts und links vom Kopfende des Bettes brannten auf kleinen Nachttischchen ein paar Kerzen. Das Gesicht der Toten trug einen unendlich vornehmen, edlen Ausdruck; der Fremde hatte nie ein schöneres Antlitz gesehen.

Es wurde leise an die Thür geklopft. Der Doktor öffnete, und der Wirt und sechs Kellner traten mit einer Tragbahre ein. Sie waren alle im Frack, aber sie hatten die Stiefel abgelegt.

Die Matratze wurde nun vorsichtig aus dem Bett gehoben und auf die Tragbahre gelegt. Amalie sprach ein kurzes lettisches Gebet, dann ging der Wirt mit zwei Lichtern voran, die Kellner hoben die Leiche auf, und der Zug bewegte sich langsam und unhörbar über den Korridor und die Treppe hinab über den Hof in einen scheunenartigen Raum, der im Winter, wenn das Hotel geschlossen war, als Tanzsaal diente. Der Wirt hatte das für die Musikanten bestimmte Podium in die Mitte des Saales rücken lassen, man holte auch das Bett herunter und stellte es auf die Erhöhung. Dann legte man die Tote auf das Bett und stellte kleine Tischchen, auf denen Kerzen brannten, rings um sie her.

Als alles fertig war, wollte der Wirt die Fenster 407 verhängen, aber Amalie stieß ihn zurück. »Die gnädige Frau schläft nicht bei verhängten Fenstern.« Der Wirt zuckte die Achseln und entfernte sich. Amalie verschloß hinter ihm die Thür, stellte eine Bank neben das Fußende des Bettes und setzte sich darauf. Dann öffnete sie das mitgebrachte Gesangbuch und sang langsam ein Totenlied nach dem anderen. Mitunter zitterte ihre Stimme, und manche Thräne rollte über ihre Wangen, aber sie hielt keinen Augenblick inne. Der Doktor und der Fremde hatten sich auf die Bank gesetzt, die an der Wand entlang lief, und flüsterten leise miteinander. »Weß das Herz voll ist, läuft der Mund über.« Der Doktor erzählte in jener Nacht dem Landsmann die Geschichte der Gräfin und ihres Gemahls.

»Und was wurde aus der Gouvernante?«

»Mein Gott, die arme Kleine war ja noch so blutjung. Sie hat nachher einen benachbarten Gutsbesitzer geheiratet, seinen Freund, und sie lebt glücklich mit ihm; aber ich glaube nicht, daß sie unseren Grafen vergessen hat. Mein Gott! Wer könnte das auch?«

Als die Sonne aufging, wurde an die Thür geklopft. Es war ein Telegramm aus Innsbruck eingetroffen. »Sie sind schon unterwegs, Amalie,« sagte der Doktor.

Der Fremde erhob sich. »Leben Sie wohl, Doktor.« Der Doktor umarmte ihn. »Leben Sie wohl,« erwiderte er und wandte sich ab. Amalie ergriff die Hand des Fremden und führte sie an ihre Lippen. »Mit Gott, Herr,« sagte sie, mit ihren Thränen 408 kämpfend. »Gott vergelte es Ihnen, daß Sie unserer gnädigen Frau die letzte Ehre erwiesen haben.«

Draußen glühten die Gletscher und der Schnee auf den Bergspitzen schon in rotem Licht, während über den Bergwäldern an den Halden und über dem Thal noch die Schatten der Nacht lagen. Der Fremde stieg lange bergauf. Da, wo der Pfad, den er verfolgte, das Thal verließ, blieb er stehen, wandte sich um und blickte nieder auf das Dorf tief unter ihm. Dort – dort unter den roten Stämmen der Kiefern neben dem weißen Hotel das dunkle Gebäude, das enthielt den Raum, in dem der Doktor und Amalie bei der Leiche der Gräfin wachten.

Rings um ihn blühten rote Alpenrosen und blauer Enzian, und dort an jenem Stein breitete auch ein Edelweiß die sammetweichen Zweiglein aus. Aus dem Thal erhob sich eine Lerche und flatterte singend höher und höher, bis sie hoch über dem Dorfe gleichsam still hielt.

Der Fremde hob seinen Stock, der ihm entfallen war, auf und wanderte weiter. Noch ein paar Schritte, und ein anderes Thal öffnete sich seinen Blicken; aber er hat jenes erste ebensowenig je vergessen wie die Geschichte von »unserem Grafen«.

 


 


 << zurück