Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Dreißigstes Kapitel

Die Teufelsmulde

Er setzte sich. In dem großen Saale herrschte Schweigen bis auf ein ganz leises Geräusch von der Galerie gleich einem unterdrückten Schluchzen.

Der Baron erhob sich hastig und verließ den Raum. Ihm folgten, einer nach dem anderen, die Pächter.

Endlich waren nur zwei zurückgeblieben: M'Adam, der einsam zwischen einer langen Reihe leerer Stühle saß, und am anderen Ende der Tafel Pastor Leggy, streng, starr, regungslos.

Als der Letzte den Saal verlassen, erhob sich der Pastor und schritt, die Lippen fest zusammengepreßt, durch das schweigende Gemach.

»M'Adam,« sagte er rasch, »ich hab' gehört, was Ihr vorhin sagtet, und, wie wir alle, glaub' ich, mit wehem Herzen. Ihr habt harte Schläge ausgeteilt, aber ich glaube, Ihr seid im Recht, und wenn ich meine Pflicht Euch gegenüber nicht erfüllt habe, so wie ich es hätte tun sollen – und ich fürchte, das war manchmal der Fall –, so ist es wenigstens jetzt meine Pflicht als Diener Gottes, Euch als erster zu erklären, daß es mir leid tut.«

Des Pastors Gesicht zeigte klar, was ihn seine Worte kosteten.

Der Kleine Mann stülpte seinen Stuhl zurück und hob den Kopf. Es war der alte M'Adam, der jetzt aufblickte. Die dünnen Lippen kräuselten sich, ein Grinsen kroch über das höhnende Gesicht, und er schüttelte langsam den Kopf, während er den Sprecher durch die Schlitze seiner halbgeschlossenen Augen musterte.

»Mr. Hornbut, ich glaub' gar, Ihr wart der Meinung, daß es mir ernst sei? Ich glaub' wahrhaftig!« Er lehnte sich in den Stuhl zurück und lachte leise. »Habt alles geschluckt wie beste Butter! Liebe Zeit, liebe Zeit! Wer hätte das gedacht!« Dann, sich vorneigend: »Mr. Hornbut, ich hab' mit Euch gespielt!«

Des Pastors Gesicht bot während dieser Worte einen häßlichen Anblick. Seine Hand schoß vor, um den Spötter am Rock zu packen; er ließ sie wieder sinken und wandte sich ab.

Als er die Tür durchschritt, schlich eine leise höhnende Stimme ihm nach:

»Mr. Hornbut, ich frage Euch, wie Ihr als Pastor der anglikanischen Kirche es mit Eurem Gewissen vereinbaren wollt, auch nur einen Augenblick anzunehmen, es könne in einem Menschen, der nicht zur Kirche geht, irgend etwas Gutes leben? Herr, Ihr seid ein Ketzer – um nicht zu sagen ein Heide!« Er kicherte in sich hinein, und seine Hand kroch langsam zu der halbleeren Weinkaraffe hin.

Eine Stunde später, nach Beendigung seiner geschäftlichen Unterredung mit dem Baron, nahm James Moore wieder seinen Weg durch die Halle. Ihr einziger Insasse war jetzt M'Adam. Der Großbauer schritt geradeswegs auf seinen Feind zu.

»M'Adam,« sagte er barsch und hielt ihm die sehnige Hand hin, – »ich wollte noch sagen –«

Der Kleine Mann schob dieses Zeichen der Freundschaft beiseite.

»Nein, nein, keine Heuchelei, wenn ich bitten darf, James Moore. Damit kommt Ihr vielleicht bei den Pfaffen weiter, nicht aber bei mir. Ich kenn' Euch und Ihr kennt mich, und sämtliche Tünche der Welt kann mich nicht täuschen.«

Der Großbauer wandte sich ab, das Gesicht hart wie ein Mühlstein. Doch der Kleine Mann ging ihm nach.

»Fast hätt ich was vergessen«, sagte er. »Hab' eine Überraschung für Euch, James Moore. Aber wie ich höre, ist Samstag Euer Geburtstag; ich werde sie mir bis dahin aufsparen, hihi!«

»Ihr werdet mich noch vor Sonntag wiedersehen, M'Adam. Am Samstag komm ich, wie ich Euch gesagt hab', um mich zu überzeugen, ob Ihr Eure Pflicht getan habt.«

»Ob Ihr kommt oder nicht ist Eure Sache, James Moore; ob Ihr, einmal dort, wieder weggeht, das werde ich entscheiden. Dies ist das zweite Mal, daß ich Euch warne.«

Der Kleine Mann lachte sein hartes gackerndes Lachen.

In der Hallentür stieß der Großbauer auf David.

»Jetzt kommst du heim mit mir und Andrew, Bub,« meinte er; »Maggie wird's mir nie verzeihn, wenn ich dich nicht mitbringe.«

»Vielen Dank, Mr. Moore«, entgegnete der Bursche; »ich muß erst zum Herrn Baron hinein; dann komm ich bestimmt nach.«

Der Großbauer zögerte einen kurzen Augenblick.

»David, hast du schon mit deinem Vater gesprochen?« fragte er mit leiser Stimme. »Ich meine, du solltest es tun.«

Der junge Bursche machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Ich kann's nicht«, erwiderte er ungeduldig.

»Ich tät's doch, Bub«, riet ihm der andere. »Tust du's nicht, wirst du es später bereuen.«

Als er sich zum Gehen wandte, vernahm er dumpfe zögernde Schritte, welche die Halle querten, und dann, aus der Leere, eine dünne ironisch herzliche Stimme:

»David, auf mein Wort! Der verlorene Sohn zurückgekehrt – hihi! Hast tatsächlich deinen alten Papa wiedererkannt – endlich, als letzten, wie sich's gehört bei seinem Vater – hihi! Freut mich wahrhaftig, dich wiederzusehen, Bub! Weißt noch, wie wir das letzte Mal beisammen waren? Kauertest mir mitten auf der Brust. ›Deine Zeit ist um, Vater‹, sagtest du und hautest mir eine ins Gesicht – hihi! Weiß es noch, als wär's erst gestern gewesen. Ja, ja, wollen kein Wort mehr darüber verlieren. Solch' kleine Unfälle kommen vor. Und wenn du auch das erste Mal nicht zum Ziele gelangt bist: na, dann probierst du's eben ein zweites Mal!«

Die Dämmerung ging in Nacht über, als der Großbauer und Andrew »Des Grenzers Tochter« erreichten, und die Nacht war längst gekommen, als sie die behagliche Wirtsstube wieder verließen und in das Dunkel untertauchten. Sie kreuzten die Silberne Lea und schritten über die wohlbekannte Arena, wo man vor vierzehn Tagen den Kampf um den Pokal ausgefochten; im nämlichen Augenblick sprang ein unruhiger böiger Wind auf.

»Der Wind bedeutet nichts Gutes«, meinte der Großbauer.

»Nein«, bestätigte sein wortkarger Sohn.

Den ganzen Tag über war kein Luftzug gegangen, hatte gefährliche Bläue vom Himmel gestrahlt. Jetzt stieg eine Welt der Finsternis am Horizonte auf und erwürgte die sternerhellte Nacht. Kleine schwarze Wolken lösten sich gleich Rauchwölkchen von dem Hauptkörper und jagten, eine Vorhut des Unwetters, stürmisch voran. Aus der Ferne klang dumpfes Donnergrollen gleich dem Rollen schwerer Kriegswagen über den Boden des Himmels. Überall in der Runde tönte hohl, wie eine mächtige Sichel im Korn, der Wind. Bleierne Schwärze lastete in der Luft – nirgends auch nur der matteste Lichtschimmer; und als sie den Paß emporklommen, streckten sie blinde Hände aus, sich an den Felswänden entlangzutasten.

Kühler nasser Seenebel senkte sich hernieder. Dann fielen die ersten schweren Regentropfen. Jäh sprang eine Bö auf und stürmte brausend an ihnen vorbei; im nächsten Augenblick öffneten sich die Schleusen des Himmels sperrangelweit.

Naß und müde erkämpften sie sich ihren Weg und dachten dabei an die gemütliche Gaststube, die sie hinter sich gelassen und an das Heim, das ihrer wartete; an Maggie, ob sie wohl in glattester Auflehnung gegen ihres Vaters Geheiß noch aufsäße, um sie zu begrüßen, und an Old Bob, ob er ihnen entgegenkäme.

Windstöße knatterten an ihnen vorbei wie eine Artilleriesalve. Der Regen peitschte sie von oben, spie ihnen von den Felswänden ins Gesicht und sprang sie von unten an.

Einen Augenblick suchten sie in einem elenden Felsspalt Obdach, um auszuruhen.

»Das ist 'ne Nacht für den Würger!« keuchte der Großbauer. »Vermute, er ist unterwegs.«

»Vermute, ja«, antwortete der Bursche atemlos.

Höher und höher stiegen sie empor in die Finsternis, blind, von allen Seiten zurückgeschlagen; rechts und links endloser Donner und Regen, zu Häupten das Brüllen des Sturms und in der Tiefe das Brausen zorniger Gewässer.

Als das Unwetter einen Augenblick schwieg, wandte sich der Großbauer zurück in das Dunkel, das sie durchquert.

»Hast du was gehört?« schrie er, das gedämpfte Sausen des Windes übertönend.

»Nein«, brüllte Andrew als Antwort.

»Ich meinte, da wären Schritte.« Der Großbauer spähte hinab, den Weg, den sie gekommen.

Nichts zu sehen.

Wieder erwachte der Wind zum Leben, ein Riese, der sich aus dem Schlafe rüttelt, und erstickte alles mit seiner orkangleichen Stimme; da kehrten sie um und beugten sich abermals der selbstgewählten Aufgabe.

Nahe dem Gipfel wandte sich der Großbauer ein letztes Mal:

»Da war es wieder!« rief er, allein der Sturm riß seine Worte mit fort, und Vater und Sohn nahmen das Ringen von neuem auf.

Von Zeit zu Zeit schimmerte der Mond durch den zerwühlten Himmel. Dann sahen sie zu ihren Häupten die nasse Felswand, von deren schroffem Antlitz die Wasser stürzten, und weit unten zu ihren Füßen den speienden, brausenden, bräunlich verfärbten Gießbach des Passes. Kaum jedoch blieb ihnen Zeit, sich umzuschauen; schon zogen neue eifersüchtige Wolkenmassen herauf, und wieder umgab sie eine Welt des Dunkels und Tumultes.

Endlich erstiegen sie mit ihren letzten Kräften die Paßhöhe und betraten die Teufelsmulde. Dort warfen sie sich erschöpft der Länge nach zu Boden, um Atem zu holen.

Hinter ihnen jagte der Wind mit mürrischem Brausen den Hohlweg des Passes hinauf. Pfeifend und kreischend mit den Stimmen von zehntausend Teufeln zu Pferde sprengte er über sie hinweg und stieß dann heulend vor über die Marken.

Während sie keuchend dort lagen, strahlte der Mond in bleicher Anmut durch die Wolken hervor. Vor ihnen, halb verhüllt von dem peitschenden Regen, sahen sie, hexengleich, die niedrigen kauernden Hügel, die das Tal umschlossen, und tief in dessen Herzen, von tausend weißschäumenden Furchen durchzogen, den Einödssee.

Der Großbauer hob den Kopf und spähte hinab auf die geisterhafte Szenerie. Plötzlich stützte er sich auf die Ellbogen und verharrte so eine Weile regungslos; dann ließ er sich wie tot niedersinken und zwang auch Andrew mit eiserner Hand zu Boden.

»Bub, hast du das gesehen?« flüsterte er.

»Nein, was denn?«

»Dort, dort!«

Jedoch im nämlichen Moment trat ein Wolkenschleier vor den Mond und tauchte alles in Finsternis. Rasch zog die Wolke vorüber, und wieder erglänzte das nächtliche Gestirn. Und jetzt, wahrhaftig, sah Andrew, sah mit angespannten Sinnen:

Vor sich neben den unruhigen Wassern des Sees eine geschlossene Phalanx von Schafen, mit bebenden Flanken, die Köpfe alle in die nämliche Richtung gewandt. Regungslos, Entsetzen in den Augen, starrten sie wie gebannt; eine Dampfwolke stieg von ihren Leibern auf in die regengeschwängerte Luft. Zitternd und keuchend standen sie, die Rücken gegen den See, wie beseelt von dem Entschluß, ihr Leben teuer zu verkaufen.

Vor ihnen, keine fünfzig Meter entfernt, kauerte ein verkrüppelter Felsblock und warf einen langen entstellenden Schatten in das Mondlicht. Und unter ihm bewegten sich zwei dunkle Körper, der eine matt, wie in den letzten Zuckungen.

»Der Würger!« stieß der Bursche hervor und wollte in brennender Erregung vorstürzen, zu ihnen hin.

»Ruhig, immer ruhig, Bub!« beschwichtigte ihn der Großbauer und legte eine warnende Hand auf seine Schulter.

Über ihnen jagte in wildem Aufruhr ein Wolkenheer über den Himmel, und der Mond verschwand.

»Mir nach, Bub!« befahl der Großbauer und begann sich lautlos heranzuschleichen. Andrew folgte ihm, nicht minder behutsam. So krochen sie weiter über den durchnäßten Boden, einer hinter dem anderen, gleich zwei Hyänen der Nacht auf verbrecherischer Jagd.

Näher und näher glitten sie, regungslos, sobald ein Schimmer von Mondlicht fiel, im Dunkel sich weiterpirschend. Endlich erkannten sie am Aufprall des Regens auf dem Spiegel des Sees sowie am schluchzenden Schnaufen der Schafe, daß sie am Ziele waren.

Sie umgingen die zitternde Herde so nah, daß sie die äußersten Schafe streiften. Doch blieben sie unbemerkt, dank des verzehrenden Banns, den das entfesselte Drama über die Schafe geworfen. Nur wenn der Mond sich verhüllte, konnte Andrew ihr Stampfen und Drängen vernehmen, und sobald die Nacht sich erhellte, sahen sie die Tiere näher und näher heranrücken, um das blutige Schauspiel zu verfolgen.

So stahlen sich die beiden am Seeufer entlang. Und nach wie vor verbarg sie der willige Mond, und der trunkene Wind erstickte in lärmender Ausgelassenheit das Geräusch ihres Kommens.

Auf Händen und Knien krochen sie weiter mit stockendem Herzschlag und stoßweis gehendem Atem, bis sie plötzlich, als der Wind schwieg, unmittelbar vor sich das Schmatzen und Schlabbern blutiger Lefzen hörten.

»Jetzt ist's aus, Roter Will. Dein letztes Stündlein ist da!« murmelte der Großbauer; er hob sich auf die Knie und flüsterte Andrew ins Ohr: »Wenn ich vorspringe, Bub, folge mir nach!« Er plante, sobald der Mond vorträte, sich auf den mächtigen Hund zu stürzen, ihn bei seiner Orgie zu überrumpeln und mit einem einzigen vernichtenden Schlag dem verbrecherischen Treiben ein Ende zu machen.

Der Mond warf seinen Wolkenschleier ab. Bleich und kalt blickte er auf die Teufelsmulde hernieder – auf den Mörder und sein Opfer.

In Steinwurfweite von den Rächern hockte der schwarze Felsblock. An der Grenze des von ihm geworfenen Schattens lag das tote Schaf, und neben dem Kadaver, das Fell zerzaust von der Hand des Sturms, stand – Old Bob – Old Bob von Kenmuir.

Dann erlosch das Licht und Finsternis deckte das Land,


 << zurück weiter >>