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Achtzehntes Kapitel

Der schwarze Würger

Dies war nur das erste einer langen Reihe ähnlicher Verbrechen.

Wer nicht schon in einer öden Gegend wie in der Nachbarschaft der Moorspitze gelebt hat, in einem Landstrich, wo Schafe das ausschlaggebende Interesse bieten und jeder zweite Mann den Schäferberuf ausübt, kann sich unmöglich die Erregung vorstellen, die diese Ereignisse hervorriefen. Auf dem Marktplatz, im Wirtshaus, in den Bauernhöfen, überall gab es nur einen Gesprächsgegenstand: der letzte Schafmord und der noch immer unentdeckte Verbrecher.

Mitunter trat eine Pause ein, und die Schäfer atmeten auf. Dann kam wieder eine stürmische Nacht, in welcher der Mantel des Verbrechens den Himmel verhüllte und der Wind in angstvollen Stößen über See und Marken fegte und – sofort ward ein neues Opfer der wachsenden Liste der Morde hinzugefügt.

Stets waren es solche dunklen Nächte, Nächte des Windes und des Unwetters, in denen kein Mensch sich hinauswagte, die der Mörder für sein blutiges Handwerk wählte. So verdiente er sich seinen verhängnisvollen Namen: der Schwarze Würger. Auch heute noch bezeichnet man in den Grenzlanden eine stürmische, regenreiche Nacht als eine Nacht des »Schwarzen Würgers«, denn dann, heißt es, »geht sein Geist um«.

In der ganzen Gegend gab es kaum einen Hof, der nicht schon ein blutiges Siegel trug. Nur Kenmuir und der Kornhof blieben verschont, Rob Saunderson auf dem Holt und Tupper von Swinsthwaite: diese vier waren die einzigen.

Wenn von Kenmuir die Rede war, pflegte Tammas mit einem gewissen grimmigen Stolz zu erklären: »Er ist viel zu schlau, um sich blicken zu lassen, wo unser ›Alter‹ aufpaßt.« Worauf krampfhaftes, heimliches Gelächter M'Adam packte; wohl eine halbe Stunde lang saß er dort und rieb sich die Knie und kicherte irr in sich hinein. Und was das freundliche Geschick des Kornhofs anbetraf – nun, die Grenzleute behaupteten, auch das hätte seinen besonderen Grund.

Obwohl der Umkreis der Verbrechen sich vom Mitternachtssee bis zur Stadt Grammoch erstreckte, stieß man nirgends auf eine Spur des Täters. Der Würger verrichtete sein blutiges Werk mit einer Gründlichkeit und teuflischen Schlauheit, die jeder Entdeckung spotteten. Klar war nur, daß die verschiedenen Morde alle auf den nämlichen Ursprung zurückführten. Stets die gleichen, unverkennbaren Zeichen: ein einziges Schaf ermordet, seine Gurgel in blutige Fetzen zerrissen, die übrigen unberührt. Gerade diese seltsamen, sich gleich bleibenden Begleitumstände sowie die kaltblütige, berechnende Art des Verbrechens erregten das allgemeine Interesse. Ja, die Angelegenheit rief weit außerhalb der Grenztäler Empörung hervor.

In den Schäferei-Zeitschriften wurde jeder neue Mord getreulich verzeichnet und alle Einzelheiten genau angeführt. Im »Hügelland« entspann sich eine lange und hitzige Korrespondenz darüber; die Allgemeinheit neigte zur Ungläubigkeit. Die angeblichen Sachverständigen erklärten von vornherein die ganze Sache für einen Schwindel. Als diese Weltweisen sich dann widerstrebend überzeugten, daß die Verbrechen doch kein Mythos seien, wollten sie sich schier die Seiten halten vor Lachen angesichts der Behauptung – ausgegangen von James Moore und von Pastor Leggy und jedem Grenzbewohner unterstützt – daß der Schwarze Würger ein Schäferhund wäre.

Zum Schluß schrieb Pastor Leggy einen langen Brief an das »Hügelland«, in welchem er seine Annahme begründete. Allein der Herausgeber ließ sich nicht überzeugen. Er dankte zwar in einer Fußnote dem Pastor für sein »romantisches und interessantes Schreiben«, wies dessen Erklärung jedoch als ungeheuerlich zurück, »denn«, behauptete er, »noch nie ist uns ein derartiger Fall zu Ohren gekommen«.

Pastor Leggy war auch die Veranlassung, daß der Baron einen Bluthund kommen ließ, um den Würger in seinen Tod zu hetzen. Am Einbaumhügel zeigten sie ihm einen frisch getöteten Kadaver, und er nahm die Spur eine Strecke weit in Richtung der Moorspitze auf, verlor sie dann aber in einem kleinen aufdringlichen Bach und fand sie niemals wieder; später wurde er widerspenstig. Der Leiter der Grenzjagden lieh ein Paar seiner Fuchshunde her, die gleichfalls nichts ausrichteten. Jim Mason stellte ein, zwei schlauerdachte Fallen und erwischte nur seinen eigenen stummelschwänzigen Köter sowie eine ungeheure Gardinenpredigt von seiner Eheliebsten; Ned Hoppin wachte, Büchse in der Hand, über einem frisch getöteten Opfer, und Londesley von der Home Farm vergiftete einen Kadaver. Allein niemals kehrte der Würger zu seiner Beute zurück; frei zog er umher, trieb sein schändliches Gewerbe und spottete seiner Feinde.

Die Talbewohner tobten und schwuren ihm Rache; ihre Ohnmacht, ihre Mißerfolge und ihre Verluste peitschten ihren Zorn zur Raserei auf. Das Bitterste von allem war: obwohl sie den Schuldigen nicht zu entdecken vermochten, herrschte über seine Identität kaum mehr Zweifel.

Wieder und wieder fiel in heimlichem Konklave der Name des Schwarzen Würgers; wieder und wieder stieß der lange Kirby im Wirtshaus »Zum Grenzbock«, wenn er M'Adam und den »Schrecken« über die Hauptstraße marschieren sah, Jim Mason in die Rippen und flüsterte:

»Dort ist der Würger, Gott strafe ihn!« Worauf der praktische Jim auf die nämliche Art erwiderte:

»Ja, dort ist der Würger, aber wo ist der Beweis?«

Da lag der Hase im Pfeffer. Im ganzen Umkreis gab es kaum noch einen Menschen, der die Schuld des Schwanzlosen Köters bezweifelte, aber, wie Jim sagte, wo war der Beweis? Sie konnten nur immer wieder auf seinen rechtmäßig erworbenen Spitznamen hinweisen, beteuern, seine Wildheit sei rings in der Gegend sprichwörtlich geworden, berichten, wie er The Vexer und Van Tromp getötet hätte und ähnliche Dinge mehr. Sie betonten, daß er, obwohl ein prachtvoller Schäferhund, doch wegen seiner rauhen Behandlung des Viehs berüchtigt sei, und endlich bemerkten sie mit vielsagender Betonung, der Kornhof gehöre ja zu den wenigen Anwesen, die verschont geblieben wären: alles in allem Beweise, die, wie Pastor Leggy erklärte, nicht einmal genügen würden, einen Floh zu ersäufen, geschweige denn einen Schäferhund eines derartigen Verbrechens zu überführen.

Leicht möglich, daß Haß das Urteil der Grenzbewohner trübte; unter ihnen war keiner, der nicht schon an seiner Person oder an der seines Hundes die Spuren jenes ungeschlachten Wilden trug.

»Schaut einmal her«, schreit Saunderson und deckt an Sheps Gurgel eine klaffende Wunde auf; »das hat der ›Schrecken‹ getan – die Hölle soll ihn verschlingen!«

»Seht hierher«, fügt Tupper hinzu, und weist auf zwei unverheilte Narben an Raspers Hals.

»Meine Lassie hat er auch fast umgebracht«, brüllt Londesley.

»The Vexer hat er tatsächlich getötet!«

»Und Van Tromp auch!«

»Aber ich wette, meine alte Venus wird's ihm noch heimzahlen«, beteuert John Swan mit bitterem Vertrauen und holt jene ehemals schöne, lächelnde, jetzt aber bis zur Unkenntlichkeit entstellte Amazone hervor, die dennoch immer und ständig träumt, träumt von ihrer Rache.

»Ja, ja,« bestätigt Tammas, »die Hunde lieben ihn fast ebensosehr wie wir. Paßt einmal auf!«

Der alte Mann erhebt sich und trottet zum Gasthof hinaus. Minutenlanges Schweigen, dann ertönt von der Landstraße her das Aufschlagen eines Stocks, das Scharren unsicherer Füße und damit verquickt das schwere samtene Poch – poch – poch riesiger, gepolsterter Sohlen. Im Augenblick ist jeder einzelne Hund im Schankzimmer aus scheinbar tiefem Schlafe hochgefahren, Tuppers dicker Rasper springt auf und fletscht drohend die Zähne; Venus steht da breitbeinig, starr, grinsend vor Hoffnung; und der alte Shep, Lassie und die übrigen alle scharen sich um diese zwei, die seitwärts nach der Türe schielen, langsam, steif, hölzern, mit rollenden Augen.

Die scharrenden Füße nähern sich, das langsame, gleichmäßige Scht – scht – scht geisterhaft flüsternder Schritte elektrisiert das Schweigen.

Die Hunde rühren kein Glied; sie lauern mit vorgestrecktem Kopf und hochgezogenen Lefzen, mit tödlich grinsenden Gebissen und glasigen Augen: ein Abbild geduckter Wut; und ein Geräusch schwillt auf, schwillt und ebbt ab wie das Murren ferner Brandung, dumpf, ungeheuer, donnernd, bis die Wände zittern.

Eine Hand rüttelt an der Klinke, eine zitternde Fistelstimme intoniert: »Schotten, die einst Wallaces Hand –« – Tammas' nußbraunes, runzliges Gesicht schaut grinsend zur Tür hinein. Und die Hunde sinken in ihre früheren Stellungen zurück – knurrend, mißtrauisch, mürrisch, weil man sie zum besten gehalten.

Über M'Adam, völlig arglos dieses Argwohns, war eine Veränderung gekommen. Sei es, daß er endlich einmal weniger denn sonst von dem besten Schäferhund des Nordens reden hörte, sei es, daß eine andere verborgene Ursache zugrunde lag: gewiß ist, daß er sein altes Selbst zurückgewann. Seine Zunge war so bitter und behende wie immer; kaum eine Nacht verging, ohne daß er mit seinem ätzenden Sarkasmus den aufgebrachten Tammas zu Tätlichkeiten reizte. Als der lange Kirby ihn nach seiner Ansicht über den geheimnisvollen Schwarzen Würger fragte, lautete M'Adams ernste und eifrige Antwort: »Weshalb Schwarz? Weshalb eher Schwarz als Weiß oder – Grau, sagen wir?« Dies war nicht das einzige Mal, daß er die nämliche Frage in die nämliche Form kleidete, bis schließlich Tammas und andere Weiterblickende behaupteten, er müsse etwas ganz Bestimmtes damit sagen wollen, was, wußte jedoch keiner.

Auch David wurde der Veränderung inne, die mit dem Kleinen Manne vorgegangen war. Sein Vater legte jetzt sein ganzes früheres Temperament in seine Nörgeleien. Anfänglich freute der junge Bursche sich über diesen Umschwung, da er einen freien und offenen Krieg der früheren heimtückischen Feindschaft vorzog. Sehr bald jedoch sehnte er die alte Zeit zurück, denn je älter er wurde, desto schwieriger fand er es, den ewigen Streit zu ertragen.

Einen einzigen Grund hatte er, sich der veränderten Lebensverhältnisse von Herzen zu freuen: er glaubte, sein Vater habe zum mindesten vorübergehend seine Rachepläne gegen James Moore fallen lassen; David hoffte, jene schleicherischen, nächtlichen Besuche auf Kenmuir hätten nun ein Ende.

Maggie Moore jedoch würde ihn eines Besseren belehrt haben, wenn sie noch miteinander gesprochen hätten. Eines Abends, als sie allein in der Küche saß, blickte sie auf und sah zu ihrem Entsetzen ein dämmriges, mondgleiches Gesicht fest gegen die Scheibe gepreßt. In der ersten Panik hätte sie fast geschrien und ihre Arbeit fallen gelassen, jedoch als echte Moore beherrschte sie sich und tat, als nähe sie weiter, wenn auch scharf auf ihrer Hut.

Es war M'Adam – das hatte sie erkannt. Bleich blickte das Antlitz aus dem schwarzen Fensterrahmen; die Haare hingen feucht über die Stirn; die weißen Augenlider blinzelten langsam, entsetzenerregend. Sie dachte an alle Gerüchte, die umgingen, an die Rache, die er ihrem Vater geschworen. Ihr Herz schien stillzustehen, aber sie rührte sich nicht. Dann gewahrte sie, hastig aufatmend, daß die Augen aufgehört hatten, sie zu fixieren. Heimlich folgte sie ihnen, jetzt ruhten sie auf dem Schäferpreis, und dort auf dem Pokal hafteten sie starr, während sie selbst regungslos wartete.

Ihr schien's, als wäre eine Stunde vergangen, ehe die Augen sich endlich rührten und im Zimmer umherschweiften. Einen Augenblick ruhten sie auf ihr; dann schwand das Gesicht in die Nacht.

Maggie erzählte niemandem, was sie gesehen. Sie wußte, ihr Vater war furchtbar in seinem Zorn, und hielt es für klüger, zu schweigen. Und was Mr. David M'Adam anbetraf, nun, hatte sie sich nicht geschworen, nie wieder ein Wort mit ihm zu sprechen? Der junge Mann ahnte auch nicht, wo sein Vater herkam, als M'Adam, leise in sich hineinlachend, an jenem Abend nach dem Kornhof zurückkehrte. David hatte sich seit kurzem an diese Anfälle stummer, sinnloser Heiterkeit gewöhnt; als daher sein Vater zu kichern und dem Roten Will ins Ohr zu murmeln begann, achtete er anfänglich nicht darauf.

»Hihi! Willie, wir werden ihn vielleicht doch noch besiegen!

›Wie manches schwand, zwischen Lipp' und Kelchesrand.‹ Nicht wahr, Willie, hihi!« Es folgte eine Reihe Anspielungen auf die prassenden Gottlosen und ihren Fall, die stets mit dem nämlichen Refrain endeten: »Hihi, Willie, vielleicht werden wir ihn doch noch besiegen.«

So ging es weiter, bis Davids Geduld erschöpft war und er unwirsch fragte:

»Was plärrst du da vor dich hin? Wen willst du denn besiegen, du mit deinem Will?«

Des Burschen Ton war so verächtlich wie seine Worte. Lange schon hatte er es aufgegeben, Respekt vor seinem Vater zu heucheln.

M'Adam rieb sich die Knie und kicherte. »Hör' nur den lieben Jungen, Willie! Hör' nur, wie freundlich er mit seinem alten Papa spricht.« Grinsend wandte er sich an seinen Sohn. »Wen, fragst du? Wen anders sollt' ich wohl meinen als den Schwarzen Würger? Wen sonst sollt' ich wohl schädigen wollen?«

»Den Schwarzen Würger?« echote der Bursche und betrachtete seinen Vater in grenzenlosem Erstaunen, da er nur allzu gut die Gerüchte kannte. »Der Schwarze Würger? Was weißt du von dem Schwarzen Würger?«

»Weshalb eigentlich schwarz, möcht' ich wissen? Weshalb schwarz?« forschte der Kleine Mann und beugte sich weit vor.

»Wie soll er denn sonst sein? Rot – gelb – graubraun – schmutzfarben?« David starrte mit vielsagendem Ausdruck zu dem Schwanzlosen Köter hinüber.

Der Kleine Mann hörte auf, sich die Hände zu reiben und musterte den Burschen. David rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her.

»Nun?« fragte er endlich rauh.

Der Kleine Mann kicherte, und seine mageren Hände nahmen ihre Arbeit wieder auf.

»Vielleicht weiß der arme, alte, verdrehte Narr von Papa mehr als der liebe Junge weiß oder zu wissen wünscht, nicht wahr, Willie? Hihi!«

»Was weißt du also? oder glaubst, es zu wissen?« forschte David gereizt.

Der Kleine Mann nickte und kicherte.

»Nichts, mein Jungchen, nichts der Rede wert. Aber vielleicht wird man den Würger in gar nicht langer Zeit erwischen.«

David schüttelte mit beleidigender Skepsis das Haupt.

»Willst ihn wohl selber erwischen, was, du mit deinem Willie? Einen Stuhl hinaus in die Marken tragen, ein bißchen pfeifen und, wenn der Würger dann kommt, ihm ein paar Körnchen Salz auf den Schwanz streuen –falls er einen hat.« Bei den letzten, mit schwerwiegender Betonung gesprochenen Worten hörte der Kleine Mann jäh, wie vom Schlag getroffen, mit dem Reiben auf.

»Was hast' damit sagen wollen?« Er sprach sehr leise.

»Was meinst' wohl?«

Langes Schweigen.

»Ich weiß es nicht genau; und es ist vielleicht ganz gut für dich, lieber Junge –« er sprach mit kriecherischer Unterwürfigkeit – »daß ich dich nicht verstanden habe.« Wieder fing er das Kichern und Reiben an. »Und doch wird's uns vielleicht gelingen, trotz unseres witzigen Jungen hier, den Würger zu ertappen. Uns beiden, Willie, dir und mir. Hihi!« Zustimmend wedelte der mächtige Hund mit dem Stummelschwanz.

David erhob sich von seinem Stuhl und schritt zu seinem Vater hinüber.

»Wenn du so ungeheuer klug bist,« brüllte er, »sagst du mir vielleicht, was du weißt!«

M'Adam blickte auf. »Dir's sagen? Ja, wem sollt' ich's sonst wohl sagen, wenn nicht meinem lieben David? Sagen? Ich sag' dir das eine«, mit fauchender, beißender Bitterkeit: »Du wärst der letzte Mensch von der Welt, dem ich's sagen würde.«


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