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Drittes Kapitel

Cutty Sark

Sam'ls düstere Vorahnungen bewahrheiteten sich nicht. Old Bob lebte und gedieh und sein Ruhm verbreitete sich im Lande. Tammas, dessen Vorrat an Geschichten über Rex, Sohn des Rally, nach fünfzigjährigem, reichlichem Gebrauch trotz regelmäßigen Ausbesserns und Zurechtstutzens fadenscheinig geworden war, litt jetzt nicht mehr an Mangel an neuem Stoff.

An Markttagen versammelte sich stets eine Gruppe Talbewohner vor der Tür des »Grenzbocks« zu Grammoch, um den letzten der Grauen Hunde bei seiner Arbeit zu beobachten, wie er sanft und verständig, schwer zu erzürnen und rasch im Handeln, eine regungslose, befehlende Gestalt auf den Rücken des hintersten Schafes gestützt, Wache hielt oder leichtfüßig über den wolligen Teppich von Schaffliesen lief, um irgendeinem Patriarchen der Herde einen Befehl ins Ohr zu flüstern.

Sie hielten viel von ihm, diese Männer, deren Herzen an den Grauen Hunden hingen, aber nicht so viel wie James Moore, der ihnen allen Vater war.

»Vielleicht wird noch was aus ihm« – das war alles, was man dem bedächtigen Manne abzuringen vermochte; aber in letzter Zeit stand ihm ein gewisser, von zwei Schäferkrücken eingerahmter silberner Pokal, den er in seiner Kindheit ehrfürchtig in der Hand gehalten, recht häufig vor Augen.

Nur M'Adam ward es nicht müde, den Grauen Hund zu schmähen. Und sein lebendiger Haß machte eine Weile Davids Los erträglicher, denn in der Hitze seiner Feindschaft gegen den grauen Teufel von Kenmuir wurde er von seinem gewohnten Ziele abgelenkt. Ja, eine Zeitlang herrschte fast Frieden auf dem Kornhof. Des Vaters Verbot von seines Sohnes Besuchen in Kenmuir schien aufgehoben, der unermüdliche Guerillakrieg zwischen den beiden war im Absterben. Bald jedoch flammte der Hader von neuem auf, und die unschuldige Ursache war Old Bob, ebenso wie er unbewußt die Grundlagen zu dem Waffenstillstand gelegt hatte. David, kühn geworden durch die lange Schonzeit, hatte die Unverfrorenheit, den jungen Hund auf seinem abendlichen Heimweg von der Schule einzuladen, ihn bis zur Tür des Kornhofs zu begleiten.

Eine Zeitlang ertrug sein Vater die wortlose Beleidigung mit merkwürdiger Geduld. In Cutty Sarks Gesellschaft beobachtete er von dem Gipfel des Hügels, wie die beiden aus dem Steinigen Grund hinaufklommen. Fast schien es, als lerne er seine Antipathie meistern. Denn Old Bobs Verhalten bei diesen Gelegenheiten war ein vollendetes Beispiel der Kunst des Sich-Benehmens unter Feinden. Kein hündischer Ausdruck verdarb seine Haltung. Dem Manne gegenüber zeigte er eine unverbrüchliche, scheue Höflichkeit – er vermied ihn weder, noch ging er ihm nach, begehrte keine Annäherung und versuchte auch keine, sondern forderte lediglich jenes Maß von Duldung, das ein Gentleman mit Recht von seinesgleichen beanspruchen kann, während er Cutty Sark gegenüber eine zärtliche Achtung an den Tag legte, wie es seinen jungen Jahren und ihrem grauen Haupte geziemte – einen ungeheuchelten Respekt, welcher der alten Dame Herz wider deren Willen gewann. Wider ihren Willen – denn sie kannte genau ihres Herrn Gefühle und hielt sich für schuldig.

Aber dieser Zustand sollte nicht dauern. David, in der Meinung, seine Handlung habe ihren Hauptzweck, Ärgernis zu erregen, verfehlt, war bereits nahe daran, die Sache ruhen zu lassen, als das verspätete Veto fiel.

»David, du sollst den Grauen abends nicht mit nach Hause bringen.« Sein Vater sprach mit leiser, ruhiger Stimme ohne den üblichen wütenden Befehlston.

»Weshalb nicht?« fragte der Junge.

»Ich kann ihn nicht sehen.«

»Dann guck' weg.« Und er ging ins Haus.

Zwei weitere Tage verharrte der Junge in seinem Ungehorsam. An keinem der beiden schien der Vater auf Gehorsam bestehen zu wollen. Als David endlich am dritten Abend das Haus betrat, tönte ihm von der Küche eine sanfte, tödliche Stimme entgegen:

»David!«

»Was denn?«

»Hast du den grauen Teufel bei dir?«

»Und wenn ich ihn nun hätte?«

»Ich dulde es nicht, das ist alles. Merk' dir's, mein Junge, diesmal ist es mir ernst.«

Der Junge lachte höhnisch.

»Gut, David.« Es wurde leichthin gesagt. »Aber paß einmal auf, mein Junge –«, der Kleine war seinen raschen Blick über seine Schulter – »du wirst ihn einmal zuviel herbringen, wenn du ihn noch einmal bringst.« Er sprach ruhig, aber ein leises Zittern in seiner Stimme und ein grausamer, grünlicher Schimmer in den trüben Augen bedeuteten dem Jungen, wessen er sich zu versehen hätte.

Der Eindruck genügte, um ihn wenigstens dieses eine Mal zum Gehorsam zu bewegen. Fünf Tage hintereinander entließ er seinen Begleiter am Steinigen Grunde; fünf Tage hintereinander stand M'Adam im Schatten der Tür, wo Cutty Sarks Augen aus dem Dunkel wie zwei gelbe Halbmonde leuchteten, vergeblich auf der Lauer.

Am sechsten Tage stieß der Junge am Eingang des Hauses mit seinem Vater zusammen.

Ein trockenes, triumphierendes Lächeln stand auf dem sardonischen Gesicht. Die Augenlider senkten sich, um den Spott zu verbergen; die Lippen höhnten in beredtem Schweigen. »Du wagst es nicht!«

»Warte bis morgen!« murmelte der Junge wild und betrat das Haus, kampfbereit.

Am folgenden Abend überschritt Old Bob die Grenze.

Kaum war die Sache geschehen – kaum hatte er seinem Vater getrotzt und die Tat gewagt – da überwältigte den Jungen Furcht. Er blickte sich argwöhnisch nach allen Seiten um. Es war schon spät am Abend. Dämmerung breitete ein Tuch über das Land. Die Nacht war voll unruhiger Schatten. Er spannte die Augen an und glaubte vor sich eine kleine Gestalt heimlich in dem zweifelhaften Dunkel verschwinden zu sehen.

Plötzlich schüttelte ihn die Angst.

»Lauf nach Hause, Junge«, flüsterte er erschrocken. Der junge Hund blieb stehen und blickte zu seinem Kameraden auf, als zögere er, ihn in der Gefahr allein zu lassen; dann wandte er sich ab und sprang zurück ins Dunkel.

David setzte seinen Weg fort, sein Herz hämmerte – mit den Augen durchbohrte er das Dunkel – aus Angst – er wußte nicht, vor was.

Er brauchte lange Zeit, um das Haus zu erreichen. Als er an dem Küchenfenster vorbeiging, flammte ein Licht in dem Raume auf. Dicht neben ihm, an die Scheibe gedrückt und nach draußen spähend, tauchte schattenhaft das Gesicht seines Vaters auf. Wie es dem Jungen schien, stand quälende Furcht darauf geschrieben. Dann verschwand es wieder.

David betrat das Haus. Als er die Tür öffnete, fegte etwas an ihm vorbei. Er unterdrückte den Schrei, der sich ihm entreißen wollte; dann trat er ein.

Die Tür zur Küche stand offen. Mit einem Stoßgebet, daß man ihn nicht sehen möchte, schlich er vorbei.

Aber es sollte nicht sein.

»David!« rief eine heisere Stimme.

Der Junge kam näher. Am anderen Ende des Zimmers saß sein Vater, eine Flasche halb in der Hand verborgen. Immer noch schien es dem Jungen, als hielte Grauen den kleinen Mann gepackt. Sein Gesicht war fahl. Er zitterte.

»Hast du mir nichts zu sagen?« forschte sein Vater in schrecklichem Flüsterton.

David blieb stumm.

»D–d–deine Schule w–w–war schon um v–v–vier Uhr zu Ende: j–j–jetzt ist es nach s–s–sechs.« Sein Stottern gestaltete das Flüstern noch furchtbarer. »David, du gehst langsam.«

David warf die Lippen auf. Wahrhaftig, da war der alte Streit von neuem lebendig geworden.

»Vielleicht kann ich dir auf die Beine helfen!« Sein Vater wies mit bebendem Finger auf den altbekannten Riemen an der Wand.

David holte ihn herunter.

»Runter mit der Jacke! Jetzt mit dem Hemd!« Wieder gehorchte der Junge.

M'Adam betastete den Riemen, schickte sich jedoch nicht an, sich zu erheben. Abermals redete er drauf los – langsam – ohne Sinn und Verstand. Es war klar, seine Seele lebte in seinen Ohren. Er lauschte – lauschte lauschte. Er redete, um die Zeit totzuschlagen. Er wußte nicht, was er sagte. Schweiß perlte ihm auf der Stirne, wie der Tau draußen auf den Hängen der Moorspitze.

David, den Rock um die nackten Schultern geworfen, glaubte entwischen zu können.

»Geh nicht!« In der Stimme lag fast ein Flehen. Verwundert blieb der Junge.

Der Kleine fuhr fort zu schwatzen–unzusammenhängendes Zeug, ruckweise, nur um eine menschliche Stimme zu hören.

David war wieder ganz er selbst.

»Man sagt, Andrew Moore ginge jetzt auch schon zur Schule.«

Der Junge blieb stumm.

Pause.

»Ich höre – daß – daß – ich hab' vergessen, was ich sagen wollte.«

»Bravo!« in ironischem Applaus.

Erneute Pause.

»Es heißt – ja, ja, das war's – es heißt, es gäbe Regen.«

»Ausgezeichnet.«

Den Kleinen packte plötzliche Entschlossenheit.

»Noch ist es nicht zu spät!« keuchte er mit flehender Inbrunst.

Ersticktes Stöhnen vom Fenster her antwortete ihm.

Er sank auf den Stuhl zurück. Sein Gesicht glich dem eines Gespenstes.

»Möge Gott mir verzeihen!«

In der Hitze seines Hasses und der Trunkenheit hatte er dieses Ding getan – er, dessen Liebe und Rücksicht gegenüber der stummen Kreatur die Liebe zu seinem eigenen Fleisch und Blut weit übertraf; jetzt war er ein Mörder und er haßte sich selbst.

Ein zweites, schreckliches Stöhnen von draußen, unterhalb des Fensters; dann jammervolles Winseln und Kratzen, als suche jemand Schutz.

David geriet außer sich.

»Vater, laß mich hinaus, nachsehen!« bat er, in Tränen aufgelöst.

M'Adam goß jetzt den Inhalt der Flasche in seine Kehle. Dann warf er die Flasche weg, sprang auf die Füße und tobte wild im Zimmer umher. Dabei brüllte er Bitten, Gebete und Trinklieder in grausigem Durcheinander und hielt sich beide Ohren zu; so versiegelte er gleichzeitig den Zugang zu seinem Herzen und erstickte das Geräusch. Draußen stöhnte die Nacht vor Entsetzen: langgezogene Seufzer wie von Toten, die sich unter einer Erdlast wälzen; schwache, winselnde Schreie von Kindern in Schmerzen; Ächzen von Riesen in Qual; Todeskampf des Geistes mit den Fesseln des Fleisches.

David vergrub seinen Kopf in der Jacke; er kauerte in der einen Ecke und trampelte mit den Füßen, um das Geräusch zu dämpfen.

Endlich – nach einer langen, langen Zeit wurde es still. Aber noch immer tobte der kleine Mann mit blinden Augen und tauben Ohren und erstickte mit seinem Lärm Geräusche, die gar nicht mehr da waren.

Endlich hielt er inne und blickte – immer noch die Finger in den Ohren – seinem Sohne in die Augen. Aus den seinen sprach mörderische Furcht.

»Ist es vorbei?«

Der Junge nickte.

Behutsam zog der Kleine die Siegel seiner Finger zurück und lauschte, immer noch auf dem Sprung. Dann zündete er eine Kerze an, seine Hand zitterte wie im Krampf, und er schritt zur Tür, die er hinter sich verschloß.

Vom Fenster her beobachtete ihn David, den Rock um die bloßen Schultern.

Ängstlich wurde die Haustür geöffnet. Er sah seinen Vater hinausäugen, das Gesicht im flackernden Kerzenlicht schrecklich verzerrt. Er sah, wie er in das Dunkel tauchte, die schwelende, gelbe Flamme hob sich gegen die Schwärze der Nacht. Er sah ihn sich bücken und mit der Kerze den Boden ableuchten. Er sah zu seinen Füßen einen dunklen Körper.

Dann verlöschte das Licht, als hätte man es fallen lassen.

Enthüllendes, sommerliches Wetterleuchten; eine kleine, aufrechte Gestalt, die sich mit den Fäusten gegen den Schädel schlägt; eine Sekunde lang der Anblick eines verzweifelten Gesichts, zum Himmel erhoben, und solch ein Schrei, daß David entsetzt vom Fenster zurückweicht: »Gott! Mein Gott! Meine Sünde hat mich heimgesucht!« Zu seines Vaters Füßen lag Cutty Sark – tot.


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