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Neunzehntes Kapitel

Im Nebel

Der Schwarze Würger ging seinen blutigen Weg. Die Öffentlichkeit, gierig wie immer nach neuen Sensationen, griff die Angelegenheit auf. Sämtliche großen Tageszeitungen brachten Artikel über die »Ländlichen Greuel«. Die Erregung trieb hohe Wogen; jeder Korrespondent vertrat seine eigene Theorie und seine Lösung des Problems; und jeder entrüstete sich, diese zugunsten von anderen abgelöst zu sehen.

In der Gegend selbst bemühte man sich angestrengt, den Verbrecher zu fangen oder zu überführen. Magistratspersonen hielten Sondersitzungen ab; bewaffnete Posten wurden an geeigneten Stellen aufgestellt mit dem Befehl, ohne Warnung zu schießen. John Swans berühmter Spürhund Reiver wurde zweimal angesetzt und scheiterte zweimal kläglich, während die Polizei, schweißtriefend vor Energie, ihren geheiligtsten Traditionen gemäß nichts erreichte.

Mit seiner Immunität wuchs der Wagemut des Verbrechers. Er versuchte und vollendete die tollkühnsten Dinge. Am Windbichl tötete er und weidete sein Schaf aus, keinen Katzensprung weit von der Hütte des Schäfers. Ned Hoppins Terrier, der ihn auf frischer Tat ertappt und – kleines, großes Herz, das er war – sofort angegriffen haben mußte, erwürgte er und verscharrte ihn dann notdürftig vor seines Herren Hürdentür.

Und trotzdem – nirgends ein Fingerzeig. Er schien unüberwindlich – von einer Tarnkappe beschirmt. Zwar schwor Jake Burton, er habe mit der Bestie in der Teufelsmulde einen homerischen Kampf ausgekämpft und schilderte sie in allen Einzelheiten als »ein Monstrum, groß wie'n Elefant – mit Hörnern und allem Drum und Dran!«; zum Beweis deutete er auf die Kotspuren an seinen Hosen, auf die er sich, wie es scheint, völlig erschöpft niedergelassen hatte, nachdem er seinen Gegner gründlich in die Flucht geschlagen. Allein es fanden sich Leute, unfreundlich genug, als Antwort den plötzlichen torkelnden Zusammenbruch eines sinnlos Betrunkenen zu markieren.

Eben diese Tollkühnheit wäre schließlich um ein Haar des Würgers Verderben gewesen, und hätte ihn ohne einen unglücklichen Zufall fast überführt.

Der Großbauer war bei jener Angelegenheit der Hauptbeteiligte. Er und Old Bob überschritten mit einer Schafherde die Marken – es war ein windstiller Tag, und die weite unendliche Heide lag in Nebel gehüllt.

Langsam wand sich der Zug durch den schweigenden Mittag. Der Nebel senkte sich dichter und dichter; vor ihnen entschwand der riesige, hagere Ödberg, der ihnen als Wegweiser gedient; die tiefer gelegenen Weidenbüsche lösten sich in Dunst auf.

Plötzlich umhüllte sie der Nebel gleich einer weißen, feuchten, undurchdringlichen Haube. Der Großbauer befahl zu halten. Vergeblich: die Schafe trieben vorwärts und waren im nächsten Augenblick seinen Blicken entrückt.

Eine Weile noch bildete der alte Hund das verbindende Glied zwischen ihm und der Herde. Eine kühle Schnauze schob sich aufmunternd in seine Hand und meldete ihm, daß alles in Ordnung wäre. Als er jedoch die Unmöglichkeit erkannte, den Weg fortzusetzen, befahl er: »Bleib' bei den Schafen, Alter«; da stahl sich die feuchte Schnauze hinweg, und er wußte, er war jetzt allein.

Er streckte sich wartend in die Heide. So lag er, wie es ihn dünkte, geraume Zeit, Kopf in die Hände gebettet, und dachte über allerlei nach – über das kommende Ringen um den Pokal; über David und Maggie und ihren endlosen Streit; über den Würger und über den Roten Will.

Nichts wahrnehmend und nicht wahrnehmbar lag er dort, umringt von dem schläfrigen Leben der Heide. Mählich überkam ihn deren Trägheit und Lethargie. Knirschendes Äsen unsichtbarer Schafe, Rascheln gerupften Grases, nahe, glucksende Rufe eines Birkhuhns und fernes Brachvogelgeschrei verschmolzen zu einem einzigen leisen Schlummerlied, und bald versank er in Schlaf.

Erschreckt fuhr er auf, sein Herz stand still. Plötzliche Stille hatte sich über die Moore gesenkt. Die Schafe hatten zu weiden aufgehört; das Birkhuhn schwieg; der Brachvogel war verstummt; selbst ein winziger, plätschernder Bach, den er aus nächster Nähe vernommen, schien jetzt regungslos. Er, der seit zweimal zwanzig Jahren keine Furcht gekannt, spürte die panische Angst eines Kindes in dunkler Nacht. Das furchtbare Schweigen, die hohle Leere, die Ohnmacht der Sehkraft überwältigten ihn. Verlassen in jener weißen Finsternis, schlug das blinde Schweigen über ihm zusammen und begrub ihn vollends in einem lebendigen Grab.

Ein Brachvogel schrie, leise und heimlich. Geisterhafte Füße strichen kaum hörbar an ihm vorbei. Eine riesige schleichende Gestalt ragte vor ihm auf, hielt, starrte ihn an und entschwand wieder im Nebel.

Und dann zerriß die Stille. Ein großer Körper fegte durch die Heide; das Zerstieben einer aufgeschreckten Herde und Hin- und Herhuschen eilender Schatten in der rings ihn umgebenden weißen Nacht.

Entsetzt spähte der Bauer nach allen Seiten. Er wankte am Abgrund der Furcht.

Da ertönte ohrenzerreißend aus unmittelbarer Nähe ein qualvolles »Mä-ä-ä-h«; Rascheln folgte und ein dumpfer Fall, das hilflose verzweifelte Ringen eines Tiers im Todeskampf, dann ein scheußliches, ersticktes Würgen und Schweigen.

Der Bauer stand angewurzelt. Er bebte wie eine allzu straff gespannte Stahlklinge. Die Geräusche erzählten ihre eigene mörderische Geschichte. Dort, nur auf Armeslänge von ihm entfernt, verrichtete der Verbrecher sein Werk; dort, unmittelbar vor seiner Tür, wurde das arme Opfer geschlachtet und er selbst war machtlos, völlig machtlos.

Seine ganze Seele lehnte sich gegen diese Untätigkeit auf. Das Vikingerblut in seinen Adern trieb ihn stürmisch zur Tat. Die Tollkühnheit – das Teuflische des Ganzen – hier, direkt vor seinen Füßen – peitschten den kalten, beherrschten Mann zur Wut auf.

Er versuchte, sich zu fassen, nachzudenken. Allein sein Geist zitterte wie sein Körper und verweigerte jede Überlegung. Handeln – handeln – er mußte handeln, und galt es auch nur, sich zu rühren. Aber wie sollte er ausholen und wo?

Der Nebel umschlang ihn gleich einem nassen Laken. Er stieg ihm in die Augen, ein grauer Star, und blendete ihn. Nirgends ein Geräusch, etwas, das ihn leiten konnte. Der Mörder mußte jetzt verzückt in seiner Orgie schwelgen.

Er sah nichts, hörte nichts, aber immer noch trieb ihn seine Seele vorwärts, und sein Körper hielt mit ihr Schritt. So tauchte er unter in die blinde Nacht, langsam, tastend, vorsichtig vor dem Heidekraut seine Füße hebend. Einmal blieb er lauschend stehen. Die Moore lagen in furchtbarem Schweigen; kein Laut außer dem verstohlenen Brachvogelruf und dem Hämmern des Bluts in seinen Adern. Weiter ging es, tappend, tastend. Dann erhob sich vor ihm eine niedrige, horngekrönte, lebende Mauer, und er wußte, er war auf die gesammelte Herde gestoßen, wußte, daß er die Richtung verloren, wandte sich und stürzte sich noch einmal in das weiße Meer.

Der starke Mann keuchte, seine Ohnmacht folterte ihn. Nässe rann über sein Gesicht; seine Hände wurden klamm im Nebel. So entrannen Minuten; bald würde der Würger fliehen.

Da gebot ihm sein Herz mit einem Schlage Halt. Fern ihm im Rücken erhob sich ein ungeheurer, widertönender Tumult; Baß tobte gegen Baß: mächtige donnergleiche Stimmen wie von zwei kämpfenden Löwen, Königen unter ihresgleichen. Sie sprangen, prallten gegeneinander, streitenden Seen gleich.

Hoffnung packte sein Herz und trug es auf ihren Schultern. Irgendein Hund war auf den Mörder gestoßen, hatte ihn gestellt. Der Würger war entdeckt. Satt gefressen konnte er leicht unterliegen, und sollte es der »Schrecken« selber sein.

Hoffnung spornte ihn an. Das Getümmel peitschte ihn auf. Er stürzte vorwärts und hielt abermals.

Die kämpfenden Stimmen hatten einen eigentümlich frohlockenden, wilden Klang angenommen, dem Rollen von Gewehrfeuer gleich längs einer stürmenden Front. Er wußte genau, was das zu bedeuten hatte: ein laufender Kampf war im Gange. Die Kämpfenden hieben im Jagen aufeinander ein und stürmten in grader Richtung auf ihn zu.

Näher und näher wogte das tolle Ringen. Der Nebel warf gleich einem Resonanzboden den Lärm vertausendfacht zurück, bis er betäubend wurde – ein Artillerieduell zwischen Himmel und Hölle

Hart an ihm vorbei schwenkte die Schlacht und verlor sich brüllend im Nebel. Noch immer stand er geblendet Und jetzt umtobte ihn der Kampf von allen Seiten; rings in der Runde schwoll und zitterte und raste das Höllenorchester; überall stürmte und brüllte der Streit, umtosten ihn infernalische Elemente. Das Firmament schien zu wanken; der Nebel schwankte, der Boden hob sich unter seinen Füßen. Und er stand dort hilflos, der Mittelpunkt des Strudels, ein Blinder in einem Niagara, langsam sich drehend, um dem Lärm zu folgen, Arme über der Brust gekreuzt, Nägel tief in das Fleisch verkrampft, ein Grashalm im Sturm.

Plötzliche Stille: jeder hatte zugepackt in tödlichem, nicht abzuschüttelndem Biß.

Weiter wogte der Kampf, furchtbarer jetzt in seinem Schweigen; weiter ummauerte ihn Nebel, eine weiße hemmende Wand. Weiter drehte er sich im Kreise, der Nabe eines lautlos kreisenden Rades gleich – ein Samson, zum ohnmächtigen Lauschen verdammt, während Welten und Völker sich bekriegten.

Weiter und weiter im Kreise drehte sich der Kampf, geräuschlos bis auf das Plantschen und Wogen, wenn die Kämpfenden die Torftümpel durchbrachen, bis auf das Rascheln des Farnkrautes, das Knirschen der Kiesel und einen gelegentlichen dumpfen Fall, ein Knurren und Röcheln zweier streitbarer Riesen – weiter und weiter, geräuschlos weiter in alle Ewigkeit, bis der Bauer sich hinknien mußte, um nicht zu fallen.

Mit geschlossenen Augen, die Hände vor die Ohren geschlagen, suchte er sich zu sammeln.

Lange Zeit verharrte er in dieser Stellung; dann ließ er die Hände sinken.

Schweigen.

Er blickte auf. Der Nebel teilte sich. Dicht vor ihm lag ein Haufen langsam wogenden Fleisches, verbissen im Todeskampf.

Er schnellte auf die Füße, stahl sich heran, die Hand zum Schlage erhoben, stolperte – und stürzte in einen Traum.

Er erwachte, um sich in einer sternerhellten Nacht allein zu finden. Rings um ihn wogte das Heideland: Schatten, schwarze Wälder und hier und dort das nasse Glitzern der Torfpfützen. Blutgeruch stieg zu ihm auf.

Er brauchte nicht lange zu suchen. Seine Hand vergrub sich in einem groben Teppich von Wolle. Er wandte den Kopf. Neben ihm lag in einer Blutlache ein löwenmähniger, riesiger Schafbock. Das ermordete Schaf hatte seinen Mörder gerettet.

Der Bauer schloß die Augen. Langsam erinnerte er sich des Albdrucks: des Nebels; des Kommens des Würgers; des schwindelnden Kampfes; der Qual seiner eigenen Ohnmacht und des Falles in dem letzten, alles enthüllenden Augenblick.

Während er noch in Gedanken ruhte, feuchtete ein zärtlicher Finger seine Stirn. Er blickte auf. Ein liebes dunkles Gesicht schaute in das seine; zwei große graue Augen beobachteten ihn besorgt, und eine dichte graue Halskrause streifte seine Wange.

»Bist du's, Alter?« murmelte er schläfrig und hob die Hand zu einer Liebkosung.

Zwei warme Tropfen fielen auf sie herab.

Er schaute hin.

Die Tropfen waren rot.


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