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Zweiundzwanzigstes Kapitel

Der Sturm bricht los

Es folgte ein Samstag, dessen viele noch außer David lange Zeit gedenken sollten.

Für Jenen begann der Tag auf sensationelle Weise. Er hatte sich noch vor Hahnenschrei erhoben und ans Fenster begeben; das erste, was er dort im nebligen Zwielicht sah, war eine ungeschlachte mächtige Gestalt, die in großen Sätzen vom Steinigen Grund her den Berg hinaufjagte. Das Herz klopfte ihm in der Kehle. Hier endlich war ein konkreter Beweis, auf dem man fußen konnte.

Der Hund lief mit langen, ungelenken Sprüngen. Während er heranstürmte, bemerkte David, daß rote Spritzer an seinen Flanken klebten; die Zunge hing ihm zum Maule heraus, und Schaum troff von seinen Lefzen; er mußte von weither und in tollem Galopp gerannt sein. Scheu pirschte er sich an das Haus heran, dann sprang der mächtige Köter auf die Bank des rückwärtigen Küchenfensters, drückte mit der Pfote gegen den morschen alten Riegel, und in der nächsten Sekunde vernahm der angespannt lauschende Bursche das Knacken von Dielen, als der Hund zu Boden sprang.

Fürs erste hielt David trotz seiner Aufregung den Mund. Selbst der schwarze Würger trat an jenem Morgen in seinen Gedanken an die zweite Stelle. Seines Vaters Hohnreden hatten seinem Stolz den Rest gegeben und ihn bußfertig gemacht. Die ganze Woche hindurch hatte M'Adam mit wahrer Wollust seine Peitsche gebraucht, als erleichtere der Anblick fremder Schmerzen die eigene nie enden wollende Pein, bis David es nicht länger zu ertragen vermochte. So hatte er beschlossen, der Sache auf die eine oder andere Art ein Ende zu machen, ehe es noch schlimmer würde. War das Mädchen bereit, ihm von neuem ihre Gunst zu schenken, ja – dann sollte das nur das Vorspiel zur Gewährung einer weit größeren Bitte sein; wenn nicht, wollte er dem Kornhof und all seinem Elend den Rücken kehren und in der Welt untertauchen.

Die ganze Woche hatte er sich für diesen Gang gestählt; als daher jetzt, da er auf dem Wege nach Canossa das Haus verlassen wollte, sein Vater sich zu ihm wandte mit dem abrupten Befehl:

»David, du wirst jetzt sofort die Herdwicks nach Grammoch treiben«, lautete die Antwort:

»Mußt sie schon selbst hintreiben, wenn du willst, daß sie heut noch 'rüber kommen.«

»Nein,« entgegnete der andere, »Willie und ich haben heut zu viel zu tun.«

»Wenn sie auf mich warten, warten sie bis Montag«, erwiderte David und marschierte aus dem Haus.

»Ich seh' schon, was los ist,« rief sein Vater hinter ihm drein, »sie hat dir ein Stelldichein gegeben.«

»Kümmere dich um deine Sachen, und ich kümmere mich um meine«, entgegnete der Bursche hitzig.

Zufällig trug er im Augenblick ein Bild Maggies in der Tasche, das er, falls das Mädchen nichts von ihm wissen wollte, ihr zurückzugeben beabsichtigte. Beim Verlassen des Zimmers fiel die Photographie zu Boden. Der Bursche schritt weiter, ohne den Verlust zu merken, aber sein Vater raffte sie gierig auf.

»Hi! Hi! Willie, was haben wir hier? Hi! Hi! Wahrhaftig, das Mädel selbst!« Er beäugte das Bild. »Die versteht sich auf ihr Handwerk, Willie, meinen Eid drauf. Sieh nur ihre Augen – so sanft, so schmachtend; und ihre Lippen – was für Lippen, Willie!«

Immer noch kichernd und grinsend und dem papiernen Gesicht alberne Nasenstüber versetzend, marschierte er aus dem Zimmer.

Auf der Schwelle stieß er mit David zusammen. Der Bursche war zurückgeeilt auf der Suche nach seinem Schatz.

»Was hast du da?« fragte er hastig.

»Nur das Bild irgendeines nichtsnutzigen Frauenzimmers«, antwortete sein Vater, immer noch mit den Nasenstübern beschäftigt.

»Her damit, es gehört mir,« – das voller Wut.

»Nein, nein! 's ist ja meine Pflicht, meinen braven David vor dergleichen Dirnen zu schützen.«

Er wandte sich, immer noch lächelnd.

»Hier, Willie! Zerreiß sie – die schamlose Person!«

Mit einem Satz sprang der Rote Will hinzu, besudelte das Bild mitten im Gesicht mit seiner schmutzigen Pfote, zerriß es in zwei Teile und zerkaute es mit wollüstiger, schlabbernder Gier.

David stürzte hinzu.

»Rühr' sie an, wenn du's wagst, du Vieh!« brüllte er und stürmte zum Angriff vor, aber sein Vater hielt ihn zurück.

»Und die Hunde auf der Gasse – –« zitierte er.

Außer sich, wandte sich David gegen ihn.

»Ich hätt' große Lust, dir eine 'runterzuhauen, daß du überhaupt nicht mehr aufstehst.«

»Ruhig, David, immer ruhig Blut! 's war ja nur zu deinem Besten, was dein alter Vater tat. Zu deinem Wohl, das ihm immer am Herzen liegt. Jetzt lauf nur hin nach Kenmuir. Sie wird dich schon trösten; sie geizt ja nicht mit ihrer Gunst, hab' ich gehört; brauchst bloß zu pfeifen, und schon ist sie da –«

David packte seinen Vater an den Schultern.

»Wenn du mit deinen Unverschämtheiten jetzt nicht aufhörst –«, schrie er.

»Unverschämtheiten, Willie«, echote sein Vater sanft.

»Dreh' ich dir 's Genick um!«

»Dreht er mir's Genick um!«

»Geh ich auf der Stelle weg und laß dich mit deinem Willie allein, verstanden?«

Der Kleine fing an zu greinen.

»Das wird deinem Vater das Herz brechen, Junge«, beschwor er ihn.

»Nein, denn du hast keins. Aber es wird dich ein für allemal ruinieren.«

Sein Vater brach in einen Sturm von Tränen aus.

»O Gott! O Gott, Willie, hast du's gehört? Er will uns verlassen – der Sohn meiner Lenden! Mein Benjamin! Mein kleiner David!«

David wandte sich den Berg hinunter. Am Steinigen Grund drehte er noch einmal um.

»Noch eine letzte Warnung!« schrie er zurück. »Halt ein scharfes Auge auf deinen Willie und auf das, was er nachts treibt.«

Im Nu ließ der Kleine jeden Scherz fahren.

»Was sagst du da?« forschte er, ihm den Berg hinab folgend.

»Ha,« höhnte sein Sohn, »wirst schon bald mehr davon hören.«

Eine volle Stunde brauchte er für den Weg vom Kornhof nach Kenmuir – eine Stunde für eine Strecke, die er sonst in einem Viertel der Zeit zurückgelegt. Als er sich mit bleiernen Füßen über den Hof schleppte, hatte er seinen Vater, den Schwarzen Würger und den Roten Will weit hinter sich gelassen; vor sich her trieb er sein Geschick, das er diesem Kind von einem Mädchen zu Füßen legen wollte.

Maggie war allein in der Küche am Ofen, mit einem Strickstrumpf in der Hand.

David pflanzte sich in der Tür auf. Liebevoll ruhten seine Augen auf der schlanken ahnungslosen Gestalt, auf dem halb abgekehrten Antlitz, dem hübschen braunen Haarknoten und den zierlichen Fesseln, die bescheiden unter den Röcken hervorguckten.

»Meg!« rief er endlich leise.

Sie wandte sich, das rasche Blut schoß ihr in die Wangen; dann drehte sie sich noch einmal um, steinern, gleich einer Statue.

»Meg!« Es war eine demütig flehende Bitte.

Keine Antwort. Die stählernen Nadeln klirrten rascher; das stählerne Herz rührte sich nicht; nur die sehr menschlichen Schultern zuckten ein wenig.

Lange Pause.

»Mädelchen!« bat er, sich des alten Kosenamens bedienend.

Sie strickte weiter, unerbittlich. Das Klappern der Stricknadeln erstickte in dem Schweigen einen leisen, kaum hörbaren Ton, der ein übervolles Herz verriet.

»Willst denn gar nicht mit mir reden, Mädel?« bat er.

Keine Antwort.

Des Burschen Herz verhärtete sich. Er war verletzt, erstaunt, empört. Das war nicht seine weichherzige Maggie von ehedem. Zorn brannte ihm in den Wangen; dann stieg ein Schluchzen in seiner Kehle auf und erstickte das Feuer. Er hatte in letzter Zeit so viel erduldet, daß er sich tiefinnerlich nach fraulichem Mitgefühl sehnte: nach einem Blick, einem Wort, einer stummen Liebkosung, wie er sie kaum mehr gekannt, seit seine zweite Mutter ihm gestorben.

Er hatte so stark gehofft, und jetzt blieb ihm, bar jeder Hoffnung, nichts mehr in dieser unmütterlichen Welt. Das Ende war da; er konnte nicht mehr.

Es dauerte eine ganze Weile, ehe er sich genügend gefaßt hatte, um reden zu können. Das knabenhafte Gesicht war grau, Tränen klangen aus seiner Stimme.

»Dann leb' also wohl, Mädel. Ich geh Montag fort. Jetzt hält mich nichts mehr hier. Auf dem Kornhof halt' ich's nicht einen Tag länger aus. Solange Kenmuir noch mein Heim war, könnt ich's ertragen. Jetzt ist nirgends für mich ein Platz. Ich troll' mich drum lieber, eh' es noch schlimmer wird.« Er hielt inne, seine Stimme bebte. »Ich dank' dir auch schön, Meg, für all das Gute, das du mir getan. Kenmuir ist mir diese zehn Jahre lang ein Heim gewesen. 's tut mir arg leid, daß es so kommen mußte. – – – Und – – und ich wollte noch sagen, ich habe auch nicht eine glückliche Stunde gehabt seit – – seit unser Zank begann. Ich hatte unrecht, ich weiß es wohl. Hab' oft gewünscht, ich könnte kommen und dir's sagen, daß es mir leid tut – – – aber – – aber – – du weißt ja – – – – ich bin ein bißchen – – ein bißchen – – – –« Ganz plötzlich hatte sich das Mädel hingesetzt, ihr Gesicht in die Schürze vergraben, und jetzt öffneten sich die Schleusen ihrer Seele sperrangelweit.

In der nächsten Sekunde stand David neben ihr, zärtlich über sie gebeugt.

»Maggie,« rief er, das Herz in der Kehle, »es tut mir wirklich leid, Mädel.«

»Ich hasse dich,« jammerte sie mit zitternder, hoher Stimme.

»Nein, das tust du nicht, Mädel«, bat er und zog ihr sanft die Hände vom Gesicht. »Sag', daß du mir verziehen hast.«

»Nein!« rief sie, sich sträubend, »ich finde, du bist der scheußlichste Bursch, der je gelebt hat!«

Langsam wich er zurück und gab ihre Hände frei; dann trat er plötzlich vor, hob das tränenüberströmte, gesenkte Gesichtchen in seine beiden groben Hände und küßte es zweimal.

»Du Feigling!« rief sie mit blutroten Wangen, während sie sich ihm zu entwinden suchte.

»Früher hast du's mir doch erlaubt, Meg«, erinnerte er sie.

»Niemals!« rief sie, über ihrer Entrüstung gänzlich die Wahrheit vergessend.

»Doch, doch, das hast du – als wir noch klein waren; das heißt, damals warst du ganz fürs Küssen, und ich immer dagegen. Und jetzt,« – voller Bitterkeit – »jetzt darf ich dich nicht mal über 'ne Steinmauer weg von der Seite angucken.«

Momentan guckte er sie grade aus weit größerer Nähe an, und in ihrer Lage – er hielt sie immer noch fest – konnte sie nicht anders, als zurückgucken. Er blickte recht demütig drein – recht reuig, dies eine Mal, und vorwurfsvoll zugleich mit seinen feuchten Augen, und trotz alledem lugte irgendwo der alte, unverschämte David hervor, daß ihr Zorn wider ihren Willen schwand.

»Sag', daß du mir verzeihst,« flehte er, »und ich laß dich los.«

»Niemals!« Allein in ihrem Herzen war geringere Überzeugungskraft als in ihrer Stimme, und der Bursche schien das zu erkennen.

»Zeig's mir dann«, bettelte er. »Es gibt ja noch was anderes als Worte.«

»Nimm die Hände fort«, befahl sie gebieterisch.

»Nein; nicht bis du's mir gezeigt hast.«

»Was fällt dir ein!« rief sie mitten unter Tränen mit recht durchsichtiger Empörung.

Er blieb unerbittlich.

»Bitte, bitte, David!« Der Ton war ein reizendes Flehen, und ein Blick traf ihn ans feuchten Augen.

»Bitte, bitte!« bettelte er und gehorchte.

Das reizende Gesicht senkte sich von neuem.

Lange, lange Pause.

»Meg!«

»Es hat ja doch keinen Zweck, David.«

»Doch.«

Abermalige Pause.

»Nein.«

»Bitte.«

Langes, inhaltsschweres Schweigen.

»Unverschämter!« murmelte sie und blickte auf, das Gesicht ganz tränennaß, die reifen Lippen geschürzt, um die seinen zu kosten.

»Ja«, antwortete er, dann trank er tief.

»Ich wundere mich über dich, David«, flüsterte sie.

*

Das war die Lage, als eine leise, verzückte Stimme die beiden unterbrach: »Ach, Willie, wärst du doch hier!«

Es war der kleine M'Adam. Grinsend beugte er sich zum Fenster hinein.

»Der kritische Augenblick! Und ich muß dazwischen kommen ... David, das wirst du mir niemals verzeihen!«

Mit einem Fluch machte der Bursche kehrt; Maggie sprang auf, blutübergossen. Der Ton, die Worte, die ganze Art des Kleinen am Fenster waren unleidlich.

»Himmeldonnerwetter! Ich werd' dich lehren, mir nachzuspionieren!« brüllte der Bursche. Über ihm auf dem Kaminsims blitzte der Schäferpreis. In seiner Wut, auf der Suche nach irgendeinem Wurfgeschoß, wollte er ihn packen.

»So ist's recht, gib ihn mir zurück. Hast ihn mir ja gestohlen«, rief der Kleine und hielt dem Schatz beide Arme entgegen.

»Tu's nicht, David!« flehte Maggie mit warnender Hand auf ihres Liebsten Arm.

»Der Teufel' hol ihn! Ich werd's ihm schon geben!« schrie der Bursche.

Dicht neben ihm stand ein Eimer Wasser. Er packte ihn, schwang ihn und schleuderte den ganzen Inhalt in die grinsende Fratze am Fenster.

Der kleine Mann fuhr zurück; allein der schmutzige Strom holte ihn ein und duschte ihn bis aufs Hemd. Ihm nach folgte der Eimer selbst; er traf ihn voll auf der Brust, daß er sich im Kot am Boden wälzte. Dem Eimer nach stürmte David.

»Ich werd's ihm zeigen, mir nachzuspionieren!« schrie er.

Maggie, das Gesicht so weiß, wie es vordem purpurn flammte, klammerte sich an seinen Arm und hielt ihn fest.

»Tu's nicht, David, tu's nicht!« bettelte sie. »Er ist doch dein Vater.«

»Ich werd' ihm was vatern! Ich werd's ihm eintränken!« brüllte der Bursche, halbwegs zum Fenster heraus.

In diesem Moment polterte Sam'l hastig um die Ecke des Wagen Schuppens, ihm nach Enry und Job.

»Ist er tot?« schrie Sam'l, als er die zu Boden gestreckte Gestalt erblickte.

»Ho! Ho!« belferten die anderen beiden.

Sie hoben den triefenden Kleinen Mann auf und schoben ihn unsanft, gleich einem Dieb, ein Mann an jeder Seite und ein Dritter im Rücken, zum Hof hinaus. Als sie ihn durch das Tor expedierten, drehte er sich krampfhaft um.

»Bei dem, der dich geschaffen hat, du sollst hierfür zahlen, David M'Adam, du und dein – – –« Aber Sam'ls große Faust verschloß ihm den Mund, und sie schleppten ihn fort, ehe das letzte schmutzige Wort ins Leben flatterte.


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