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Vierundzwanzigstes Kapitel

Mann und Mädchen

Im Dorf wurden über der neuen Sensation selbst der Schwarze Würger und der Mord auf der Halde vergessen. Das Geheimnisvolle der ganzen Angelegenheit, das Fehlen jeglicher Einzelheit verschärfte noch das allgemeine Interesse. Es war zu Tätlichkeiten gekommen; M'Adam und »Der Schrecken« hatten den Kürzeren gezogen; David war verschwunden: so lauteten die Tatsachen. Aber wie die Sache ihren Ursprung genommen, das wußte niemand. Allerdings hegten ein oder zwei von den Talmännern einen schlauen Verdacht; Tupper blickte schuldbewußt drein; Jem Burton murmelte: »Ich wußte ja, wie's kommen würde«, und was den langen Kirby anbelangt, so war und blieb er verschwunden.

Trotz seiner Verletzungen hatte sich M'Adam genügend erholt, um am Samstag nach dem Streit im »Sylvester-Wappen« zu erscheinen. Schweigend betrat er das Schankzimmer, ohne das leiseste Wort an irgendeine Seele zu richten, den Arm in der Schlinge und den Kopf bandagiert. Kritisch musterte er jeden einzelnen, und alle mit Ausnahme von Tammas, der unverschämt, und Jim Mason, der unschuldig war, wurden unruhig unter seinem starren Blick. Und vielleicht war es auch für den langen Kirby ganz gut, daß er fehlte.

»Was passiert?« fragte Jem endlich ziemlich lahm angesichts der unverkennbaren Kampfesspuren.

»Nein, nichts Besonderes«, lautete des Kleinen kichernde Antwort. »Nichts weiter, als daß David mich überfiel, während ich schlief! Und jetzt,« – achselzuckend – »jetzt bin ich eben hier.«

Er setzte sich grinsend und schüttelte den verbundenen Kopf.

»Ihr wißt ja, er ist so schalkhaft, mein David, 'nen Schlag übern Kopf mit 'nem Stuhl, 'nen Tritt ins Gesicht und 'nen Stoß in den Bauch, und alles nur zum Scherz.« Und weiter war nichts aus ihm herauszubringen, außer daß er fest entschlossen sei, falls David wieder auftauchte, ihn wegen versuchten Vatermords der Polizei auszuhändigen.

»›Tätlicher Angriff eines Sohnes gegen seinen alten Vater‹, 's wird sich im ›Argus‹ hübsch ausnehmen – hihi! Unter zwei Jahren kommt er nicht weg, mein' ich.«

M'Adams Bericht über die Sache wurde mit stillem Unglauben hingenommen. Der allgemeine Spruch lautete, daß er die Strafe ausschließlich sich selbst zuzuschreiben hätte. Ja, Tammas, der stets grob wurde, wenn er nicht witzig war – und in Wahrheit beträgt der Unterschied zwischen beidem nur ein Grad –, erklärte ihm rundheraus:

»Geschieht Euch recht! Ich wollt', er hätt' Euch den Garaus gemacht!«

»Er hat ja sein Möglichstes getan, armer Junge«, tröstete ihn M'Adam sanft.

»Wir haben Euch satt«, fuhr der Alte unerbittlich fort. »Mir tut's direkt leid, daß er Euch nicht die Kehle durchschnitten hat, wenn er schon dabei war.«

Bei diesen Worten zog M'Adam die Augenbrauen hoch, starrte ihn an und stieß einen leisen Pfiff aus.

»Das ist es also, das?« murmelte er, als wäre ihm ein Licht aufgegangen. »Ah, jetzt versteh' ich.«

Die Tage verstrichen. Noch immer keine Nachricht von dem Vermißten, und Maggies Gesicht wurde bleich und abgehärmt zum Gotterbarmen.

Natürlich weigerte sie sich, zu glauben, David hätte versucht, seinen Vater zu ermorden, mochte er noch so gereizt worden sein. Dennoch war der Gedanke furchtbar, daß er jeden Augenblick verhaftet werden könnte, und ihre kindliche Phantasie arbeitete unablässig daran, Schreckensbilder einer Gerichtsverhandlung, Überführung und der anschließenden Dinge heraufzubeschwören.

Da rief Sam'l eine phantastische Theorie ins Leben: der Kleine habe seinen Sohn ermordet und den zerfleischten Körper in den ausgetrockneten Brunnen des Kornhofs geworfen. Die Geschichte war natürlich barer Unsinn und hätte, zumal aus derartiger Quelle stammend, mit wohlverdientem Spott zurückgewiesen werden müssen. Allein sie diente dazu, des Mädchens Befürchtungen die Krone aufzusetzen, und Maggie beschloß, koste es was es wolle, M'Adam aufzusuchen, um zu erfahren, ob er ihren nagenden Sorgen nicht ein Ende machen könne.

Sie verschwieg diesen Vorsatz ihrem Vater, sie wußte, er würde ihr die Ausführung sanft, aber entschieden verbieten; und eines Nachmittags, als die Gelegenheit günstig war, nahm sie ihr Tuch, warf es sich um den Kopf und floh klopfenden Herzens aus der Farm den Abhang hinunter zur Wastrel.

Die kleine Plankenbrücke rasselte unter ihren Schritten, und sie beschleunigte ihren Lauf aus Furcht, jemand könne sie gehört haben und sie beobachten. Und wirklich knarrte die Brücke jetzt ein zweites Mal, so daß das Mädchen sich schuldbewußt umblickte. Es war aber nur Old Bob, der ihr in großen Sätzen nachsprang, und sie freute sich darüber.

»Kommst mit mir, Jung'?« fragte sie, als der alte Hund herantrabte, dankbar, den grauen Beschützer an ihrer Seite zu wissen.

Um den Langholmer Wald herum, über die sommerlichen Hänge der Moorspitze flohen die beiden Verschwörer, bis sie endlich den Steinigen Grund erreichten. Hinunter die mit Brombeergestrüpp bewachsene Böschung der Schlucht glitt das Mädchen, suchte sich Stein für Stein den Weg über den Bach, der dort rieselte, und kletterte die jenseitige Böschung empor.

Oben hielt sie inne und blickte zurück. Der Rauch von Kenmuir stieg in trägen Windungen zum Himmel auf, rechts schmiegten sich die niedrigen grauen Häuser des Dorfs an den Busen des Tals; weit jenseits der Marken ragte der hagere Ödberg, und vor ihm dehnten sich die schwellenden Hänge der Moorspitze, während im Hintergrund – sie warf einen scheuen Blick über die Schulter – der Kornhof einer riesenhaften Kröte gleich auf dem Rücken des Hügels hockte.

Ihr Mut sank. In ihrem ganzen Leben hatte sie nie ein Wort mit M'Adam gesprochen, und doch kannte sie ihn recht gut nach Davids Schilderungen und haßte ihn auch um Davids willen. Sie haßte und fürchtete ihn zugleich, fürchtete ihn wie den Tod – diesen schrecklichen kleinen Mann. Schaudernd erinnerte sie sich des verschwommenen Gesichts am Fenster und des notorischen Hasses, den er auf ihren Vater geworfen. Doch selbst M'Adam würde einem Mädchen, das verzweifelt nach ihrem Liebsten fragte, wohl kaum etwas zuleide tun. Außerdem – hatte sie nicht Old Bob?

Als sie sich umwandte, sah sie den alten Hund oben am Gipfel stehen; er blickte sie an, fragend, weshalb sie wohl zögere?

»Bin ich dir nicht genug?« schienen die treuen grauen Augen zu fragen.

»Junge, ich fürchte mich«, antwortete sie laut.

Allein jener Blick war entscheidend. Sie biß die Zähne aufeinander, zog ihr Tuch fester und eilte den Berg hinan.

Bald verlangsamte sich ihr Lauf zu einem Gehen, das Gehen zu einem Schleichen und das Schleichen zu einer Pause. Ihr Atem ging in mühsamen Stößen, das Herz flatterte ihr gegen die Rippen wie ein gefangener Vogel.

Wieder blickte der graue Wächter sie an, aufmunternd, anfeuernd.

»Bleib dicht bei mir, Jung'!« flüsterte sie und nahm einen neuen Anlauf. Und der alte Hund trottete an ihrer Seite und drängte sich gegen ihre Röcke, als wolle er sie seine Gegenwart fühlen lassen.

So erreichten sie den Gipfel. Vor ihnen stand das Haus, finster, unfreundlich.

Des Mädchens Gesicht war jetzt sehr bleich, aber entschlossen; deutlich trat die Ähnlichkeit mit ihrem Vater hervor. Mit zusammengepreßten Lippen, schwer atmend, betrat sie die Schwelle, leise, wie in einem Sterbehaus. Dort hielt sie an und gebot ihrem Begleiter mit warnendem Finger, daß er draußen warten solle; dann wandte sie sich zur Tür links und klopfte.

Sie lauschte, den Kopf in ihr Tuch vergraben, eng an die Türfüllung gepreßt. Keine Antwort: nichts als das Pochen ihres eigenen Herzens.

Sie klopfte ein zweites Mal. Drinnen erklang das Scharren eines vorsichtig zurückgerückten Stuhls, dann ein tiefes hohles Knurren.

Ihr Herz stand still, allein sie drückte auf die Klinke und trat ein, hinter sich die Tür einen Spalt offenlassend.

Vor ihr an der gegenüberliegenden Wand saß ein kleiner Mann. Sein Kopf war in einen schmutzigen Verband gehüllt, und eine Flasche stand auf dem Tisch an seiner Seite. Er beugte sich zu ihr vor; sein Gesicht war aschgrau; starre nackte Furcht blickte ihm aus den Augen. Mit der einen Hand hielt er den mächtigen Hund gepackt; die andere deutete mit zitterndem Finger auf Maggie.

»Mein Gott, wer seid Ihr?« rief er heiser.

Das Mädchen war dicht an der Tür stehengeblieben, die Hand immer noch auf der Klinke; angesichts des gespenstischen Paars bebte sie wie Espenlaub.

Der Ausdruck in des Kleinen Augen lähmte sie; die erweiterten Pupillen, die weit aufgerissenen wimperlosen Lider, die lückenhafte Zahnreihe in dem gaffenden Mund, das alles traf sie eiskalt bis ins Mark. Gerüchte von des Kleinen Wahnsinn stürmten auf sie ein.

»Ich bin – ich –«, die Worte kamen ängstlich und scheu hervor.

Schon bei dem ersten Laut sank die bebende Hand hernieder; mit einem Seufzer unendlicher Erleichterung ließ sich der Kleine in seinen Stuhl zurückfallen.

Seit seiner Frau Tod hatte kein Weib seine Schwelle überschritten, und einen Augenblick lang bei des Mädchens lautlosem Eintritt, der ihn aus Träumen von Vergangenem aufgerüttelt, hatte er die verhüllte Gestalt mit dem bleichen Gesicht und den schüchtern hervorlugenden Haaren für keinen irdischen Gast gehalten – nein, für den Geist derer, die er vor langer Zeit geliebt und verloren, gekommen, um ihn eines gebrochenen Versprechens zu zichtigen.

»Red' nur – ich kann hören«, sagte er in einem Ton, der, verglichen mit seinen letzten wilden Worten, milde klang.

»Ich – ich bin Maggie Moore«, stotterte das Mädchen.

»Moore! Maggie Moore, sagst du?« Halb sprang er vom Stuhl auf, eine dumpfe Blutwelle im Gesicht. »Die Tochter von James Moore?« Er schwieg und blickte sie finster an, sie wich zitternd vor ihm zurück.

Der Kleine Mann lehnte sich zurück in den Stuhl. Langsam kroch ein dunkles Lächeln über sein Antlitz.

»Nun, Maggie Moore,« meinte er halb und halb belustigt, »zum mindesten hast du Mut.« Und seine verwitterten Züge blickten unter dem schmutzigen Bandagenkopfputz fast wohlwollend.

Dem Mädchen strömte der Mut zurück. Schließlich war ja der Kleine gar nicht so furchtbar. Vielleicht würde er sogar freundlich sein. In der Erlösung des Augenblicks stieg ihr das Blut von neuem ins Gesicht.

Allein es sollte noch nicht zum Frieden kommen. Noch glühten ihre Wangen, da vernahm sie vom Gange her das Rascheln weicher Pfoten. Eine dunkle, graugefleckte Schnauze schob sich durch den Spalt, zwei besorgte Augen folgten.

Noch ehe sie Old Bob zurückwinken konnte, hatte der Rote Will den Eindringling entdeckt. Aufheulend riß er sich von der bändigenden Hand los und schnellte sich durch den Raum.

»Zurück, Bob!« schrie das Mädchen, und der dunkle Kopf verschwand.

Krachend fiel die Tür ins Schloß, als der mächtige Hund sich dagegen warf, und Maggie wurde, atemlos und bleich, in eine Ecke geschleudert.

Im Nu war M'Adam auf den Beinen und deutete verzerrten Ausdrucks auf Maggie.

»Hast du ihn mitgebracht? Du wagst es, den dort an meine Tür zu bringen?«

Angstgeschüttelt duckte sich Maggie in ihrer Ecke. Der Rote Will kauerte jetzt neben ihr; er knurrte bösartig. Die Nase an der Schwelle, versuchte er eifrig kratzend hinauszugelangen, während Old Bob gleichfalls an der Ritze schnüffelte und scharrend um Einlaß bat. Nur ein paar elende Bretter trennten die beiden Todfeinde.

»Ich bracht' ihn, mich zu beschützen. Ich – ich fürchtete mich.«

»Fürchten? Muß mich wundern, daß du dich nicht fürchtetest, ihn hierherzubringen.« Er wandte sich gegen den mächtigen Köter. »Willie, Willie, was fällt dir ein! Hierher! Leg dich – so! Unter meinen Stuhl! Braver Bursch! Jetzt ist nicht die Zeit mit ihm abzurechnen. Wir können warten, Willie, können warten.«

Dann wandte er sich wieder an Maggie: »Wenn du willst, daß er in acht Wochen beim Turnier mitläuft, ist's besser, ihn nicht wieder hierher zu lassen. Tust du's doch, kommt er nicht wieder fort. Dafür wird schon Willie sorgen – So, und was willst du von mir?«

In ihrer sinnlosen Angst blieb das Mädchen in der Ecke stumm.

M'Adam merkte ihr Zaudern und grinste ironisch.

»Ich seh', wie es ist,« sagte er, »dein Papa hat dich geschickt. Hat schon einmal was von mir gewollt, und hat er's etwa selbst geholt wie ein Mann? Ist ihm nicht eingefallen. Den Sohn schickte er aus, seinen eigenen Vater zu berauben.« Er beugte sich vor und funkelte sie an. »Ja, und das ist noch nicht alles. In der Nacht, da der David mich überfiel, kam er stracks von Kenmuir.« Die letzten Worte waren mit zischender Emphase gesprochen. Er hielt inne und starrte sie fest an, doch sie blieb weiter stumm. »Wär' ich umgebracht worden, hätt' Willie im Turnier nicht mitlaufen können. Adam M'Adam aus dem Wege geräumt – verstehst du jetzt? Hast du's eingesehen?«

Das hatte sie nicht; er erkannte es und war's zufrieden.

Sie wußte und fragte nicht nach dem, was er gesagt. Sie dachte nur an ihre Mission, vor sich sah sie nichts als den Vater des Mannes, den sie liebte, und eine Welle des Gefühls durchströmte sie. Scheu schritt sie auf ihn zu mit ausgestreckten Händen.

»Mr. M'Adam,« bettelte sie, »ich wollt' Euch nach David fragen.« Das Tuch war ihr vom Kopf geglitten und lag lose um ihre Schultern; ihr trauriges Gesicht, das hübsche, wirre Haar und die großen Augen, groß von unvergossenen Tränen, vereinigten sich zu einem rührenden und flehenden Bild. »Wollt Ihr mir nicht sagen, wo er ist? Ich hätt' Euch nicht gefragt, würde Euch nicht belästigen, hätt' ich nicht schon so lange Zeit gewartet; und ich bang mich so nach Nachricht von ihm.«

Der Kleine Mann musterte sie neugierig.

»Ah – nun fällt's mir ein –« wie zu sich selbst – »du bist das Mädel, das ihn heiraten möcht'.«

»Wir sind versprochen«, sagte das Mädchen schlicht.

»Na,« bemerkte der andere wieder, »wie ich schon einmal sagte, Mut hast du.« Dann in einem Tone, darin trotz des Zynismus eine gewisse unfaßbare Trauer lag: »Wenn er dir so'n guter Mann ist, wie er mir 'n Sohn war, machst du 'ne ganz besondere Partie, mein Kind.«

Augenblicklich fuhr Maggie hoch.

»Ein guter Vater macht einen guten Sohn,« antwortete sie fast naseweis; und dann, mit unendlicher Liebe, »und ich bitte zu Gott, daß eine gute Frau auch einen guten Mann machen möchte.«

Er lächelte spöttisch, aber das Mädchen bemerkte den stummen Hohn nicht, so ganz war sie ihrer Sache hingegeben. Sie hatte von einem verwundbaren Punkt im Herzen dieses kleinen Mannes mit dem müden Gesicht und der giftigen Zunge gehört, und sie beschloß, an diesen zu rühren und so ihr Ziel zu erreichen.

»Ihr habt selbst einmal ein Mädel geliebt, Mr. M'Adam. Wie wär' Euch zumute gewesen, war sie fortgegangen und hätt' Euch im Stich gelassen? Zornig wärt Ihr geworden und außer Euch. Ihr wißt's ganz genau. Mr. M'Adam, ich liebe den Burschen, den auch Eure Frau geliebt!« Sie hatte sich auf die Knie fallen lassen, beide Hände auf seinem Schoß, den Blick fest zu ihm aufgerichtet. Ihr kummervolles Gesicht und die zitternden Lippen sprachen beredter als alle Worte.

Der Kleine Mann war gerührt.

»Schon gut, Mädel, schon gut,« sagte er und suchte den großen flehenden Augen auszuweichen, die sich indes nicht abweisen ließen, »jetzt ist's aber genug.«

»Wollt Ihr mir's nicht sagen?« bat sie.

»Ich kann dir's nicht sagen, Mädel, weil ich's selber nicht weiß«, entgegnete er ungeduldig. In Wahrheit rührte ihn ihr Unglück tief.

Ihre letzte Hoffnung war dahin. Sie hatte ihren Trumpf ausgespielt, er hatte versagt. Mit der ganzen Glut der Verzweiflung hatte sie sich an dieses letzte Mittel geklammert; jetzt war ihr auch das entrissen. In der Bitterkeit ihrer Enttäuschung erinnerte sie sich daran, daß dieser Mann es gewesen war, der ihren Liebsten in die Verbannung getrieben.

Sie erhob sich und trat zurück.

»Ihr wißt's nicht und fragt auch nicht danach!« rief sie bitter.

Alle Rührung wich aus des Kleinen Mannes Gesicht.

»Du tust mir unrecht, Mädel, wahrhaftig unrecht«, sagte er und blickte sie mit geheuchelter Unschuld an, die, hätte sie ihn besser gekannt, sie hätte warnen müssen. »Wüßt' ich, wo der Junge steckte, ich wär' der erste, es dich – und die Polizei – wissen zu lassen – nicht wahr, Willie, hehe!« Er kicherte und rieb sich die Knie, ohne der flammenden Verachtung, die sich auf des Mädels Gesicht malte, zu achten.

»Kann dir nicht sagen, wo er sich jetzt aufhält, aber vielleicht möchtest du wissen, wie ich zuletzt mit ihm zusammentraf?« Er rückte seinen Stuhl zurecht, um besser das Wort an sie zu richten. »Es war so: ich saß hier auf diesem nämlichen Stuhl – eingeschlafen, als er von hinten herankroch und mir auf den Rücken sprang. Ich merkt' es erst, als ich auf dem Boden lag und er auf mir kniete. ›Deine Zeit ist um, Vater,‹ sagt er, ›ich mach dir jetzt den Garaus.‹ ›Verschone mich,‹ sagt ich, ›verschone mich, lieber Davie, um deines Halses willen.‹ ›Das könnt' dir so passen!‹ sagt' er und trommelte mit meinem Schädel gegen den Fußboden. ›Laß mir doch Zeit für ein kurzes Gebet, lieber Junge!‹ sagt' ich –«

Mit prachtvoller Verachtung gebot sie ihm Schweigen.

»Ihr lügt; jedes Wort ist gelogen!«

Der Kleine zog die Hosen zurecht, schlug die Beine übereinander und gähnte.

»Ne ehrliche Lüge zu 'nem ehrlichen Zweck, des braucht sich keiner zu schämen; wirst's schon selbst erfahren, wenn du erst so alt bist wie ich, Mädel.«

Das Mädchen querte das Zimmer. An der Tür wandte sie sich noch einmal um. »Ihr wollt mir also nicht sagen, wo er ist?« fragte sie mit herzbewegender Stimme.

»Auf mein Wort, Mädel, ich weiß es nicht«, rief er halb leidenschaftlich.

»Auf Euer Wort, M'Adam?« wiederholte sie mit so ruhiger Verachtung, daß selbst Ischariot hätte zusammenzucken müssen.

Der Kleine fuhr herum, Zornesröte im Gesicht. Im nächsten Augenblick war er wieder der liebenswürdig Lächelnde.

»Ich kann dir nicht sagen, wo er jetzt ist,« meinte er, »aber vielleicht kann ich dir verraten, wohin er gehen wird.«

»Könnt Ihr's? Wollt Ihr's?« rief das Mädchen gutgläubig, und in der nächsten Sekunde hatte sie sich vor ihm auf die Knie niedergelassen.

»Noch näher heran; ich werd' dir's ins Ohr flüstern.«

Das kleine Ohr spähte aus der braunen Lockenfülle hervor und näherte sich seinen Lippen.

M'Adam beugte sich vor und flüsterte – ein einziges kurzes, scharfes Wort; dann lehnte er sich grinsend in seinen Stuhl zurück, um die Wirkung zu genießen.

Das war seine Rache – eine merkwürdige Rache gegenüber einem solchen Opfer. Und während er beobachtete, wie auf des Mädchens Antlitz bittere Enttäuschung in heiße Empörung überging, hatte er noch genügend Anstand, sich seines Triumphes zu schämen.

Sie sprang zurück wie vor einem unreinen Tier.

»Und Ihr wollt sein Vater sein!« rief sie brennend.

Wieder durchschritt sie das Zimmer. Vor der Tür blieb sie stehen. Ihr Gesicht war bleich und sie war völlig gefaßt.

»Wenn David Euch wirklich geschlagen hat, habt Ihr ihn dazu getrieben«, sagte sie ruhig und leise. »Ihr müßt's wissen – keiner weiß es so gut wie Ihr selbst – ob Ihr ihm ein guter Vater gewesen – dem armen Kerl, der keine Mutter hatte; ob Ihr ihm gewesen seid, was sie von Euch gewünscht hätte. Fragt Euer Gewissen, Mr. M'Adam. Und wenn er mitunter recht ungezogen war, hatte er nicht allen Grund dazu? Sein war ein schweres Kreuz, das war es wirklich, und Ihr wißt am besten, ob Ihr's ihm erleichtert habt.«

Der kleine Mann deutete mit dem Finger zur Tür, aber das Mädchen fuhr fort:

»Glaubt nicht, wenn Ihr schlecht zu ihm wart mit Eurem Hohn und Spott, daß er's nicht fühlte – nur weil er zu stolz war, es Euch zu zeigen. Er hatte ein großes, ein weiches Herz, das hatte David unter der Kruste. Oft war ich dabei, als Mutter noch lebte, wenn er sich ihr in die Arme warf und weinte: ›Ach hätt' ich die Mutter noch! Da war alles ganz anders, als Mutter noch am Leben war – da war er freundlich zu mir. Und nun hab' ich niemanden – bin ganz allein!‹ und dann schluchzte und schluchzte er in Mutters Armen, und sie weinte selbst mit und tröstete ihn, den kleinen Burschen, der sich nicht trösten lassen wollte und immer rief: ›Jetzt hat mich niemand lieb – ich bin ganz allein. Mutter ist tot; ich wollt', sie hätt' mich mitgenommen.‹«

Die klare kindliche Stimme bebte.

M'Adam, den Kopf abgewandt, winkte ihr stumm, zu gehen. Doch sie fuhr sanft, traurig und unerbittlich fort:

»Und was wollt Ihr seiner Mutter sagen, wenn Ihr sie wiederseht, wie es bald kommen muß, und sie Euch fragt: ›Und wo ist David? Was ist mit dem Bub, den ich dir ließ, daß du ihn mir behütetest, getreulich und brav, bis auf den heutigen Tag?‹ Dann werdet Ihr die Wahrheit sagen müssen – Gottes Wahrheit; und Ihr werdet antworten müssen: ›Seit dem Tage, da du mich verließest, hab' ich ihm kein gutes Wort gegeben; niemals hab' ich Geduld mit ihm gehabt, niemals hab' ich's auch nur versucht; und zuletzt hab' ich ihn durch meine Verfolgungen noch zu 'nem Mordversuch gegen mich getrieben.‹ Vielleicht wird sie Euch dann anschaun – Ihr wißt selbst am besten, wie – und sagen: ›Adam! Adam! Hab' ich das um dich verdient?‹«

Die leise unerbittliche Stimme schwieg. Lautlos glitt das Mädchen aus dem Zimmer und ließ M'Adam allein mit seinen Gedanken und den Erinnerungen an seine tote Frau.

»Vater und Mutter mit eins! Vater und Mutter mit eins!« klang es ihm unbarmherzig in den Ohren.


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