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Sechstes Kapitel

Eines Mannes Sohn

Nachdem sich der erste Blitz entladen, legte M'Adam seiner hitzigen Feindschaft gegen James Moore keinerlei Fessel mehr an.

Die beiden stießen oft zusammen. Es war des kleinen Mannes Gewohnheit, als Heimweg den Fußpfad quer durch Kenmuir zu wählen. Der führte ihn zwar einen Umweg, aber er zog ihn doch der anderen Straße vor, da er ihm Gelegenheit bot, seinen Feind zu ärgern.

Von jetzt ab spukte er als böser Hausgeist ständig auf Kenmuir. Als der ungeschickte Sam'l bei der Schafschur ein wertvolles Mutterschaf verletzte und den Schaden mit Werg und Teer kurieren wollte, tauchte oberhalb der Hofmauer eine gelbe Fratze auf: ganz strahlendes, höhnisches Mitgefühl.

»Liebe Zeit! Liebe Zeit!« spottete eine besorgte Stimme. »Schickt doch nach unserem Bob! Holt den lieben, braven, alten Bobbie. Der wird ihm einen Kuß geben und – – « Ein Blitz, ein Krach; eine graue Gestalt nimmt in elegantem Bogen die Mauer, und der Kleine flieht unter einem Sturm von Schadenfreude die Landstraße entlang. Das war in den meisten Fällen der Lohn seines Wagemuts.

Zweimal ward der Versuch unternommen, die Fehde beizulegen. Jim Mason, der durchs Leben schritt in dem Bemühen, Gutes zu stiften, suchte auf seine schüchterne Art die Aussöhnung herbeizuführen. Allein M'Adam und sein Roter Will schlugen ihn und Betsy sehr bald in die Flucht.

»Gebt auf Eure Briefe und Eure Fallen acht, Herr Wilddieb-Postbote. Ja, ich habe die beiden getroffen: den einen unten in der Niederung, den anderen im Steinigen Grund ... und« – ein zärtliches Lächeln dämmerte auf seinem Gesicht – »ah, da ist ja Willie – humorvoller Knirps! Seht, wie er als Kostprobe Betsys Gurgel abschleckt!« Wirklich lag dort die treue Betsy, alle viere von sich gestreckt, während breitbeinig über ihr mit verzerrter Schnauze und gefährlich röchelndem Atem der Rote Will – jetzt ein fast ausgewachsener, ungeschlachter Köter – auf den geringsten Vorwand zum Zuschnappen lauerte.

»Willie, laß die Dame sein. Du hast dein Mittagbrot schon gehabt.«

Pastor Leggy trat kraft seines Amts als zweiter Vermittler auf. Erst machte er sich an James Moore heran; der aber schnitt ihm lakonisch die Rede ab. »Ich hab' nichts gegen den Kleinen«; mehr war nicht aus ihm herauszuholen. Der Streit ging ja auch nicht von ihm aus.

Als der Pastor M'Adam in jener Sache zur Rede stellte, hörte ihn der Kleine mit ominöser Ruhe an.

»Kein Grund für die Kirche, sich einzumischen, und vielen Dank dazu, Mr. Hornbut,« erklärte er endlich sauertöpfisch. Womit der Pastor, wäre er so einsichtig wie wohlmeinend gewesen, es hätte bewenden lassen sollen. Statt dessen tat er das Gegenteil.

Von dem sich anschließenden Streit, von der Hitze des einen, der zynischen Gleichgültigkeit des anderen, die plötzlich jedoch in leidenschaftlichen Ernst umschlug, von der darauffolgenden Stille und der Intervention Cyril Galbraiths, welcher allein verhinderte, daß der aufgebrachte alte Geistliche handgreiflich wurde, sowie von des kleinen Schotten letztem Pfeil: »Hierher, Willie, laß des Gentlemans Beine in Ruh; Krähen und Schwarzröcke soll man nur in Massen abschlachten!« – von alledem schweigt man besser. Genug, daß von jenem Tage an die Vendetta unbehindert ihren verhängnisvollen Lauf nahm.

David war jetzt das einzige Bindeglied zwischen den beiden Höfen. In nacktester Auflehnung gegen seines Vaters Verbot klammerte sich der Junge mit einer Hartnäckigkeit, die keine Prügel zu überwinden vermochte, an seine Freundschaft mit den Moores. Jede Minute, Sonntage und Feiertage eingerechnet, die er außerhalb der Schule war, verbrachte er auf Kenmuir. Erst spät am Abend – jedoch nicht ohne Abendbrot, dafür sorgte schon die mütterliche Mrs. Moore – pflegte er sich nach Hause in seine kleine, kahle Dachkammer zu schleichen. Dort lag er noch lange in wilder Verachtung wach, bis viele Stunden später sein Vater in die Küche torkelte und in grölender Trunkenheit wüste Lieder brüllte.

*

Am Morgen stahl er sich dann leise fort, solange sein Vater noch schlief; nur der Rote Will streckte mitunter seinen tückischen Kopf hinaus und knurrte den Jungen im Vorbeigehen hungrig an.

Bisweilen vergingen Wochen, ohne daß zwischen Vater und Sohn ein Wort oder ein Blick gewechselt wurde. Das war Davids Ziel: sich auszulöschen. Die Geschicklichkeit, die er dabei entfaltete, ersparte ihm manche Tracht Prügel, obwohl in den seltenen Intervallen, in denen sein Vater nüchtern war, regelmäßig eine Schreckensherrschaft einsetzte.

Der kleine Mann schien bar jeder natürlichen Zuneigung zu seinem Sohn. Die ganze Liebe seiner kargen Natur verschwendete er an den Schwanzlosen Köter: das war der Name, den die Talbewohner dem Roten Will gegeben hatten. Er behandelte den Hund mit einer liebevollen Rücksicht, die bei David ein Lächeln, bei dem Pastor einen Tobsuchtsanfall, bei den Bauern ironische Bemerkungen und bei ihren Frauen Entrüstung hervorrief.

Der kleine Mann und sein Hund waren einander moralisch so ähnlich, wie sie sich physisch unähnlich waren. Jeder nährte einen Groll gegen die Welt und war entschlossen, die Rechnung auszugleichen. Jeder war ein Ismael unter seinesgleichen, und diese Einsamkeit schmiedete sie noch fester aneinander. Die Übellaunigkeit fand bei dem einen in der Zunge, bei dem anderen in den Zähnen ihren Ausdruck. Der Hund war die Verkörperung tierischer Kraft, der Mann die Personifizierung menschlicher Schwäche.

Sehr bald errangen die beiden sich in der ganzen Nachbarschaft eine gefährliche Berühmtheit. Mit sauren Blicken und lieblosen Taten schoben sie sich durchs Leben, tot gegen jeden außer gegen sich selbst. Hatte man sie, zwei Aussätzigen gleich, abseits von aller Welt gesehen, so war es eine Offenbarung, wenn man an nüchternen Sommerabenden an dem Hügel unterhalb des Hauses auf sie traf: vertieft in ihre gemeinsamen Spiele, unschuldig, zärtlich, der feindlichen Welt vergessend.

Nie sah man die beiden getrennt, außer wenn M'Adam über Kenmuir nach Hause ging. Nach jenem ersten unglücklichen Abenteuer gestattete er es seiner Zwillingsseele fürder nicht mehr, ihn auf Feindesland zu begleiten; er wußte sehr genau: Schäferhunde haben ein gutes Gedächtnis.

Bis zum Gatter gab der Rote Will seinem Herrn das Geleit. Dort blieb er stehen, bösartig grinste die häßliche Maske durch die Latten, bis der andere seinen Blicken entschwunden war; dann machte er kehrt und trabte kraftstrotzend, trotzig, grämlich und voller Selbstvertrauen genau in der Mitte der Landstraße durch das Dorf – und wehe dem Menschen oder Hund, der ihn auf seinem Wege aufzuhalten suchte. So ging es an Mutter Roß' Kramladen und an dem Wirtshaus sowie, rechts einbiegend, an Kirbys Schmiede vorbei über die Wastrel, vorüber an den Niederungen bis zum Steinigen Grund, wo er nun seinerseits seinen Herrn erwartete.

Auf seinem Wege über Kenmuir begegnete der Kleine häufig Old Bob. Aber bei dieser Gelegenheit ging er vorsichtig an ihm vorüber, und auch der Graue Hund trabte ruhig weiter; nur ein metallischer Schimmer in den Schneewolkenaugen verriet, daß er seines Feindes Gegenwart bemerkt. So gewiß jedoch der kleine Mann in dem Wunsch, seines Gegners Schwächen auszuspionieren, vom Wege abwich, so gewiß brach auch die graue Gestalt, zornig, stumm, in gewaltigen Sätzen aus dem Nichts hervor, und der Kleine mußte unter dem lärmenden Spott aller zufälligen Zeugen um sein Leben rennen.

Bei einer dieser Gelegenheiten wetteiferte David mit Tammas in Witzen auf Kosten seines Vaters.

»Immer los, immer los, Kleiner«, brüllte er hinter der Mauer hervor.

»Heiliger Bimbam, kann der laufen«, schrie Tammas, vom Ehrgeiz angesteckt. »Wie geht's, M'Adam – großartig, was?«

»Sieh doch, wie seine Knie wackeln!« Letzteres kam von dem pflichtvergessenen Sprößling. »Hätt' ich Knie wie die da, ich trüge wahrhaftig Unterröcke.«

Noch während er redete, zwang eine schallende Ohrfeige den Schlingel auf die Knie. Er drehte sich um und gewahrte James Moore, der ihn unter seinen dichten Augenbraunen finster anblickte.

»Schämst dich nicht, David M'Adam? Glaubst, Gott hätte dir einen Vater gegeben, daß du ein Gespött aus ihm machest? Geschieht dir recht, wenn er dich bei der Heimkehr versohlt.«

Zum Glück hatte M'Adam seines Sohnes Stimme nicht erkannt. Aber dem Kleinen ward, unbewußt, Rache zu teil. Am folgenden Morgen bemerkte er zu seinem Sohn:

»David, heut nach der Schule wirst du sofort nach Hause kommen.«

»So, werd' ich das?« fragte David frech.

»Du wirst es.«

»Weshalb denn?«

»Weil ich es will, mein Junge.« Anderen Grund weigerte sich der Vater, anzugeben. Hätte er die einfache Wahrheit gesagt: daß er seine Hilfe brauche, um ein lammendes Schaf zu verarzten, wären die Dinge vielleicht anders verlaufen. So aber trieb David der Trotz, den Weg ins Tal zu wählen.

Der Nachmittag verstrich; die Schule war längst vorüber; noch immer kein David.

Der Kleine Mann wartete auf der Schwelle des Kornhofs; er schäumte und hüpfte in seiner Ungeduld von einem Bein aufs andere, während er sich mit dem Roten Will unterhielt, der, den Kopf zwischen den Pfoten, tigergleich auf seine Beute lauerte.

Endlich vermochte der Kleine nicht länger an sich zu halten. Er begann, heiß vor Empörung, den Berg hinunterzulaufen.

»Warte, bis wir dich unter die Finger kriegen, Bürschchen«, murmelte er.

Am Steinigen Grund ließ er den Roten Will zurück. Er selbst querte die Niederung, umschritt das Langholmer Tal und gewahrte sehr bald James Moore, David und Old Bob, alle drei in der Richtung nach Kenmuir ausschreitend. Der Graue Hund und David spielten miteinander, veranstalteten Ringkämpfe und Wettläufe und tummelten sich auf dem Rasen. Jeder Gedanke an den Vater war vergessen.

Ungesehen, ungehört in dem weichen Grase holte der Kleine sie ein. Seine Hand hatte sich auf Davids Schulter gesenkt, ehe der Junge seine Nähe merkte.

»Sagt' ich nicht, daß du nach der Schule heimzukommen hättest, David?« forschte er, seinen Zorn unter verdächtiger Liebenswürdigkeit verbergend.

»Kann sein. Sagt' ich, daß ich heimkommen würde?«

Die Frechheit von Ton und Wort fachte des Kleinen Zorn zur Flamme an. Aufgebracht schwang er über dem Jungen eine derbe Eschenrute. Doch im Augenblick, da er zuschlagen wollte, traf ihn ein grauer Wirbelwind mitten gegen die Brust, und er knickte wie ein abgebrochener Ast zu Boden. Dort lag er halb betäubt mit einer dunkelgrauen Schnauze an seiner Kehle.

»Zurück, Bob!« schrie James Moore, der hastig herbeigeeilt kam. »Zurück, sag' ich dir!« Er beugte sich über den am Boden Liegenden und stützte ihn ängstlich. »Seid Ihr verletzt, M'Adam? Es tut mir wirklich leid. Er dachte, Ihr wolltet den Jungen schlagen.«

Auch David war hinzugelaufen und neigte sich jetzt tief erschrocken über seinen Vater.

»Bist du verletzt, Papa?«

Unsicher erhob sich der Kleine und schüttelte seine Helfer ab. Sein Gesicht zuckte; so stand er staubbedeckt Aug' in Auge mit seinem Sohn.

»Freust dich am Ende noch, deines Vaters graue Haare im Staub zu sehen, was?«

»Es war ein Mißverständnis,« bat James Moore, »und es tut mir leid. Er glaubte, Ihr wolltet den Jungen schlagen.«

»Das wollte ich auch, und das werde ich auch.«

»Wenn einer Prügel verdient, so ist's mein Bob hier, obwohl er sich im Recht glaubte ... Und ... und außerdem wart Ihr vom Wege abgewichen.«

Der kleine Mann sah seinen Feind lange an, während Hohn seine Lippen kräuselte.

»Ihr könnt ihn nicht prügeln für das, was Ihr ihm selbst befohlen habt, James Moore. Hetzt Euern Hund gegen mich, wann Ihr wollt, aber prügelt ihn nicht, wenn er Euch folgt ... David!« Er wandte sich an seinen Sohn.

Einem Fremden wäre es unmöglich gewesen, des Jungen Vater zu erkennen. Der Bursche hielt jetzt des Großbauern Hand; wenige Schritte entfernt stand bleich und entschlossen M'Adam, und sein Ausdruck verriet, daß er sich der Ironie der Situation bewußt war.

»Willst du jetzt mit mir nach Hause und die Sache zu Ende führen oder bei ihm bleiben und abwarten, bis du die Prügel bekommst?« fragte er seinen Sohn.

»M'Adam, ich bitte Euch – –«

»Nichts mehr davon, James Moore. David, was sagst du?«

David blickte auf in seines Beschützers Gesicht.

»Geh mit deinem Vater, Bub«, sagte der Großbauer nach einer Pause schwer. Der Knabe zögerte und klammerte sich fester an den schützenden Arm; dann schritt er langsam zu seinem Vater hinüber.

Bei dieser Probe des Gehorsams gegen den andern huschte ein bitteres Lächeln über des kleinen Mannes Antlitz.

»Um seinem Freunde zu folgen, verzichtet er sogar auf die Freude, gegen seinen Vater unfolgsam zu sein«, murmelte er.

James Moore und der Graue Hund blickten den beiden nach.

»Ich weiß, Ihr werdet Euren Ärger nicht an dem Buben auslassen, M'Adam«, rief der Großbauer fast flehend.

»Keine Angst, ich tue meine Pflicht, James Moore, ohn' Ansehn der Person«, rief der Kleine zurück, blickte sich jedoch nicht um.

So marschierten Vater und Sohn, einer hinter dem anderen, wie ein Mann mit seinem Hund, und es wurde zwischen ihnen kein Wort gesprochen. Jenseits des Steinigen Grunds gesellte sich der Rote Will ihnen zu, der David zähnefletschend begrüßte. Zu dritt erklommen sie den Berg am Fuße des Gehöfts.

In der Küche wandte sich M'Adam.

»Jetzt bekommst du die größte Tracht Prügel, die du jemals erhalten. Zieh den Rock aus.«

Der Junge gehorchte und stand da in seinem dünnen Hemd, das Gesicht fahl und hart wie aus gemeißeltem Stein. Der Rote Will setzte sich dicht daneben auf seine Hinterbeine, spitzte die Ohren und leckte sich die Lippen: ganz Aufmerksamkeit.

Der kleine Mann bog die Gerte aus Eschenholz zwischen den Fingern und holte zum Schlage aus. Jedoch der Ausdruck auf des Jungen Gesicht ließ ihn innehalten.

»Sag', daß es dir leid tut, und es soll diesmal noch gut abgehen.«

»Nein!«

»Zum letzten Mal – sag', daß du dich schämst!«

»Nein!«

Der Kleine schwang die erbarmungslose Waffe, und der Rote Will veränderte seine Stellung, um besser sehen zu können.

»Mach', daß du zu Ende kommst«, schrie David wütend.

Wieder hob der kleine Mann den Stock und – warf ihn in die entlegenste Ecke. Dort rasselte er zu Boden, M'Adam wandte sich ab.

»Bist schon der elendeste Sohn, den ein Mann je hatte!« rief er gebrochen. »Wenn eines Mannes Sohn nicht zu ihm hält, wer soll's dann tun? – Niemand! – Ungehorsam bist du, unehrerbietig, alles, was du nicht sein solltest. Nur daß du ein Feigling wärest, hab' ich bisher nicht gedacht. Und jetzt hast du nicht die Courage, einzugestehen, daß es dir leid tut, wo du, weiß Gott, allen Grund dazu hättest. – Ich kann dich heut nicht prügeln. Aber zur Schule gehst du mir auch nicht mehr! Hab' dich dort hingeschickt, daß du was lernst. Du willst aber nicht lernen – hast nichts gelernt, außer dem Einen: mir nicht zu folgen – drum sollst du von jetzt ab daheim bleiben und arbeiten.«

Die ungewohnte Gemütsbewegung des Vaters, die gebrochene Stimme und das krampfhaft zuckende Gesicht bewirkten das, was alle Prügel und aller Hohn der Welt nicht vermocht hatten. Des Knaben Gewissen regte sich. Unklar dämmerte ihm auf, daß auch sein Vater vielleicht Grund zur Klage hätte; daß er vielleicht doch kein so tadelloser Sohn sei.

Er wandte sich halb. »Vater – –«

»Geh mir aus den Augen!« schrie M'Adam.

Der Junge machte kehrt und ging: und die ungeheure, traurige Schar versäumter Gelegenheiten war um eine neue reicher.


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