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Zwanzigstes Kapitel

Im Hexenschloss

Die Angelegenheit war klar. »Der Alte« war im Nebel auf den Würger gestoßen, hatte ihn hitzig bekämpft und war selbst arg mitgenommen worden. Nur des alten Hundes schier undurchdringliche Mähne hatte ihn vor schweren Verletzungen bewahrt, während das mit Messing beschlagene Halsband, ihm von Klein-Anne in spielerischer Laune umgebunden, verbogen und verbeult war. Doch ganz gewiß war auch der Würger nicht heil davongekommen.

Finstere Freude herrschte in des Großbauern Herz, als er an jenem Morgen Grammoch betrat. Der Verbrecher war jetzt gezeichnet. Er trug eine Spur am Leibe, die ihn vernichten mußte. Wem immer das Abzeichen der Grauen Hunde von Kenmuir anhaftete, der war verdammt und jenseits aller Hoffnung auf Errettung. Selbst wenn M'Adam schwor, Blut um Blut zu fordern, sollte der Rote Will dem Untergange nicht entgehen, falls er mit dem roten Siegel gestempelt war.

Doch das Schicksal hatte sich gegen den Großbauern verschworen. Als er in den Marktplatz einbog, bemerkte er hinter der Pumpe einen Menschenauflauf, der sich, noch während er hinüberspähte, zerstreute, und heraus trat finsteren Blicks Tupper mit dem stummelschwänzigen Rasper an seinen Fersen, den Schwanz eingekniffen und das Zottelfell zerzaust und triefend von Blut. Ihm folgte John Swan, die kämpfende, keuchende Venus auf den Armen.

Blut schäumte auf jener grauen Amazone Lippen; ihre Augen waren blutunterlaufen, und sie winselte flehentlich, losgelassen zu werden. Hinter ihr kamen Saunderson und Shep – der alte Hund zerfetzt und zerzaust wie ein sturmgepeitschtes Segel. Dann schloß sich von neuem die Menge, nur um sich noch einmal zu teilen. Diesmal trat M'Adam vor, an seiner Seite »den Schrecken«, mit blutigen Lumpen gefesselt, die Augen rollend unter dem großen bunten Taschentuch, das seinen Kopf umwickelte: zähnefletschend, drohend im Triumph seines jüngsten Siegs.

Der Großbauer stand vernichtet. Jede Spur des gestrigen Zweikampfs mußte unter diesen neuen Narben verlorengehen. Und die Talbewohner wußten lediglich zu berichten, daß jene Drei »den Schrecken« im Hofe zum Grenzbock attackiert, daß er sie aber rings um den ganzen Garten, quer durch die Metzgerei, hinauf den Hügel am Marktplatz vor sich hergejagt und sie dann oben unter der Pumpe erledigt hätte. Und niemand wußte, ob jenes ergraute, rotbraune Fell bereits vor dem Ringen Spuren kürzlichen Kampfes getragen.

Drei ganze Monate währte bereits das Schreckensregiment des Würgers; mit dem Eintritt der Wurfzeit gewann die Angelegenheit ein noch bedenklicheres Aussehen. Der Verlust eines Schafes war an sich schon schlimm genug, allein das Aufschrecken einer ganzen Herde anläßlich dieses Einzelmordes – das Ängstigen jener wolligen Mütter dicht vor der Schur – bedeutete für die kleineren Züchter den Ruin und für die größeren einen kaum erträglichen Verlust.

Manch ein Schäfer verbrachte die liebe lange Nacht mit seinen Hunden auf Patrouille, nur um bei Morgengrauen zu entdecken, daß der Würger ihm entwischt war und an irgendeiner einsamen Stelle sein mörderisches Werk verrichtet hatte. Eine derartige Lammzeit hatte noch keiner erlebt. Laut waren die Flüche, inbrünstig die Racheschwüre. Ohne Frage würde M'Adam eines schönen Morgens seinen Willie steif und kalt im Hofe aufgefunden haben, hätte der mächtige Köter nicht seit kurzem, wie jedermann wußte, im Hause geschlafen.

Dann, auf dem Höhepunkt der Lammzeit, folgten die sieben Tage, die heute noch im ganzen Lande als die »Blutwoche« weiterleben.

Am Sonntag ward das Herrenhaus mit einem roten Kreuz gezeichnet. Am Montag mußte Ned Hoppin dran glauben.

Am Dienstag – eine stockfinstere Nacht – ertappte Tupper den Mörder auf frischer Tat: blind feuerte er in das Dunkel hinein, und der Würger kam mit dem Schrecken davon. In der folgenden Nacht verlor Londesley einen einschürigen Bock. Der Donnerstag allein blieb ereignislos; am Freitag wurde Tupper noch einmal heimgesucht, ohne Zweifel aus Rache für jenen Schuß.

Sonnabend nachmittag fand auf dem Herrenhaus eine Massenversammlung statt. Der Baron führte den Vorsitz ; Adel und Magistrat waren fast vollzählig erschienen, und von den Farmern der Umgebung fehlte auch nicht einer. Als Einleitung wurde ein windiger Brief des Landwirtschaftsministers verlesen. Darauf erhob sich Viscount Birdsaye und schlug die Ausschreibung einer Belohnung vor, die der Bedeutung des Falles angemessener sei als die lächerlichen fünf Pfund, welche die Polizei geboten; er bekräftigte seinen Vorschlag mit einem Scheck über fünfundzwanzig Pfund. Ihm folgten noch andere Redner, und als letzter erhob sich Pastor Leggy.

Er gab einen kurzen Abriß der Geschichte der Verbrechen, betonte von neuem seine Ansicht, daß ein Schäferhund der Täter sei und schloß mit einem Vorschlag, von dem er hoffte, daß er trotz seiner lächerlichen Einfachheit doch wenigstens vorübergehend Abhilfe schaffe – nämlich daß jeder einzelne von ihnen, der einen Schäferhund besäße, ihn über Nacht festbinden sollte.

Man gewährte den Farmern eine halbe Stunde Frist zur Überlegung. Sie versammelten sich in kleinen Gruppen und besprachen sich untereinander. Manch ein Auge wandte sich gegen M'Adam, doch der kleine Mann schien völlig unbefangen.

»Nun, Mr. Saunderson,« ließ sich eine schrille Stimme vernehmen, »werdet Ihr Euern Shep an die Kette legen?«

»Was haltet Ihr selbst von der Sache?« forschte Rob und musterte den Mann, auf den die Maßnahme abzielte.

»Ja,« entgegnete der Kleine, »ich meine, die Sache liegt so: haltet Ihr Euern Shep für den Schuldigen, so würd' ich's unter allen Umständen tun – allerdings wäre Erschießen noch einfacher. Wenn nicht –«, er zuckte bedeutungsvoll die Achsel und verließ, nachdem er also seine Ansicht kundgetan, den Saal.

James Moore blieb und war Zeuge, wie des Pastors Antrag einstimmig abgelehnt wurde; dann ging auch er. Er hatte dieses Ergebnis vorausgesehen und den Pastor noch vor der Versammlung gewarnt, denn jedem einzelnen unter den Talmännern erschien die Einwilligung in ein derartiges Edikt gleichbedeutend mit dem Zugeständnis, daß sein Hund der schuldige wäre – eine Folgerung, die kein Schäfer auch nur eine Sekunde lang zulassen wollte.

»Dich anketten!« murmelte der Großbauer, als er den alten Hund heranpfiff; »möcht' mal erleben, daß ich dich wie so 'n hergelaufenen Mörder festbände, Alter.«

Am Parktor begegnete er M'Adam, dieses eine Mal ohne seinen Schatten. Der kleine Mann spielte mit des Türhüters Kind, denn er liebte alle Kinder bis auf sein eigenes und ward von ihnen wiedergeliebt.

»Nun Moore,« rief er, als der andere vorüberging, »legt Ihr Euern grauen Teufel jetzt an die Kette?«

»Ja, sobald Ihr dem Euern das gleiche antut«, antwortete der Großbauer grimmig.

»Nein,« entgegnete der Kleine und hob das Kind hoch in die Luft, »Willie ist grad' derjenige, der den Würger vom Kornhof abschreckt. Drum hab' ich ihn heut auch daheim gelassen.«

»Mir geht 's akkurat so«, sagte der Großbauer. »Er ist bisher nach Kenmuir nicht gekommen und wird sich auch hüten, solange nachts ›der Alte‹ herumläuft.« Mit diesen Worten schritt er weiter.

»Hat er schon wieder gerauft?« rief der Kleine ihm nach.

»Nein, nicht seit seinem Kampf mit dem Würger.«

»Ah – ein tüchtiger Bursch, der Würger – hihi!« Und ein langes Kichern begleitete den Bauern auf seinem Weg.

Die Nacht hatte sich in dichte schwarze Trauer gehüllt, als der Großbauer »Des Grenzers Tochter« verließ. Nach Überschreiten der Silbernen Lea durchquerte er die Arena, wo in wenigen Tagen der letzte große Kampf um den Schäferpreis ausgefochten werden sollte; dann begann er seinen Aufstieg über den Paß.

Seine Gedanken weilten bei M'Adam; er grübelte über des Kleinen Andeutungen nach, über die vielsagende Miene, die er in letzter Zeit angenommen: er konnte sie nicht verstehen. Von dort schweiften sie zu dem Würger und zum Roten Will hinüber; er fragte sich, ob die beiden wirklich eins wären. Dann mußte er an David und Maggie denken; dieser törichte Zank hatte wirklich schon allzu lange gedauert; er würde dem Jungen einen Wink geben, daß er ein Ende machen müsse, ihm sagen, er solle ein Mann sein und um Verzeihung bitten; denn ob auch Maggie eine Miene verächtlicher Gleichgültigkeit trug, – ihr Vater wußte genau, daß die nicht enden wollende Feindschaft ihr das Herz abdrückte.

Von derartigen Gedanken erfüllt, betrat er die Teufelsmulde und begann sich dem Ufer des Einödsees zu nähern. Das nächtliche Dunkel vertiefte sich, geisterhafte Wasser plätscherten zu seinen Füßen, und rings in der Runde umschlossen ihn dichter und dichter die unheimlichen Höcker, während jenseits der klagenden Tiefe, einer schwarzen Flamme gleich, die Halde aufragte.

Nun aber ist die Teufelsmulde, dieser Schrecken der anderen, allen Moores teuer dank herzbewegender Erinnerungen. Ja, sie ist jedem von ihnen heilig seit dem Tage, an dem zum ersten Male die Kinderfüße ihn hierhergetragen, damit ihm der Ort gezeigt werde, an dem sein Ahne die Stammutter der Grauen Hunde fand. Und klingt nicht der Name jener Halde, die ihn von jenseits des Sees so finster anblickt, ewig in seinen Ohren nach, dank der wagemutigen Tat von Grey Rip, von welcher er zum ersten Male hier erfährt? Verdankt nicht der Reiver-Sprung seinen Namen jenem Morgen–vor dreimal fünfzig Jahren?

An einem wohlbekannten Fleck am Uferrand neben einem buckeligen Felsblock hielt der Großbauer inne und starrte über den See. Die Halde glich jetzt einer pechschwarzen Lohe, aufzüngelnd gegen den nächtlichen Himmel; dennoch sah er alles wie am hellichten Tag; den zernarbten Hang, schräg aufsteigend aus den atlasweichen Tiefen bis zu jenem jähen Vorhang aus Stein: dem Reiver-Sprung; auf dessen Kamm die finstere kleine Mulde–keine zwanzig Meter im Durchmesser–, im Volksmund der Hexenschoß genannt, und jene zwei weißen Schaffahrten, die einzigen Zugänge zu dem winzigen Tal, die sich in gefährlicher Steile zwischen der senkrecht abstürzenden Felswand und dem schwindelnden Abgrund hinaufwanden.

Er blickte über den See in die schweigende Unendlichkeit der Nacht und sah das ganze Bild vor sich, wie schon so manches Mal: den grauen Morgen, die graue Felswand, die zerfurchte Halde und an ihr klebend, gleich Fliegen an einer Scheibe, jene beiden winzigen dunklen Flecke. Es durchschauerte ihn bei diesem Gedanken, und unwillkürlich blickte er hinab auf den grauen Kopf an seiner Seite – – den Nachkommen des Helden jenes Tages; aber er sah ihn nicht, so dicht umhüllte ihn das nächtliche Leichentuch.

Dann begann er von neuem die oft wiederholte Geschichte, laut, um seines unsichtbaren Gefährten willen: »Es war im Jahre 17.., Alter, in der Jahreszeit, da es am längsten dunkelt. Es war mitten in der Nacht, als der alte Andrew durch des Grauen Hundes Bellen aufgeschreckt wurde. Er sprang ans Fenster. Draußen sah er gegen den Schnee einen kleinen Haufen Pferde, 'ne Menge Fackeln und 'nen Mordstrum von Kerl hoch zu Roß, der laut herumkommandierte. Da wußte er, endlich war das gekommen, was sie alle so lange schon befürchtet hatten. Die Schwarzen – – –«

Weiter kam er nicht; das Trapp – Trapp – Trapp galoppierender Hufe drang vertausendfacht an sein Ohr. Er machte kehrt und erwartete halb und halb, sich von einer wilden Jagd gespensterhafter Straßenräuber überrannt zu sehen; in der nächsten Sekunde hätte ihn ein Wirbelwind fliehender Schafe ums Haar von den Füßen gefegt. Rings tintenschwarze Nacht, sie rasten vorbei, dennoch erkannte er an ihren Fersen eine schattenhafte, spürhundähnliche Form.

»Der Würger, beim Himmel!« schrie er und holte gegen die hinterste jagende Gestalt zum Schlage aus – fehlte und wäre fast gefallen.

»Bob, Junge!« brüllte er heiser, »mir nach!«

Die Jagd stürmte weiter in die Nacht. Ein Klatschen und Plantschen am anderen Ende des Sees – er wußte, die Schafe durchschnitten das seichte Wasser auf ihrer Flucht nach der Halde. Das dunkle Naß wogte ihm in ungewohnten Wellen entgegen; es verriet der Flüchtlinge Weg mit eiligem, salvenähnlichem Geräusch; ein flüchtiger Lichtschauer schäumte gegen das Dunkel auf, und in der Ferne zuckte und funkelte das Wasser wie tausend Schwertklingen. Jetzt ein letztes klatschendes Aufwallen, dann Schweigen, und wieder vernahm er das Trappeln fliehender Hufe auf der gegenüberliegenden Halde sowie ein Glucksen und Plätschern losgelöster Kiesel, die unten ein wässeriges Grab fanden.

Der Großbauer jagte hinterdrein. Er flehte, daß der Alte des Missetäters Verfolgung aufgenommen hätte, flehte um den Mond. Gleichsam als Antwort auf seine Bitte tauchte das bleiche Gestirn hinter einer Felsklippe auf und ergoß sein Licht über das finstere Antlitz der Halde.

Der Großbauer blickte im Laufen auf. Die Herde hatte sich geteilt und sich über den leuchtenden Abhang zerstreut. Unter den Fliehenden bannten zwei Gestalten seinen Blick: die erste, ein dunkler, unruhiger Punkt, hastete unaufhaltsam den Berg hinauf; ihm hart an den Fersen, schnellfüßig, unerbittlich wie die Ewigkeit, die zweite. Der Bauer suchte nach einer dritten, rächenden Gestalt – vergeblich.

»Er muß ihn im Dunkel verfehlt haben«, murmelte er, Schweiß auf der Stirn, den Blick aufs schärfste gespannt, während er in großen Sprüngen weiterstürmte.

Höher und höher klommen jene beiden dunklen Punkte – aufwärts, immer aufwärts, bis plötzlich der senkrechte Fels sich dem Flüchtling unbarmherzig entgegenstemmte. Weiter, weiter, dicht an die Felswand geschmiegt. Jetzt traf er auf den wohlbekannten Pfad und jagte ihn, zu Tode erschöpft, empor.

»Er wird ihn im ›Hexenschoß‹ zerreißen!« rief heiser der Großbauer; jetzt hatte er den See umschritten. »Alter! Alter! Wo steckst du nur?«

Wie vorausgesehen, verschmolzen die zwei schwarzen Punkte, gerade als sie den Gipfel erreichten, in eins; dann rollten sie zusammen hinab in den Schoß und entschwanden seinen Blicken. Gleichzeitig verschleierte der Mond, nicht willens Zeuge der blutigen Klimax zu werden, sein Angesicht.

Des Großbauern lange, jagdhundähnliche Sprünge brachten ihn an den Fuß der Halde. Empor ging es unaufhaltsam, alle Kräfte zum letzten Ringen gesammelt; aufwärts, immer aufwärts, hinein in die Dunkelheit. Das Herz donnerte ihm gegen die Rippen, er rang schmerzhaft nach Atem; die steile Wand schien seinen Füßen zu entgleiten – doch er lief weiter, ohne Pause, bis auch vor ihm sich die Felsschranke auftürmte.

Jetzt hielt er inne und pfiff leise. Gelang es ihm, den alten Hund den einen Pfad hinaufzusenden, während er selbst den anderen wählte, so war dem Mörder der einzige Weg zur Sicherheit versperrt. Er lauschte – ganz Erwartung – jedoch keine kalte Schnauze schob sich in seine Hand. Er pfiff ein zweites Mal. Von oben fiel ein Kiesel auf ihn herunter, wie wenn der Verbrecher, um zu lauschen, am Rande des Reiver-Sprungs angehalten hätte; mehr wagte der Großbauer nicht.

Er wartete, bis ringsum wieder Schweigen herrschte, dann schlich er katzengleich an dem Felsband entlang, bis er auf den Pfad stieß. Die rauhe Fährte hinauf kroch er auf Händen und Knien. Schweiß perlte ihm von der Stirn; ständig mit einem Ellbogen die Felswand streifend, griff die andere Hand wieder und wieder ins Leere.

Er betete, daß der Mond unsichtbar bleibe, daß seine Füße nicht straucheln möchten, da ein Fehltritt vielleicht den Tod, zum mindesten aber die sichere Vernichtung jeder Erfolgsmöglichkeit bedeutete. Er fluchte dem Pech, daß »der Alte« ihn im Dunkel verfehlt hatte, denn jetzt mußte er sich auf den Zufall, auf seine eigene gewaltige Kraft und auf seinen festen Eichenstock verlassen. Und noch im Klettern überlegte er sich seinen Plan: er wollte den Würger während dessen Orgie überfallen und mit ihm ringen; sollte er ihm in der Finsternis entwischen – was in jener engen Arena unwahrscheinlich schien – so war es immerhin möglich, daß der Mörder in seiner Panik den einzigen Weg zur Rettung vergaß und über den Reiver-Sprung in sein Verderben stürzte.

Endlich erreichte er den Gipfel und hielt einen Augenblick inne, um Atem zu schöpfen. Vor ihm das schwarze Nichts war der Hexenschoß, und auf seinem Grunde – keine zehn Meter weit – mußten der Würger und sein Opfer sich befinden.

Er kauerte sich gegen die feuchte Felswand und lauschte. In jenem schwarzen Schweigen, zwischen Himmel und Erde, schien er Millionen Meilen fern von jeder lebenden Seele. Über ihm hing mattstrahlend die Nacht; weit unten in der Tiefe gluckste, gluckste, gluckste das glitzernde Wasser.

Nirgends ein Geräusch – und doch, der Mörder mußte hier oben sein. Ja – das war das Klirren eines Steines, dann der Tritt leiser, verstohlener Sohlen.

Der Würger war aufgeschreckt – war im Entfliehen!

James Moore erhob sich zu seiner vollen Größe, raffte sich zusammen und sprang.

Im Springen stieß er mit etwas zusammen; etwas stemmte sich ihm wie toll entgegen; etwas entwand sich seinem Griff, und dumpf hörte er den Aufprall eines Körpers weit unter sich sowie das Rutschen und Gleiten eines Wesens, das wild die Halde hinunterhastete.

»Wer zum Donnerwetter – – –« brüllte er.

»Was zum Teufel – –!« kreischte eine dünne Stimme.

Der Mond trat hinter Wolken hervor.

»Moore!«

»M'Adam!«

Dort standen sie, immer noch verkrampft, über dem Kadaver eines Schafes.

In der nächsten Sekunde hatten sie einander losgelassen und stürzten beide an den Rand des »Reiver-Sprungs«. Durch die Stille erklang aus der Tiefe das eilige Rascheln des Fliehenden; dann hallte ein lautes Plantschen von den Bergen wider, und eine V-förmige Woge von Licht stahl sich totengleich über die seidige Tiefe: der Würger schwamm über den See. Sie beobachteten, wie die zwei weißen Strahlen sich in dem schwarzen Winkel trafen; sie sahen den raschen Regen von Licht, als er sich beim Landen schüttelte; fast glaubten sie das Klatschen des lockeren Felles zu vernehmen.

Die beiden Männer wandten sich um, Auge in Auge: der eine finster, streng, der andere ironisch; beide aufgelöst, argwöhnisch.

»Nun?«

»Nun?«

Pause; eine sorgfältige Musterung.

»s' klebt Blut an Eurem Rock.«

»An Eurem auch.«

Zusammen betraten sie die monderhellte Vertiefung. Dort lag in einer roten Lache ein graubärtiger alter Widder. Klar, woher die Flecken an ihren Röcken stammten.

Beide traten einen Schritt zurück und musterten einander.

»Was macht Ihr hier?«

»Suche den Würger. Und Ihr?«

»Suche den Würger.«

»Wie kamt Ihr herauf?«

»Den Weg hier. Und Ihr?«

»Den dort.«

Pause. Dann:

»Ich hätt' ihn erwischt, wäret Ihr mir nicht dazwischengekommen.«

»Hätt' ihn jetzt fest, aber Ihr risset mich fort.«

Abermalige Pause.

»Wo ist Euer Grauer?« Diesmal war die Herausforderung unverkennbar.

»Dem Würger nach. Wo ist Euer Roter Will?«

»Zu Haus, wie ich's Euch auf dem Schlosse sagte.«

»Ihr meint, Ihr habt ihn dort gelassen?«

M'Adams Finger verkrampften sich.

»Er ist, wo ich ihn ließ.«

James Moore zuckte die Achseln, und der andere hub an:

»Wann hat Euer Hund Euch verlassen?«

»Als der Würger vorbeistrich.«

»Ihr wollt sagen, dann erst habt Ihr ihn vermißt?«

»Ich sag', was ich sage.«

»Ihr sagt, er wäre dem Würger nach. Aber der Würger war hier«, er deutete auf das tote Schaf. »War Euer Hund auch hier?«

»Wär' er hier gewesen, er würde noch hier sein.«

»Falls er nicht über den Reiver-Sprung sprang.«

»Das war doch der Würger, Hansnarr.«

»Oder Euer Hund.«

»'s war nur ein Hund da, ich hab's gefühlt.«

»Ganz recht.« M'Adam lachte.

Des anderen Stirn verfinsterte sich.

»Und das war ein mächtiger Köter.«

Des Kleinen Kichern brach jäh ab.

»Da lügt Ihr«, meinte er aalglatt. »Er war klein – ich schwör es.«

Sie blickten sich fest ins Auge.

»Das ist Ansichtssache«, sagte der Großbauer.

»Das ist Tatsache«, widersprach der andere.

Schweigend und finster starrten sie einander an; jeder suchte des anderen Seele zu loten; dann wandten sich beide wieder zum Reiver-Sprung. Unter ihnen, klar und deutlich, zeigte eine lockere schimmernde Furche im Kies den Weg, den der Würger auf seinem Rückzug genommen. Wieder blickten sie einander an; dann ging jeder den Weg, den er gekommen war, um seine Fassung der Geschichte zu erzählen.

»Haben uns gegenseitig die Sache verpatzt«, meinte der Großbauer. »Wäre der ›Alte‹ nur bei mir geblieben, hätt' ich den Würger sicher gehabt.«

Und –

»Ich sag Euch, ich hatt' ihn schon ganz sicher, aber da riß mich James Moore fort. Und merkwürdig ist, daß sein Hund nicht bei ihm war.«


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