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Viertes Kapitel

In der Teufelsmulde

Ein finsterer Mann war M'Adam lange Zeit nach diesem Ereignis. Kein Scherzwort drang über seine Lippen. Er ging seinen Mitmenschen aus dem Wege und blickte sie unter gesenkten Augenlidern böse an. Pastor Leggy behauptete, auf dem Manne ruhe der Fluch Kains.

Im Tal schenkten ihm viele ihr Mitgefühl, denn bei einem Kummer wie dem seinen hatten sie selbst für Adam M'Adam ein Herz. Aber sagen ließ sich wenig darüber. Sein war eine Wunde, die man nicht berühren durfte. Und wenn sie es wagten, ihm Mitleid zu zeigen, wandte er sich gegen sie und knurrte sie mit so wildglotzendem Haß an, daß sie schweigen mußten.

Nur David erriet dunkel die verborgene Tragödie und hielt – dieses eine Mal in seinem Leben klug – den Mund. Und er tat gut daran: denn im Norden ist es ratsamer, einen Anschlag gegen eines Schäfers Leben zu versuchen als gegen das Leben eines Hundes. Nur in Kenmuir berichtete er von Leidenschaften, die in der Stille der Nacht erwachten; von stundenlangem Auf- und Abgehen bis zum Morgen; von einer leisen Stimme, die verzweifelt bettelte: »Oh, Cutty Sark, Cutty Sark! Verzeih mir! Ich hatte dich lieb wie mein eigenes Leben!«

Aber der Herr auf Kenmuir blieb ahnungslos und war einer der wenigen, die es wagten, den Steinigen Grund zu queren, um dem trauernden kleinen Mann sein Mitgefühl zu bezeigen.

»M'Adam«, sagte er in der kurzen, kalten Art, die ihm diente, sein warmes Herz zu verbergen, »ich fühle mit Euch.«

Der Kleine wandte sich gegen ihn, als wolle er ihn zerreißen.

»Weshalb lügt Ihr, James Moore?« keifte er mit plötzlicher, überwältigender Animosität. »Glaubt Ihr, ich wüßte nicht, daß mein Kummer Eure Freude ist? Meint Ihr, ich hätte mich nicht wie ein Schneekönig gefreut, wäre Eurem grauen Teufel da das gleiche passiert?« Und als sein Blick auf Old Bob fiel, der ihn, ein wenig abseits, mit jugendlichem Mitleid betrachtete, schüttelte ihn die rasende Wut so heftig, daß der Großbauer sich verwunderte.

Einen Augenblick später hatte der Kleine sich äußerlich wieder gefaßt.

»James Moore«, sagte er mit sonderbarem, flackerndem Lächeln, »das nächste Mal, daß Euer Hund meinen Grund und Boden betritt, verläßt er ihn – als Leiche.«

Des Großbauern Augen wurden hart, denn nächst ihrem eigenen Fleisch und Blut haben die Moores stets am meisten auf ihre Hunde gehalten. Aber er antwortete nicht, denn er glaubte, sein großer Kummer habe den Kleinen verrückt gemacht, und zog sich still zurück.

Nun gleicht aber ein Schäfer ohne Hund einem Wagen ohne Räder. Der eine ist dem anderen unentbehrlich. Und so machte sich M'Adam, Leid im Herzen und Gift auf den Lippen, wohl oder übel daran, seine Witwerschaft aufzulösen.

Bei der Wahl eines Hundes muß der Schäfer mindestens so behutsam zu Werke gehen, wie bei der Wahl einer Frau. Denn ist die eine seine bessere Hälfte, so stellt der andere seinen geschäftlichen Partner dar. Seite an Seite, im gleichen Joch, müssen sie ihr tägliches Brot verdienen, Wünsche, Gefahren, Kummer und Freude, Sonne und Schnee miteinander teilen; ja, schließlich gleichen sie mehr einer Seele in zwei Körpern als zwei verschiedenen, miteinander verbundenen Individuen.

Vorsicht ist also durchaus lobenswert. Aber bei M'Adam war Sehen gleichbedeutend mit schroffer Zurückweisung. Er verabscheute seine Aufgabe. Er sträubte sich gegen jeden Partner, der sich ihm bot, wie eine ältliche Witwe, die in zwölfter Stunde ihren neuen und bitter gehaßten Gebieter mit dem löwengleichen Geliebten ihrer Jugend vergleicht. Während er nacheinander die verschiedenen Anwärter prüfte, schien es ihm, als blicke ihn von ferne eine alte, treu erprobte Freundin mit vorwurfsvollen, schneewolkenfarbenen Augen an; gleichzeitig verschärfte sich das Spottgrinsen auf seinem Gesicht, mit abstoßender Schnelle schoß die spitze Zunge vor zum ätzenden Stich, und die trüben Augen freuten sich an der Welt des Bösen, die aus ihnen sprach. War er vordem schon wenig beliebt, so wurde er jetzt die Zielscheibe einmütiger, feindseliger Empörung, und Tammas, dessen Stärke die Alliteration und das Schimpfen waren, apostrophierte ihn als »giftiges Geschmeiß« und »wütende Viper« unter beifälligem Anstoßen irdener Krüge.

Nachdem er sämtliche Bewerber aus seiner eigenen, unmittelbaren Nachbarschaft abgewiesen, querte M'Adam eines Tages die Marken, um sich in der Stadt Grammoch mit einem neuen Aspiranten auf die so mißgönnte Ehre auseinanderzusetzen.

Es war ein vielversprechender Kandidat – ein Arbeiter, jung und doch erfahren, intelligent und charaktervoll, mit graugesprenkeltem Fell und den traditionellen, meerwasserfarbenen Augen. Zwei Stunden lang pries sein Besitzer seine Tugenden, zwei weitere Stunden schlossen sich den ersten an. Und nach wie vor gab M'Adam kein Zeichen, dieses eine Mal scheinbar ganz Zustimmung. Zu Beginn der fünften Stunde wandte er sich ab.

»Schon gut, schon gut, ein ordentlicher Köter; aber kein Köter für mich.«

Der Züchter war überrascht; er wünschte auf der Stelle zu sterben, fluchte ausgiebig und erkundigte sich zum Schluß nach dem Grunde.

M'Adam antwortete ausweichend, log geläufig und platzte endlich mit der Wahrheit heraus: er könne die Grauen Hunde nicht leiden.

Der Züchter wollte auf der Stelle tot sein! So wahr er hier stünde, es gäbe auf der Welt nur eine Farbe, und das sei Grau, gesprenkelt mit Weiß; dauerhaft, modern, praktisch für die Arbeit. Niemals hätte es einen Grauen mit meerwasserfarbenen Augen gegeben, der nicht auch ein guter Hund gewesen wäre! Gott segne seine blauen Augen! Waren nicht die Hunde von Kenmuir ebenfalls grau?

Bei diesen Worten wandte sich M'Adam noch einmal um.

»Ja, ja,« sagte er, »das ist eben die Sache! Gehabt Euch wohl.«

Jetzt erst machte der Züchter seinen Gefühlen Luft.

M'Adam hörte ihn bis zu Ende an und nickte bei den saftigsten Stellen kritischen Beifall; dann nutzte er seine Gelegenheit und versengte den Gegner unter jenem Feuerstrom beißender Ironie, der ihm bisher jeden Menschen zwischen der Moorspitze und dem Marktkreuz von Grammoch zum Feinde gemacht; dabei kaute er seelenruhig seinen Tabak weiter, sorgfältig seine Worte wählend und in dieser sadistischen Orgie schwelgend, bis die Polizei es geboten fand, einzugreifen.

Alles in allem verließ er in besserer Stimmung als je seit der Katastrophe von des »Grenzers Tochter«, um den Heimweg anzutreten.

Dieser war zu jeder Zeit ein herztötender Marsch – über die silberne Lea durch den nie endenwollenden Paß und die Teufelsmulde bis jenseits der Marken. Dem müden, kleinen Manne erschien der Weg ewig lang, während er den schmalen, weißen Pfad unter der windlosen Sonnenglut hinaufklomm – zu seiner Rechten die nackte, ragende Klippe, zu seiner Linken das Nichts, über sich das bis zur Schmelzglut erhitzte Blau des Himmels.

Als er die letzte Windung meisterte und in die Teufelsmulde eintrat, die das Vorzimmer der Seemarken bildet, keuchte er.

Jetzt hielt er inne, wischte sich den Schweiß von der Stirn und blickte sich um. Vor ihm blähte sich das Tal zur Gestalt einer Kobrahaube, düster immer noch trotz der erbarmungslosen Sonne. Rings in der Runde hocken, alten Hexen gleich, niedrige Hügel und flüstern und schwatzen den lieben langen Tag von geschehenem Mord. Der Einödsee zeigt sein Lepragesicht, ähnlich dem eines längst Verstorbenen; und die Rote Halde erhebt sich am Rande als schroffe, schwarze Wand gen Himmel, während die unheimlichen Wasser jahraus, jahrein um Vergebung ihrer Sünden gegen die Ufer wimmern.

Es ist ein Tal, das laut von Untat schreit. Jeder moosbewachsene Stein erzählt seine Geschichte. Das Schilf schaudert im Lauschen, und die alten Weiber drängen sich dichter aneinander. Kein Licht erhellt das Dunkel, kein Kinderlachen ward hier je gehört; nichts als das ewige, totenalte Plätschern des Sees und das Krächzen der Raben über dem »Wolfssprung«. Selbst die fantasielosen Schafe meiden den Ort, denn Blutgeruch schwebt in der Luft; es scheint, sie ziehen die tödlichere Steile der Roten Halde vor, die sich abwärts zu den glasschwarzen Tiefen und aufwärts zu jenem jähen Vorhang aus Stein auswächst, den man den »Wolfssprung« nennt.

Quer durch dieses tragische Tal hastete M'Adam mit einem Herzen, das sich zusammenschnürte. War er auch kein feiger Köter, so griff ihm diese Teufelsmulde doch stets mit kaltem Finger ans Herz – ihm war es mitunter, als warne sie ihn schattenhaft vor einem argen Schicksal, das ihn dereinst hier treffen sollte.

So floh er eilends; mitunter warf er einen ängstlichen Blick nach dem toten See neben sich, mitunter auf das narbenreiche Antlitz der Halde, auf der hier und dort vereinzelte, schwarzköpfige Schafe weideten.

Ein Brachvogel rief ihn an, ein Schaf begann sein törichtes Mäh-Mäh: er dankte ihnen für ihre Gesellschaft. Dann herrschte wieder das ewige Schweigen der Moore.

Er schien allein in der ungeheuren, ofenähnlichen Leere: rings die hageren Hügel; zu Häupten das erzene Blau, neben ihm das blinde Antlitz des Sees und in weiter Ferne die lang sich dehnenden Marken, nur hier und da ein niedriges Gehölz als Windschutz gegen den Himmel und eine düstere Föhre als Schildwacht.

Gerade als er das Gefühl seiner Einsamkeit fest in beide Hände nahm, um es niederzuringen, kam über die Kuppe einer kleinen Niederung zu seiner Rechten ein sturmzerfetzter Hut auf ihn zugerollt. Das Kleidungsstück überkugelte sich in betrunkenen Zickzackkurven, balancierte hart an ihm vorbei und fiel in das schwarze Wasser, wo es endlich zur Ruhe gelangte.

M'Adam erschrak, so unheimlich, so plötzlich und so unerklärlich schien ihm dieses seltsame Ding, das aus dem Nichts, ganz ohne Antrieb, auf ihn zugerollt kam.

Fast unwillig kehrte er um und stieg die kleine Anhöhe empor, um die Sache zu untersuchen.

Dort, unter ihm, in einer Bodenvertiefung, kauerte ein buckliger Felsblock in scheußlicher Verkrüppelung, riesenhaft, grau, unförmig wie der Rücken eines gestrandeten Leviathans und warf einen gespenstigen Schatten über das Grün des Rasens. Und noch während er schaute, bemerkte er ein schwarzes Etwas, das ihn umflatterte, vernahm das Rauschen von Flügeln sowie das erstickte Krächzen und Schreien eines leidenschaftlich aufgebrachten Raben.

Wieder und wieder umkreiste der Unglücksvogel den Stein, vorstoßend, zurückweichend, hin und her schießend kreischend gleich einer lüsternen Hexe. M'Adam sah, wie der Schnabel zupackte, sah das gierige, kleine Auge, den gedrungenen Kopf, der sich nach ihm umwandte, sowie den gekrümmten Rücken, und er wunderte sich.

Da hob sich etwas, flatterte und sank von neuem zusammen. Es war der Zipfel eines Männerrocks. Scharf hinspähend entdeckte M'Adam jetzt eine lang hingestreckte, zerlumpte Gestalt unter dem graudämmrigen Steine.

Der Schläfer glich so sehr einem Toten, daß M'Adam im Augenblick jähes Grauen befiel. Da, als der widerliche Vogel sich zur Erde beugte und wütend, lechzend nach dem Stoß und doch voller Furcht, mit den Flügeln schlug, schrie er:

»Fort mit dir, fort, Aasvogel, verfluchter!« Gleichzeitig trat er vor, um den Schläfer zu wecken.

Man brauchte seiner nicht. Der Bettler hatte seinen Wächter.

Als der Vogel zuhieb, brach eine winzige, gelbe Bombe aus des Schläfers Lumpen hervor, und der Vogel schwang sich in häßlicher und geräuschvoller Eile davon.

Der Wächter schleppte sich mit gesenktem breiten Fischmaulkopf, hängender Zunge und den plumpen Beinchen ganz junger Hunde an seinen Posten zurück; eine blutige Wunde an seinem Hals bewies, daß der ungleiche Kampf bereits längere Zeit gedauert hatte.

Der kleine Mann trat mit lockend erhobenem Daumen und Finger vor. Allein der Verteidiger, seine Augen zwei funkelnde Flammen, kauerte sich auf den Lumpen zurück und zeigte ihm deutlich seine Mißachtung; ja, als der Feind trotzdem näher schlich, entblößte er die kleinen Zähne, sträubte die winzigen Rückenhaare und knurrte – die Verkörperung tierischer Kindheit in äußerster Not – eine wütende Drohung.

Endlich, als der neue Gegner immer noch nicht abließ, unternahm er einen Vorstoß, brach aber elend erschöpft zusammen und lag, den Kopf zwischen den Pfoten, zu schwach, sich zu rühren, jedoch fest entschlossen, seine Pflicht zu tun, solange noch Leben sich in ihm regte, abwartend da.

M'Adam beugte sich zu ihm nieder und nahm ihn liebevoll auf. Das kleine Wesen röchelte und geiferte in verzweifelter Abwehr und hing schließlich schlapp in seinen Armen. Es war erst wenige Wochen alt und gleich seinem Herrn ein Ausgestoßener, mehr Wolf als Hund, mit großem, tückischem Kopf, kupierten Ohren und einem noch rohen, roten Stummel als Schwanz, während die bloßen Rippen und das zackige Rückgrat das gelbe Fell förmlich zu durchstoßen schienen.

»Kleines, Kleines,« rief M'Adam in zornigem Mitleid, »bist ja fast verhungert!« Und sich an den zerfledderten Schläfer zu seinen Füßen wendend, fügte er böse hinzu:

»Mann! Was fallt Euch ein, den Hund halbtot zu hungern? Habt Ihr denn gar kein Mitleid? Wach auf, Mann!« Und er trat ihn in die Rippen.

Des Mannes Arm sank herab und enthüllte sein Gesicht. Da wußte M'Adam, daß es für den dürren Hungerleider zu seinen Füßen kein Erwachen mehr gab; er wußte, dank der angeknabberten Brotrinde, daß jener gespensterhaft blickende Tote sein Letztes dem jungen Hund gegeben hatte und gestorben war aus Mangel an dem Allernotwendigsten für sich selbst.

In den Boden neben ihm war ein gespaltener Ast gerammt, in dessen Gabelung ein Papier stak. Darauf hatte die Hand dessen, den selbst im Tode sein grimmiger Humor nicht verlassen, die Worte geschrieben:

»Vor dem Hunde wird gewarnt!«

Das ist, wie jeder Bewohner der Grenztäler bezeugen kann, die Geschichte von dem Kommen des schwanzlosen Köters.


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