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Sechsundzwanzigstes Kapitel

Der Schuß in der Nacht

Es waren noch drei knappe Wochen bis zum Tage des Turniers, als Jim Mason einen Brief nach Kenmuir brachte. Der Großbauer öffnete ihn, während der Postbote auf der Türschwelle wartete.

Der Brief stammte von dem sich noch immer versteckt haltenden langen Kirby und beschwor James Moore, doch um Gottes willen »den Alten« nachts im Hause in Sicherheit zu bringen, zum mindesten bis nach dem Turnier.

Das orthographisch höchst mangelhafte Schreiben schloß mit den Worten:

»Halltet ein Auhg auf M'Adam; ich weihß, er wird noch vorm Thurnir ›dem Alten‹ zu Laibe rücken – wennicht dan Euch. Wird ›der Alte‹ geschlaagen, ists mit mihr aus, also um Himmelswillen halltet die Auhgen offen.«

Der Großbauer las den Brief und reichte ihn dem Postboten, der ihn sorgfältig durchbuchstabierte.

»Hört zu,« meinte Jim endlich, mit so eindringlichem Ernst, daß der andere ihn erstaunt anblickte, »ich bitt' Euch, tut, was er sagt, – sperrt ihn des Nachts ein.«

Der Großbauer schüttelte den Kopf.

»Nein,« sagte er, »M'Adam hin, M'Adam her, Turnier hin, Turnier her; ›der Alte‹ hat frei herumlaufen dürfen auf meinem Grund und Boden, seit er ein ganz kleines Hündchen war. Bedenkt nur, Jim: die erste Nacht, die ich ihn einsperre, haben wir den Würger hier, wett' ich mit Euch.«

Müde wandte sich der Postbote zum Gehen, und der Großbauer schaute ihm nach, verwundert, was wohl in seinen sonst so fröhlichen Freund gefahren sei.

Bei dieser Warnung sollte es nicht bleiben. In der Woche unmittelbar vor dem Turnier mehrten sich die unverkennbaren Zeichen von Gefahr.

Zweimal ließ »Wächter« einen herausfordernden Kampfesruf erschallen. Zweimal verließen der Großbauer, Sam'l und Old Bob, mit einer Laterne bewaffnet, das Haus, um jede Ecke und jeden Winkel des Grundstücks abzusuchen: vergebens. Vi'let Thornton, die Milchmagd, kündigte mit der Beteuerung, es spuke auf dem Hofe; verschiedenemal habe sie im frühen Morgengrauen ein Gespenst lautlos den Abhang zur Wastrel hinabgleiten sehen – ein untrügliches Vorzeichen, erklärte Sam'l, daß ein Todesfall bevorstünde. Ein andermal meldete ein Schafscherer, er habe im morgendlichen Zwielicht eine kleine geisterhafte Gestalt, gehetzt und übernächtig, in dem Wäldchen an der Schneise leise von Baum zu Baum schleichen sehen. Den Großbauer ärgerten schließlich diese ständigen fruchtlosen Warnungen und er wies die Berichte kurzerhand von sich. »Das eine ist sicher«, meinte er, »auf Kenmuir spukt kein Wesen, ohne daß ›der Alte‹ es weiß.«

Und dennoch humpelte zur selben Zeit, keine Meile entfernt, ein kleiner hohläugiger Mann, staub- und taugenetzt, zur Tür seines Hauses hinein.

»Kein Glück, Willie! Der Teufel hol's,« rief er, ein unsichtbares Geschöpf anredend, und warf sich in einen Stuhl, – »kein Glück! Und doch bin ich meiner Sache so sicher wie, daß es einen Gott im Himmel gibt!«

*

M'Adam war ein alter Mann geworden. Knapp über Fünfzig, erweckte er den Eindruck eines Menschen, der das biblische Alter erreicht hat. Sein spärliches Haar war schneeweiß, sein Körper zusammengeschrumpft und gebeugt, und seine magere Hand zitterte wie Espenlaub, wenn sie nach der altvertrauten Flasche tastete.

Auch in anderer Hinsicht hatte er sich völlig verändert. Vordem hatte es, ganz abgesehen von all seinen Fehlern, weit und breit keinen fleißigeren Menschen gegeben. Zu allen Tageszeiten, bei jeglichem Wetter konnte man ihn und seinen riesenhaften Begleiter auf ihrer Ronde treffen. Jetzt war all das anders geworden; niemals mehr legte er Hand an den Pflug, und da er keine Hilfe hatte, verkam das Land vollends, so daß die Leute schworen, zu Michaeli nächsten Jahres würde es auf der Herrschaft Seemarken einen Hof zu verpachten geben.

Statt zu arbeiten, hockte der Kleine Mann tagaus tagein brütend über das Unrecht, das man ihm angetan, brütend über seiner Rache zu Hause. Selbst im »Sylvester-Wappen« sah man ihn nicht mehr; er blieb, wo er war, zusammen mit seinem Hund und seiner Flasche. Nur wenn das nächtliche Leichentuch sich niedersenkte, schlüpfte er aus dem Hause zu irgendeinem Vorhaben, bei dem selbst der Rote Will ihn nicht begleiten durfte.

So floh die Zeit, bis der Sonntag vor dem Turnier herannahte.

»Der Teufel hol's, Willie, der Teufel hol's! Die Zeit verfliegt – verfliegt – verfliegt! Nächsten Donnerstag – nur noch drei Tage! Und ich hab' keinen Beweis – keinen Beweis!« Er schaukelte sich hin und her und kaute an seinen Nägeln.

Den ganzen Tag über rührte er sich nicht vom Fleck. So saß er, bis lange nach Sonnenuntergang – lange Zeit noch, nachdem das Dunkel die Einzelheiten des Raumes ausgelöscht.

»Sie sind alle gegen uns, Willie. Du und ich stehen ganz allein, Junge. M'Adam soll besiegt werden, auf jeden Fall, so oder so, und Moore gewinnen. So ist's ausgemacht, und so wird es auch sein, wenn nicht, Willie, wenn nicht – der Teufel hol's! Mir fehlt ja der Beweis!« und er trommelte in qualvoller Ohnmacht mit den Fäusten auf den Tisch.

Um Mitternacht erhob er sich: ein toller, verzweifelter Plan dämmerte in seinem trunkwirren Hirn.

»Ich hab' geschworen, daß ich's ihm heimzahlen würde, Willie, und ich zahl's ihm jetzt heim: wir wollen quitt werden. Ich hab' zwar nicht den Beweis, aber ich weiß es ja – ich weiß es!« Mit blinden Augen und wankendem Hirn tappte er durch das Dunkel zum Kamin.

Dort streckte er die unsicheren Hände aus und holte das alte Feuerschloßgewehr von seinem Nagel über dem Sims herunter.

»Willie,« flüsterte er mit scheußlichem Kichern, »Willie, hierher zu mir, du und ich –hihi!« Aber der Schwanzlose Köter war nicht dort. Bei Anbruch der Nacht hatte er sich lautlos aus dem Hause geschlichen, zu einem Werk, über das nur er sich klar war.

So kam es, daß sein Herr allein auf Zehenspitzen und noch immer kichernd sich aus dem Hause stahl.

Die kühle Nachtluft erfrischte ihn, und er kroch leise weiter, die altmodische Waffe um die Schulter geschlungen; so ging es den Berg hinunter über den Steinigen Grund vorbei am Fuße der Moorspitze, bis er die Plankenbrücke über der Wastrel erreichte.

Er kreuzte sie in Sicherheit, geleitet von jener Vorsehung, die des Trunkenbolds Schritte lenkt. Dann pirschte er sich den Abhang hinan, dem Jäger gleich, der seiner Beute auf der Spur ist.

Am Tore angelangt, richtete er sich auf und spähte hinein in den monderhellten Hof. Nirgends Zeichen oder Laut eines lebenden Wesens. Friedlich schlummerte das kleine graue Gebäude im Schatten der Moorspitze, ohne des Mannes zu achten, der, Mord im Herzen, mühsam das Hoftor überkletterte.

Die Tür zu dem Vorbau stand weit offen. Müßig baumelte die Kette vor dem Schloß, und der Kleine Mann sah den Mond auf die Eisenknäufe der inneren Tür und auf der Decke desjenigen schimmern, der jetzt hier schlafen sollte, und der fehlte.

»Er ist nicht da, Willie! Ist nicht da!«

Er sprang von dem Tor hinunter. Jegliche Vorsicht in den Wind schlagend, torkelte er über den Hof. Trunkener Kampfesrausch war über ihn gekommen. Fieber erträumten Sieges raste in seinen Adern. Endlich, endlich würde er die Sühne langjährigen Unrechts ernten.

Im nächsten Augenblick stand er vor der festen Eisentür und donnerte schreiend, auf und nieder hüpfend und um Rache brüllend, mit dem Kolben des Gewehrs gegen die Türfüllung.

»Wo ist er? Was treibt er? Komm und sag' mir das, James Moore! Komm herunter, Feigling, sag' ich! Komm und stell' dich mir wie ein Mann!

Schotten, die einst Wallaces Hand
Führt und Bruce zum Kampf entsandt' –«

Das milde Mondlicht strömte auf den weißhaarigen Irren nieder, der unaufhörlich sein Kriegslied schmetterte.

Der stille Hof erwachte aus dem Schlafe zu plötzlichem Aufruhr. Das Vieh scharrte in den Ställen; Pferde wieherten; Hühner gackerten, von dem Lärm und den dumpfen Schlägen aufgeweckt; und alles übertönend schrillte der laute durchdringende Schrei eines verängstigten Kindes.

Maggie erwachte aus einem lebhaften Traum, darin sie David auf der Flucht vor der Polizei gesehen, schlang hastig einen Schal um sich und hielt in der nächsten Sekunde tröstend das Kind in den Armen, immer noch von der unklaren Furcht durchdrungen, daß man vielleicht tatsächlich hinter David her sei.

James Moore stieß das Fenster auf. Hinauslehnend, gewahrte er unten die wüste, wie rasend auf und ab hüpfende Gestalt.

M'Adam hatte das Geräusch vernommen; er blickte auf und erkannte seinen Feind. Augenblicklich ließ er ab von dem Ansturm gegen die Tür, rannte zu dem Fenster hin und drohte ihm mit der Waffe.

»Da bist du also, da bist du! Fluch über dich, Feigling! Fluch über dich, Lügner! Komm herunter, sag' ich, James Moore! Komm herunter – wenn du's wagst! Wir wollen abrechnen miteinander, ein für allemal!«

Der Großbauer blickte von der Höhe auf ihn herab und vermeinte, der Kleine habe den Verstand verloren.

»Was wollt Ihr?« fragte er so ruhig wie möglich, in der Hoffnung, Zeit zu gewinnen.

»Was ich will?« schrie der Wahnsinnige. »Hört ihn nur an! Überall kreuzt er meinen Weg; verschwört sich gegen mich; stiehlt mir meinen Pokal; hetzt meinen Sohn gegen mich auf, daß er mich ermorde! Und dann fragt er –«

»Ruhig, immer ruhig! Ich werde –«

»Gib mir den Pokal zurück, den du mir gestohlen, James Moore! Gib mir meinen Sohn zurück, den du mir abspenstig gemacht! Und dann ist da noch eine dritte Sache: Wo ist dein Grauer Hund? Was macht er –?«

Wieder unterbrach ihn der Großbauer.

»Ich komm jetzt herunter und werde die Sache mit Euch besprechen«, beschwichtigte er M'Adam. Allein noch ehe er sich zurückziehen konnte, hatte jener angelegt und zielte direkt auf seines Feindes Kopf.

»Mußt sie schon ruhiger halten, Kleiner, wenn du mich treffen willst«, sagte der Großbauer hart. »Wart' mal, ich komme und werde dir helfen!« Langsam wich er zurück; ihn quälte die Frage, wo nur der Graue Hund stecke.

Im nächsten Moment war er die Treppe hinuntergeeilt und hatte den Riegel von der Tür zurückgeschoben. Auf der anderen Seite stand M'Adam mit angeschlagener Donnerbüchse, den zitternden Finger an dem gespannten Hahn.

»Vorsicht, Bauer! Zurück, sonst ist's aus mit Euch!« brüllte eine Stimme aus dem Dachgeschoß.

»Vater, Vater, zurück!« schrie Maggie, die die ganze Szene von dem Fenster über der Tür beobachtete.

Die Warnungen kamen zu spät; die Donnerbüchse krachte und spie einen Schwarm von Funken und eine Rauchwolke aus. Gleich Hagelkörnern prasselte die Ladung gegen die Tür, und eine Sekunde lang schien der ganze Hof in Flammen gehüllt.

»Au! Au! Zu Hilfe! Mord! Zu Hilfe! Au!« gellte eine kräftige Stimme, aber nicht die James Moores.

Der Kleine Mann, die Ursache all' dieses Aufruhrs, lag ganz still am Boden, und über ihn neigte sich eine andere Gestalt. Noch während er stand, die Hand am Hahn, hatte sich ein graues Etwas, niemand wußte, woher, lautlos von hinten auf ihn gestürzt und ihn zu Boden gerissen, und durch den Aufprall des Sturzes hatte sich die Donnerbüchse entladen.

Klirrend wurde der letzte Riegel zurückgestoßen, und der Großbauer trat heraus. Mit einem einzigen Blick überflog er die ganze Szene: den hingestreckten Mann, den Grauen Hund und die noch immer rauchende Waffe.

»Du warst es, Bob, Junge?« sagte er. »Ich wunderte mich schon, wo du stecktest. Bist grad noch zur rechten Zeit gekommen, wie du's immer tust.« Dann sprach er mit lauter Stimme in das Dunkel hinein: »Du bist nicht verletzt, Sam'l Todd – das erseh' ich aus deinem Geschrei; 's war nichts als der Aufprall des Schusses an der Tür, der dich erschreckt hat. Komm jetzt herunter und hilf mir.«

Er trat zu M'Adam, der immer noch keuchend am Boden lag. Die Wucht des Falles und der Rückschlag des Gewehrs hatten den Kleinen Mann des Atems beraubt; im übrigen hatte er keinen Schaden genommen.

Streng blickte der Großbauer auf den gefallenen Feind.

»Ich hab' mehr von Euch ertragen, M'Adam, als ich mir von irgendeinem anderen Menschen hätte bieten lassen«, sagte er. »Aber das hier ist zu viel – nachts mit geladenem Gewehr hierherzukommen, Frauen und Kinder aus dem Schlaf zu schrecken, und wer weiß was für Teufeleien im Sinn! Wärt Ihr auch nur ein halbwegs kräftiger Mann, ich gäb Euch eine Tracht Prügel, wie Ihr noch keine bekommen habt; aber Ihr wißt ganz genau: ebenso gut könnt' ich eine Frau schlagen. Was Ihr gegen mich habt, wißt Ihr selbst am besten. Ich hab' weder Euch noch sonst einem Menschen ein Leid getan. Und was den Pokal betrifft, so gehört er mir, und ich werde mein möglichstes tun, ihn zu behalten – Eure Sache ist es, ihn mir am Donnerstag abzugewinnen. Was Ihr über David behauptet, ist eine Lüge. Und was Ihr mit Euren geheimnisvollen Andeutungen sagen wollt, ahn' ich so wenig wie ein neugeborenes Kind. – Und jetzt werd' ich Euch einsperren – es ist nicht sicher, Euch frei herumlaufen zu lassen. Ich glaube wahrhaftig, ich werd' Euch der Polizei übergeben müssen.«

Mit Sam'ls Hilfe schleppten sie den betäubten Kleinen Mann über den Hof und stießen ihn in einen Kohlenschuppen hinter dem Kuhstall.

»Jetzt überlegt Euch die Sache mal hier hinter der Tür, Mann,« rief James Moore und drehte den Schlüssel im Schloß, »und ich werd' sie mir von meiner Seite aus überlegen.« Mit diesen Worten begab er sich wieder ins Bett.

Früh morgens ging er, seinem Gefangenen die Freiheit zurückzugeben. Er kam eine Minute zu spät; eine kleine rußgeschwärzte Gestalt hastete mit wehenden weißen Haaren und schwankenden Schritten Hals über Kopf den Berg hinunter.

»Vielleicht besser so«, dachte der Großbauer und blickte dem Fliehenden nach. Dann rief er: »Heda, Bob, Junge!« denn der Graue Hund sauste mit zurückgelegten Ohren und gestreckter Rute in wilden Sprüngen dem Flüchtling nach.

Auf der Brücke blickte sich M'Adam um, gewahrte den Verfolger dicht hinter sich, schrie auf, stolperte und fiel mit lautem Plantschen in den Fluß – fast an der gleichen Stelle, an der er, viele Jahre zuvor, hinabgesprungen war, um seinen Roten Will zu retten.

Old Bob blieb stehen und betrachtete den Mann, der unter ihm mit dem Wasser rang. Er machte eine Bewegung, als wolle er ihm nachspringen, dem Feinde zu Hilfe; dann erkannte er den Mangel einer Notwendigkeit hierzu, wandte sich und trabte zurück zu seinem Herrn.

»Recht ist ihm geschehn, Junge, mein' ich«, bemerkte der Großbauer. »So gut wie sicher kam er hierher, um mit dir ein Ende zu machen. Ist erst der Donnerstag vorüber, wird es, so Gott will, Frieden geben. Aber jetzt hat's aufgehört, ein Scherz zu sein.«

Die beiden gingen zurück in den Hof.

Unterhalb des Berges jedoch wankte, zum zweitenmal in dieser Geschichte, eine kleine patschnasse Gestalt am Ufer entlang ihrem Hause zu. Der Kleine Mann weinte; heiße Tränen flossen ihm über die Wangen und vermischten sich mit dem ungetrockneten Wasser der Wastrel.


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