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Neunundzwanzigstes Kapitel

Zugunsten des Angeklagten

In jener Nacht ging im »Sylvester-Wappen« flüsternd ein unklares Gerücht um. Auf Anfragen kniff Tammas vielsagend die Lippen zusammen und entgegnete: »Nein, ich hab' geschworen, nichts zu verraten« – des Alten Formulierung dafür, daß er selbst nichts wußte.

Donnerstag vormittag erschienen James Moore und Andrew in ihrem Sonntagsstaat. Es war der Tag des jährlichen Pächteressens auf dem Schloß.

Die beiden durften jedoch erst ihres Weges ziehen, nachdem Maggie sie einer kritischen Musterung unterzogen. Sie bürstete Andrews Rock aus, band ihm die Krawatte, überzeugte sich von der Fleckenlosigkeit seiner Hände und Stiefel und stutzte ihn allseits so lange zurecht, bis sie den ungeschlachten Bauernlümmel in einen durchaus passablen jungen Mann verwandelt hatte.

Die ganze Zeit über dachte sie dabei an jenen anderen Burschen, dem sie an derartigen Galatagen den gleichen Liebesdienst erwiesen. Und ihr Vater erinnerte sich beim Anblick der Tränen in ihren Augen an die geheimnisvollen Andeutungen des Barons und meinte:

»Kopf hoch, Mädel. Vielleicht bring' ich dir heut abend gute Nachrichten mit.«

Das junge Mädchen lächelte traurig.

»Vielleicht, Papa.« Aber in ihrem Herzen blieben Zweifel.

Trotzdem war ihr Gesicht heiter, als sie von der Tür aus mit Klein-Anne und Old Bob an ihrer Seite den Wanderern Lebewohl zuwinkte.

Die Sonne stand im Zenit, als die beiden das graue Portal des Herrenhauses durchschritten.

In der stattlichen Vorhalle, majestätisch geschmückt mit den Trophäen eines alten, ehrenvollen Geschlechts, waren die zahlreichen Pächter der weiten Herrschaft Seemarken versammelt. Wetterharte, zinszahlende Söhne der Erde, in der Mehrzahl hier gebürtig; viele von ihnen, wie James Moore, waren jetzt Pächter auf dem Grund und Boden, den ihre Väter Generationen lang besessen und bewirtschaftet; dort standen sie alle in der Halle, eine dicht gedrängte Schar, nicht fürder Staatsmänner, wohl aber rechtschaffene Männer und ehrenhaft.

Und abseits von ihnen, durch eine Ironie des Schicksals im Schatten eines der gepanzerten Streiter verweilend, die die Eingangstüre hielten, stand der kleine M'Adam: zwerghaft wie immer, erbärmlich dieses eine Mal, das Zerrbild eines Mannes.

Die Tür am anderen Ende der Halle öffnete sich, und herein trat mit strahlendem Lächeln für jedermann der Baron.

»Na, da seid Ihr ja alle – was? Wie geht's denn? Freut mich, euch zu sehen! – Guten Tag, James! – Guten Tag, Saunderson! – Guten Tag Euch allen! Hab' einen Freund mitgebracht – haha!« Er trat zur Seite, um seinen Verwalter, den Pastor und als letzten einen schüchternen, tief errötenden, blonden jungen Riesen einzulassen.

»David, weiß Gott!« erscholl einstimmig der Ruf. »Junge, freut mich, dich wiederzusehen!« Und sie scharten sich um den Burschen, schüttelten ihm die Hand und fragten nach seiner Geschichte.

Die war sehr einfach. Nach seiner Flucht in jener verhängnisvollen Nacht hatte er sich als Treiber bei einer südwärts ziehenden Herde verdungen. Er hatte an Maggie geschrieben, der Brief war verlorengegangen, und er war über das Ausbleiben einer Antwort überrascht und gekränkt gewesen. Vergeblich hatte er gewartet, und da er zu stolz war, um noch einmal zu schreiben, hatte er nichts von seines Vaters Gesundung erfahren und eine Rückkehr weder gewagt noch gesucht. Dann, durch einen reinen Zufall, war er auf einer Viehausstellung in Yorkshire mit dem Baron zusammengetroffen; der menschenfreundliche alte Herr hatte seine Befürchtungen beschwichtigt und ihm das Versprechen abgenommen, heimzukehren, sobald seine Dienstzeit abgelaufen. Und jetzt war er hier.

Die Talbewohner drängten sich um den Burschen, lauschten seiner Geschichte, erzählten ihm ihrerseits die Neuigkeiten und neckten ihn mit Maggie, während der Baron, das humorvolle Gesicht vor Freude und Heiterkeit gerötet, schmunzelnd zuhörte. »Na, James – wie gefällt Ihnen meine Überraschung, he? Was wird Maggie dazu sagen?«

Von allen Anwesenden schien einer allein äußerlich unbewegt: M'Adam. Bei Davids Eintritt war er einen Schritt näher getreten – warme Röte auf den mageren Wangen –, doch niemand hatte seine Bewegung bemerkt; jetzt beobachtete er im Schatten seines kriegerischen Freundes mit saurem Lächeln die Szene.

»Den Anstand, sich bei mir zu entschuldigen für seinen Mordversuch, hätt' er eigentlich haben können. Aber« – ein charakteristisches Achselzucken – »ich stelle unvernünftige Forderungen.«

Jetzt ertönte der große Gong, und der Baron ging voraus in den mächtigen Speisesaal. Er setzte sich an das eine Ende der mit den soliden Leckerbissen eines solchen Festes bedeckten langen Tafel, zu seiner Rechten den Großbauern von Kenmuir. Den zweiten Vorsitz führte Pastor Leggy, während zu beiden Seiten die vierschrötigen Talbewohner sich aufreihten, M'Adam klein und verlassen in ihrer Mitte.

Anfänglich waren sie vor Respekt eingeschüchtert wie die Kinder und redeten nicht viel; Gabel und Messer klirrten, Gläser klangen; die Zuschneider hatten alle Hände voll zu tun; einzig die Zungen ruhten. Allein des Barons sonores Lachen und des Pastors muntere Worte gaben ihnen bald ihre Sicherheit zurück, und ein Babel von Stimmen entstand und wuchs.

Von allen Anwesenden schwieg allein M'Adam. Er redete mit niemandem und – des kann man sicher sein – niemand richtete das Wort an ihn. Seine Hand langte öfter nach dem Glase als nach den Schüsseln, bis Röte die gelbbleichen Wangen übergoß und die trüben Augen in unnatürlichem Glänze schimmerten.

Gegen Ende der Mahlzeit ward unter Silentiumrufen an das Glas geklopft, und die Männer rückten ihre Stühle zurück. Der Baron erhob sich zu einer Rede.

Er eröffnete sie damit, daß er ihnen seine Freude über ihre Anwesenheit ausdrückte. Er gedachte Old Bobs und des Schäferpreises und erntete stürmischen Beifall. Dann kam er kurz auf den »Schwarzen Würger« zu sprechen und meinte, er habe ein Gegenmittel vorzuschlagen: man solle den ›Alten‹ dem Verbrecher auf die Spur hetzen – ein Antrag, der mit lauten Hurrarufen, übertönt von M'Adams gackerndem Gelächter, aufgenommen wurde.

Jetzt verweilte er bei der augenblicklichen Konjunktur in der Landwirtschaft und schrieb die herrschende Depression der jüngst abgedankten radikalen Regierung zu. Da jetzt die Konservativen wieder ans Ruder gekommen samt einem Ministerium »von ehrenwerten Männern und Edelmännern«, glaube er bestimmt an eine lichtere Zukunft. Der Radikalen einziges Ziel sei es, Klasse gegen Klasse, Grundherren gegen Pächter aufzuhetzen. Nun, während der letzten fünfhundert Jahre wären die Sylvesters – zu seiner Schande müsse er es gestehen – selten gute Männer gewesen (Lachen und Protest), aber noch nie hätte er von einem Sylvester gehört (ihm käme es zwar nicht zu, das zu sagen), der ein schlechter Grundherr gewesen. (Lauter Beifall.)

Dies sei ein freies Land, und jeder Pächter, der nicht mit ihm zufrieden wäre (Stimmen aus dem Hintergrund: »Wer sagt, wir wären das?«) – »Danke, danke!«– nun, für den gäbe es draußen Platz genug (Hurrarufe). Er danke Gott aus tiefstem Herzen, daß es in den vierzig Jahren, da er die Herrschaft Seemarken verwalte, nie eine Reibung zwischen ihm und seinen Leuten gegeben (Hurrarufe), und er glaube auch nicht, daß es je eine geben würde (laute Hurrarufe). Sein Motto sei: »Meide die Radikalen wie den Teufel!« und er freue sich, sie alle hier versammelt zu sehen – freue sich von Herzen. Er wolle jetzt einen Trinkspruch ausbringen – »Die Königin, Gott mit ihr!« und – er bitte noch einen Augenblick um Ruhe – mit Ihrer Majestät Namen wolle er noch einen zweiten verknüpfen – er sei überzeugt, die hohe Frau würde nichts dagegen haben –, »den von Old Bob von Kenmuir«! Dann setzte er sich unter donnerndem Beifall.

Nachdem man dem Toast die gebührende Ehre erwiesen, erhob sich James Moore auf Grund seines Vorrechts als Herr auf Kenmuir zur Antwort. Er begann mit der Erklärung, daß er im Namen aller Pächter spräche, wurde indes unterbrochen.

»Nein,« kam eine schrille Stimme vom halben Ende der Tafel, »mich müßt Ihr ausnehmen, James Moore. Ebensogern ließe ich mich von Judas vertreten.«

Rufe wie: »Halt's Maul, Kleiner!« und des Barons Stimme: »Jetzt ist's genug, M'Adam!« ertönten.

Der Kleine Mann hielt seine Zunge im Schach, aber seine Augen brannten, und der Großbauer setzte seine Rede fort.

Er sprach kurz und treffend, in abgerissenen Sätzen. Und derweil begleitete ihn Adam mit einem leisen, laufenden Kommentar. Endlich vermochte sich der Kleine nicht länger zu beherrschen. Halb aus seinem Stuhl aufspringend, beugte er sich mit glühenden Wangen vor und rief: »Setzt Euch, James Moore! Wie könnt Ihr's wagen, als ehrlicher Mann hier zu stehen? Setzt Euch, sag' ich, sonst« – drohend – »wollt Ihr, daß ich Euch zu Leibe rücke?«

Die letzten Worte wurden seitens der Talbewohner mit stürmischem Gelächter begrüßt; selbst des Großbauern strenge Züge wurden milder. Doch hart und klar erscholl die Stimme des Barons:

»Schweigt, M'Adam, und setzt Euch! Habt Ihr mich verstanden, Mann? Wenn ich noch einmal reden muß, geschieht's, um Euch hinauszuweisen.«

Der Kleine Mann gehorchte, mürrisch, rachsüchtig, wie eine geprügelte Katze.

Der Großbauer schloß seine Rede mit der Aufforderung, den Baron, die gnädige Frau und die jungen Damen dreimal hochleben zu lassen.

Der Aufforderung wurde mit Begeisterung stehend nachgekommen. Und gerade als das Getümmel seinen Höhepunkt erreichte, erschien Lady Eleanor mit ihren beiden hübschen Töchtern an einem Ende des Saales, worauf der Lärm betäubend wurde.

Langsam erstarb der Tumult. Die Pächter setzten sich wieder, einer nach dem anderen. Endlich stand nur noch eine winzige Gestalt aufrecht. Der Ausdruck des Kleinen war wild entschlossen, und er klammerte sich mit dünnen nervösen Fingern an seine Stuhllehne.

»Herr Baron,« begann er mit leiser, aber klarer Stimme, »Ihr sagt, dies sei ein freies Land und wir, wir seien freie Männer. In diesem Falle nehme ich mir, mit Eurer Erlaubnis, die Freiheit, ein Wort zu sprechen. Kann sein, es ist das letzte Mal, daß ich hier stehe; also hoffe ich, daß man mir Gehör schenken wird.«

Die Grenzbewohner blickten überrascht auf, der Hausherr nervös. Trotzdem winkte er, fortzufahren.

Die Gestalt des Kleinen straffte sich. Sein Ausdruck brannte, wie im Bann eines gewaltigen Entschlusses. Alle Leidenschaft, aller Haß war von ihm gewichen, aus ihm leuchtete ein seltsamer edler Ernst. Dort in dem Schweigen des geräumigen Saales, das Ziel aller Augen, glich er einem Gefangenen, der vor den Schranken des Gerichts um sein Leben kämpft.

»Meine Herren,« begann er, »ich weile hier unter Euch nun an die zwanzig Jahr, und mit Recht kann ich behaupten, ich zähle in diesem Raum nicht einen einzigen Freund.« Er überflog die lange Reihe zu ihm aufgewandter Gesichter. »Ja, David, ich sehe dich wohl, und auch Euch, Mr. Hornbut, und Euch, Herr Baron, jeden einzelnen; aber da ist keiner, der mir als Kamerad den Rücken steifen möchte, wenn Unglück über mich käme.« Es lag kein Vorwurf in seiner Stimme; er sprach lediglich eine harte Tatsache aus.

»Ohne Zweifel ist unter Euch nicht einer, der nicht irgendeinen Freund besitzt, einen Verwandten – an den er sich in der Not wenden dürfte. Ich habe keinen.

›Allein trag ich des Lebens Last‹,

allein mit meinem Willie, der zu mir hält, ob's stürmt, ob's schneit, ob Regen oder Sonnenschein; und mitunter fürcht' ich: auch er wird mir genommen werden.« Das Letzte sprach er wie zu sich selbst, einen trauernden verwirrten Ausdruck in den Augen, als hätten böse Träume ihn jüngst gequält.

»Willie ausgenommen, besitze ich keinen Freund auf Gottes weiter Erde. Und glaubt mir: ein schlechter Mensch macht oft einen guten Freund – doch was lohnt's – Ihr habt mir niemals Gelegenheit gegeben, das zu beweisen. Es ist ein arges Ding, das – den Lebenskampf allein ausfechten zu müssen, meine Herren – niemanden zu haben, der einem auf den Rücken klopft, der einem sagt: ›Gut gemacht!‹ Es ist nicht ganz gerecht. Denn wenn ein Mann sich müht und scheitert – die Leut' schauen ja nicht auf die Müh', nur auf das Scheitern.

»Ich klag' niemand an. Es scheint, in mir lebt etwas, das alle gegen mich aufbringt. Dasselbe ist's mit Willie und den Hunden – sie sind gegen ihn, wie die Menschen mir feind sind. Wahrscheinlich sind wir so geschaffen. Seitdem ich ein Bub war, ist's stets so gewesen. Von meiner Schulzeit an standen alle gegen mich.«

Einen kurzen Augenblick herrschte Schweigen; dann begann die Stimme von neuem:

»In meinem Leben hab ich drei Freunde gehabt: Meine Mutter – sie ist gestorben; dann meine Frau –,« er schluckte krampfhaft – »und auch sie ist dahin; kann sagen, die beiden waren die einzigen menschlichen Wesen auf Gottes Erde, die je mit mir Geduld hatten; – und Willie. Eines Mannes Mutter, eines Mannes Weib, eines Mannes Hund! 's ist oft das einzige, was ihm auf der Welt bleibt, und je mehr er an ihnen hängt, um so wahrscheinlicher ist's, daß sie ihm genommen werden.«

Die brennende kleine Stimme bebte, die trüben Augen kniffen sich zusammen und füllten sich mit Tränen.

»Seit ich hier unter Euch weile – so einige zwanzig Jahre –, kann sich auch nur einer erinnern, mir ein gutes Wort gegeben zu haben?«

Er schwieg; keine Erwiderung.

»Ich will statt Euer antworten. Die ganzen langen Jahre hat ein einziger Mensch gut zu mir gesprochen, vor vierzehn Tagen, und es war kein Mann – die Frau Baronin war's, Gott segne sie!«

Er blickte zu der Galerie auf. Kein Mensch war zu sehen, nur ein Vorhang zitterte leise.

»Nun, ich meine, lang wird's nicht mehr dauern, bis Willie und ich heimgehen, allein und selbander, wie wir's immer getan. Und es ist Zeit dazu. Ihr habt genug von uns, und uns kommt's nicht zu, uns zu beklagen. Und wenn ich fort bin, was werdet Ihr dann von mir sagen? ›Er war ein Trunkenbold.‹ Das bin ich. ›Er war ein Sünder.‹ Das bin ich. ›Er war alles, was er nicht hätt' sein sollen.‹ Das bin ich. ›Gott sei Dank, daß er fort ist.‹ So werdet Ihr von mir sprechen. Und ich hab's verdient.«

Die sanfte anklagende Stimme schwieg.

»Das ist's was ich bin. Wären die Dinge anders gekommen, war' ich vielleicht auch anders geworden. Kennt Ihr Robbie Burns? – Das ist ein Mann, den ich gelesen hab', gelesen, gelesen und wieder gelesen. Wißt Ihr, weshalb ich ihn liebe, wie mancher von Euch vielleicht seine Bibel liebt? Weil er ein Mensch ist. Ein schwacher Mensch an sich, ewig gleitend, ewig fallend, immer bemüht, wieder aufzustehen, in Schmerzen den einen Augenblick, in Sünden den nächsten; böse jetzt, dann wieder mit dem Wunsch, das Böse ungeschehn zu machen – ein schlichter, ein menschlicher Mensch, ein Sünder. Und deshalb, mein' ich, ist er auch mild gegen uns, die ihm gleichen – er hat verstanden. – ›Gebt ihm 'ne Möglichkeit im Leben‹, sagt Robbie, ›wenn er auch ein Sünder ist.‹ Manch ein Mann wäre anders, manch schlechter Mensch wäre gut, hätt' man ihm nur seine Möglichkeit gegeben. ›Gebt ihnen die Möglichkeit,‹ sagt er und ich mit ihm. So aber seht Ihr mich, wie ich bin – ein schlechter Mensch mit 'nem Strich Guten nur. Hätt ich meine Möglichkeit gehabt – vielleicht wär' ich jetzt ein guter Mensch mit nur 'nem Strich Teufelei in mir. Das ist der Unterschied zwischen dem, was ist, und dem, was hätte sein sollen.«


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