Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Siebzehntes Kapitel

Tod an den Marken

Diesem Ereignis unmittelbar auf dem Fuß folgte ein Attentat gegen Old Bob; zum mindesten gab es für den Vorfall keine andere Erklärung.

In den Mitternachtsstunden eines unvergeßlichen Tages wurde James Moore durch ein leises Stöhnen unter seinem Zimmer aufgeschreckt. Er sprang aus dem Bett, lief ans Fenster und sah seinen Liebling sich über den Hof schleppen, den dunklen Kopf gesenkt, die stolze Rute dieses eine Mal schlaff, die geschmeidigen Glieder hölzern schwer, unnatürlich – ein Jammerbild. In der nächsten Sekunde jagte der Großbauer die Treppe hinunter auf den Hof.

»Was ist dir nur, Alter?« fragte er verzweifelt. Beim Klang der geliebten Stimme versuchte der alte Hund sich zu ihm hinzuschleppen, aber er vermochte es nicht und sank jammernd zusammen. Im Augenblick stand der Großbauer neben ihm und untersuchte ihn zärtlich: dabei schrie er nach Sam'l, der oben über den Stallungen schlief.

Jedes einzelne Symptom deutete auf unsauberes Spiel; die Zunge war aufgedunsen und fast schwarz, der Atem kam in mühsamen Stößen, scheußliche Zuckungen durchliefen den Körper, die weichen grauen Augen waren blutunterlaufen und glasig vor Qual.

Mit Hilfe von Sam'l und Maggie, durch nasse Packungen und Stärkungsmittel brachte der Großbauer ihn über die Krisis hinweg, und bald kamen auch Jim Mason und Pastor Leggy, in aller Eile herbeigerufen, um zu retten, was es zu retten gab. Energische und rasche Gegenmaßregeln erhielten das Opfer, wenn auch mit knapper Not, am Leben. Eine Zeitlang scharrte der beste Schäferhund des Nordens an den Toren des Todes; und während sie ihn in der Küche pflegten, schien es fast, als zittere der große silberne Pokal über dem Kamin vor Sorge. Endlich beim Grauen des Morgens war die Gefahr vorüber.

Das Attentat – falls es ein Attentat war – erregte in der ganzen Umgebung leidenschaftliche Empörung. Es beschleunigte den Ausbruch des lang schon gärenden Aufruhrs.

Jede Spur des Schuldigen fehlte. Nirgends ein Fingerzeig. Allein gab es auch keine Beweise, so herrschte in bezug auf den Übeltäter noch weniger Zweifel. Pastor Leggy, der nur selten hart über seine Mitmenschen urteilte, erklärte mit emphatischem Achselzucken zu dem Baron: »Sie kennen ja das Motiv, Sie kennen auch den Täter«. Der Argwohn unter den Grenzbewohnern steigerte sich fast bis zur Gewißheit.

Im »Sylvester-Wappen« forderte der lange Kirby M'Adam rundheraus zur Aussage auf.

»Wie ich mir die Sache erkläre?« rief der Kleine Mann. »Ich erkläre sie mir überhaupt nicht.«

»Wie ist sie denn passiert?« fragte Tammas rauh.

»Ich glaub' überhaupt nicht, daß was geschehen ist«, sagte der Kleine Mann. »Ich halte das Ganze für 'ne Lüge von James Moore – eine sehr bezeichnende Lüge.«

Als Antwort warfen sie ihn auf der Stelle zur Tür hinaus; ausnahmsweise hatte »Der Schrecken« ihn nicht begleitet.

Dieser nämliche Nachmittag blieb aus dreierlei Gründen denkwürdig. Erstens einmal befand sich M'Adam allein, zweitens wurde eine Minute nach seiner gewaltsamen Entfernung das Fenster des Schankzimmers aufgestoßen, und des Kleinen Mannes Kopf erschien in der Öffnung. Er redete kein Wort, aber seine trüben, schwelenden Augen wanderten von Gesicht zu Gesicht und weilten auf jedem einzelnen, als wolle er alle auf ewig in sein Gedächtnis eingraben.

»Ich vergeß 's Euch nicht, meine Herren«, sagte er endlich, schloß das Fenster und verschwand.

Der dritte Grund soll jetzt erzählt werden.

An diesem Tage hatte James Moore den alten Hund zu Hause gelassen, damit die mißhandelte Kreatur sich erhole, und war nach dem Städtchen Grammoch gegangen. Auf dem Heimwege begegnete er Jim Mason und Gyp, der treuen Betsy unwürdigem Nachfolger. Zusammen traten sie den langen Nachhausemarsch an. Jene Wanderung ist auf immer in dieser Geschichte rot markiert.

Den ganzen Tag hatten Nebel die Berge verhüllt. Unablässig war ein feiner Regen gefallen, und das Ächzen des Windes hatte eine ferne Drohung von Sturm mit sich getragen. Dem trüben Tage gesellte sich das noch trübere Dunkel der nahenden Nacht hinzu, während die drei den Aufstieg zum Paß begannen. Als sie die Teufelsmulde betraten, lag sie schwarz und blind da. Jedoch die Stimme des Windes war verstummt, vollkommenes Schweigen herrschte, und nur das Plantschen einer Otter am anderen Ufer des Einödsees durchbrach polternd die Stille, während die beiden Männer an dem dunklen Wasser entlangschritten. Endlich hatten sie den letzten steilen Aufstieg zu den Marken erklommen, ein weicher Lufthauch traf sie linde, der Nebelvorhang teilte sich und enthüllte eine strahlende Nacht.

Die beiden Männer gingen mit weiten, festen Schritten, wie sie das Erbe aller Moorbewohner und Hochländer sind, durch die Heide. Sie sprachen nur wenig; ein Wort oder zwei über Schafe und über die kommende Zeit des Lammens, dann streiften sie den bevorstehenden Wettbewerb, den Schäferpreis, Old Bob und das an ihm verübte Attentat, und endlich kamen sie auf M'Adam und den Schwanzlosen Köter zu sprechen.

»Glaubt Ihr, M'Adam hatte was damit zu tun?« fragte der Postbote den anderen.

»Beweise hab' ich nicht.«

»Außer, daß er rein versessen drauf ist, den ›Alten‹ noch vor dem Turnier kampfunfähig zu machen.«

»Ihn oder mich; das bleibt sich gleich.«

Jim blickte zu seinem Gefährten auf.

»Glaubt Ihr, es wird so weit kommen?« fragte er.

»Wie weit?«

»Na, zu 'nem Mord.«

»Nicht, wenn ich's ändern kann«, lautete des anderen harte Antwort.

Der Nebel hatte sich jetzt ganz gehoben, der Mond stand am Himmel. Zu ihrer Rechten auf dem Gipfel eines Hügels, etwa zweihundert Meter entfernt, hob sich eine dunkle zackige Wolke von Wald gegen den Himmel. Als sie vorüber schritten, stieg schreiend eine Schwarzdrossel auf und ein, zwei Waldtauben schwangen sich lärmend davon.

»Hallo! Ist das ein Spektakel!« murmelte Jim und blieb stehen. »Obendrein mitten in der Nacht!«

Am Saume des Waldes tummelten sich ein paar Kaninchen im Mondlicht; sie setzten sich aufrecht, lauschten und hüpften in das sichere Gehölz zurück. Gleichzeitig schlich sich ein großer Bergfuchs aus dem Dickicht. Lautlos trat er einen Schritt vor und blieb stehen, mit gespitztem Ohr und die eine Pfote erhoben; dann trabte er leise in das Dunkel davon, dicht an den beiden Männern vorüber, ohne sie jedoch zu bemerken.

»Was ist nur los?« forschte der Postbote nachdenklich.

»Der Fuchs hat sie wohl aufgescheucht.«

»Der nicht; der war selbst halbtot vor Schreck«, entgegnete der andere. Er packte in unterdrückter Erregung des Großbauern Arm: »Schaut nur meinen Gyp! Er ruft uns!«

Wirklich lauerte dort auf der Anhöhe im Walde der schlaue kleine Posten, jetzt blickte er über die Schulter nach seinem Herrn, jetzt stahl er sich wieder langsam vorwärts.

»Mein Wort drauf, etwas ist dort nicht in Ordnung«, rief Jim und warf mit einem Ruck die Postsäcke ab. »Kommt, Bauer!« Und er begann in Richtung des Hundes zu laufen, während James Moore, jetzt selber aufgerüttelt, ihm auf den Fersen folgte.

Etwa vierzig Schritt unterhalb des Buschwerks auf der anderen Seite des Gipfels rann plätschernd in seinem finsteren Bett ein kleiner Bach. Als die beiden Männer die Anhöhe erreichten, bemerkten sie, dicht zusammengedrängt in der Senke zwischen Wald und Bach, eine Herde schwarzwangiger Schafe. Sie standen in engen Reihen, halb dem Walde und halb den Ankömmlingen zugewandt, die Köpfe zurückgeworfen und mit weitaufgerissenen Augen, ein prachtvoller Anblick, wie ihn Schafe nur dann bieten, wenn äußerste Furcht sie gepackt hält.

Oben auf dem Kamm blieben die beiden Männer stehen. Der Postbote lauschte angestrengt mit vorsichtig vorgestrecktem Kopf. Dann sank er wie ein Toter in die Heide und zog den anderen mit sich zu Boden.

»Runter, Mann, runter!« flüsterte er und griff hastig mit der freien Hand nach Gyp.

»Was ist nur?« fragte der Großbauer, jetzt gleichfalls aufs tiefste erregt.

»Etwas hat sich im Walde gerührt«, flüsterte der andere und lauschte mit wieselscharfen Ohren.

Eine Weile lagen sie regungslos, aber in dem Wäldchen blieb alles stumm.

»Vielleicht war es doch nichts«, gestand der Postbote endlich, sich behutsam umschauend, »und doch glaubte ich – ich weiß selbst nicht, was ich glaubte.« Im nächsten Augenblick fuhr er mit einem heiseren Schreckensschrei hoch: »Gott schütz uns! Was ist das?«

Auch der Großbauer blickte auf und gewahrte in der Dunkelheit zwischen ihnen und den Reihen der Schafe ein stilles, weißes Etwas.

James Moore war ein Mann der Tat.

»Jetzt ist's aber genug mit dem Warten!« rief er und sprang, das Herz in der Kehle, vor.

Die Schafe stampften und bewegten sich unruhig, blieben aber stehen.

»Gott sei Dank,« rief er und ließ sich neben dem mattschimmernden Bündel auf die Knie, »es ist nichts als ein Schaf.« Noch während er sprach, tasteten seine Hände sachverständig den Kadaver ab. »Aber was soll das heißen? Ein Tier, so gesund wie ich selbst! Schaut nur das Fließ – kraus, dicht, stark, und fühlt mal das Fleisch – so fest wie Stein. Und dazu kein einziger Knochen gebrochen, und keinen Kratzer am ganzen Leibe. So gesund wie'n Mensch und doch so tot wie Hammelfleisch.«

Jim, immer noch in den Klauen seiner Furcht, trat ebenfalls vor und ließ sich neben seinem Freunde auf die Knie nieder.

»Hier ist irgendeine Teufelei im Gange!« meinte er; »die Schafe dort haben einen tüchtigen Schrecken bekommen, und zwar erst vor kurzer Zeit.«

»Schafmord, so wahr ich lebe«, entgegnete der andere. »Und ein Fuchs ist hier nicht im Spiel; das dort ist ein ausgewachsener, kräftiger Zweijähriger, der es fast mit 'nem Ochsen hätt' aufnehmen können.«

Jims Hände wanderten von dem Kadaver nach der Gurgel des toten Tiers. Er schrie laut auf. »Um Gottes willen, Bauer! Seht nur her!« Er hielt im Mondlicht die Hand hoch; rot rann es an ihr herab, »und dazu noch warm – ganz warm!«

»Bringt mir 'ne Handvoll Moos, Jim,« befahl der andere, »und zündet es an.« Der Postbote gehorchte. Einen Augenblick qualmte und glomm das Kraut, dann rann die Flamme prasselnd am Boden hin, schoß hoch auf im Dunkel und warf einen gespenstischen Schein über die Szene: rechts das niedrige Gehölz, eine feste schwarze Masse gegen den Himmel; vorn die gelbe Mauer der Schafe, mit keuchendem Atem und Augen, die in der Finsternis leuchteten, und in der Mitte der weiße, furchteinflößende Kadaver mit den knienden Männern und dem lauernden, prüfend witternden Hund.

Das Opfer wurde einer kritischen Untersuchung unterzogen. Die Kehle, aber ausschließlich diese, war furchtbar zerfleischt; die Ränder hingen in Fetzen um die klaffende Wunde; rings am Boden waren jämmerliche kleine Büschel Wolle verstreut; und zwischen dem Heidekraut kroch eine rote Schlangenspur langsam zum Bachbett hinab.

»Eines Hundes Werk, gar kein Zweifel«, meinte Jim endlich.

»Ja,« entgegnete mit langsamer Emphase der Großbauer, »und zwar eines Schäferhundes – eines alten Hundes obendrein, oder ich bin kein Schäfer.«

»Wieso?« forschte verständnislos der Postbote.

»Weil«, erwiderte der Großbauer, »er um des Blutes willen – ausschließlich um des Blutes willen getötet hat. Wär' es ein anderer Hund gewesen, Windhund, Bulldogge oder Terrier, ja selbst irgendein junger Schäferhund, glaubt Ihr, er hätt' sich mit einem Schaf zufrieden gegeben? Kein Gedanke daran; er wär' mitten durch die Herde gebrochen, hätt' sie wahrscheinlich vor sich hergetrieben und dabei gebissen und gerissen, bis er an die Hälfte umgebracht hätte. Der, welcher dies tat, hatte Durst nach Blut, ich wette drauf. Und er hat bekommen, was er wollte – nur dieses eine Schaf getötet und kein anderes angerührt. Versteht Ihr mich jetzt, Jim?«

Der Postbote stieß einen langen leisen Pfiff aus.

»Das ist akkurat, was der alte Wrottesley immer sagte«, entgegnete er. »Hab' ihm seinerzeit nicht die Hälfte geglaubt – jetzt glaub' ich's ihm aber. Wißt Ihr noch, was der Alte immer erzählte, Bauer?«

James Moore nickte. »Jawohl. Hab selber noch nichts dergleichen erlebt, aber mein Großvater hat oft davon gesprochen. Ein alter Hund kriegt mitunter den Durst nach Schafsblut, so wie ein Mensch die Sauflust bekommt; dann schleicht er sich nachts davon, läuft weit fort in eine andere Gegend, jagt sein Schaf, erlegt es und trinkt sich satt. Und er tötet immer nur eines, sagen die Leute, denn er kennt den Wert der Schafe genau wie Ihr und ich; er läuft seinen Weg, stillt seinen Durst und rennt nach Hause zurück, mitunter zwanzig Meilen weit, ohne daß am Morgen irgendeine Seele was davon ahnt. Und so geht's weiter bis zu seinem blutigen Ende. Der mörderische Verräter!«

»Falls es wirklich zu 'nem Ende kommt«, meinte Jim.

»Das tut es fast immer, sagen sie. Denn er wird frecher und frecher, weil er nicht abgefangen wird, bis er einer schönen Nacht 'ne Kugel im Leibe hat und irgendein Schäfer glaubt, der Schlag solle ihn treffen, wenn man ihm dann am Morgen seinen besten Hund zurückbringt, tot, mit der Schafswolle noch im Maul.«

Wieder pfiff der Postbote.

»Das ist haarklar, was der alte Wrottesley sagte, und er sagte noch, Bauer, daß ein Hund niemals seines Herrn Schafe tötet – 's ist noch 'so 'n Stück Gewissen, was ihm bleibt.«

»Ja, ja, das hab' ich auch gehört«, stimmte der Großbauer zu.

Jim Mason erhob sich von den Knien.

»Herrgott, ich wollte, wir hätten den ›Alten‹ hier, der könnt' uns ein Ding oder zwei zeigen.«

»Das wollte ich auch«, bestätigte der Großbauer.

Noch während er redete, krachte es oben in dem Gehölz: das Geräusch eines mächtigen Körpers, der wie toll durch das Unterholz sauste.

Die beiden Männer stürmten hügelan. Nichts war in der Dunkelheit zu sehen, allein als sie dort regungslos und mit angehaltenem Atem standen, vernahmen sie ein mattes, immer matter werdendes Geräusch wie von einem Tier, das in hastigem Galopp über die nassen Moore fegte.

»Das is' er, und ein Fuchs ist's nicht, ich halte jede Wette! Ein mordsmäßig großes Tier obendrein, hört nur!« rief Jim. Dann wandte er sich an Gyp, der heißmäulig die Fährte aufgenommen hatte. »Zurück, Dummkopf! Was hat's für 'nen Zweck, 'nem Nilpferd nachzujagen.«

Das Geräusch starb mählich, ganz allmählich dahin und schwieg schließlich ganz.

»Das ist er, Teufel, der!« meinte der Großbauer.

»Nein, nein; der Teufel hat 'nen Schwanz, sagen die Leute«, lautete Jims nachdenkliche Antwort.

Das Licht des Argwohns begann bereits, sich in einem rotglühenden Brennpunkt zu sammeln.


 << zurück weiter >>