Joachim Nettelbeck
Des Seefahrers Nettelbeck Lebensgeschichte
Joachim Nettelbeck

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Am 10. Juni brach das bereits gefürchtete Ungewitter gegen die Wolfsschanze los. In der Zeit von einer Stunde zählte man dreihunderteinundsechzig Schüsse. Dann aber begannen auch alle übrigen Batterien der Reihe nach bis zur Altstadt hinauf ein mörderisches Kanonen- und Bombenfeuer, überall regnete es Kugeln und Granaten, Schaden und Unglück waren beträchtlich. Dreimal am Vormittag und einmal nachmittags brannte es bei uns lichterloh. Das Feuer wurde jedoch immer bald wieder unterdrückt. Bei diesem Vorgehen des Feindes wurden denn auch neue Vorsichtsmaßnahmen nötig. So erging durch Trommelschlag der Befehl an die Hausbesitzer, vor den Türen und auf den Böden gefüllte Wasserfässer zum Löschen bereit zu halten.

Wiewohl wir unaufhörlich mit Kanonenkugeln in die feindlichen Kolonnen schossen, mußte die Besatzung der Wolfsschanze ihrer eigenen Tapferkeit und dem freilich nicht zureichenden Schutze der schwedischen Fregatte überlassen bleiben. Bis um fünf Uhr nachmittags hielt sie sich mit rühmlicher Entschlossenheit; dann aber waren ihre Verteidigungsmittel erschöpft. Mit harter Betrübnis sahen wir sie die weiße Fahne aufstecken, nachdem bereits eine starke Bresche geschossen und der Ausgang eines Sturmes nicht mehr zweifelhaft war. Ein fünfzehnstündiger Waffenstillstand ward abgeschlossen. Das Werk sollte dem Feinde eingeräumt werden, die preußische Besatzung aber samt ihrem Geschütz freien Abzug in die Festung erhalten.

Leider offenbarte sich besonders bei den gegenwärtigen verdoppelten Anstrengungen die Mangelhaftigkeit unsrer ganzen Festungsartillerie. Ein Transport neuen und guten Geschützes aus dem Berliner Zeughaus war für Kolberg bestimmt gewesen und im vorigen Sommer auch wirklich nach Stettin gelangt. Bevor aber die Verfrachtung ausgemacht und die Genehmigung des Kriegskollegiums erlangt werden konnte, verstrich Monat auf Monat, bis sich endlich die Franzosen Stettins und des uns zugedachten Geschützes bemächtigten. So geschah es, daß wir nunmehr zum Teil mit unsern eignen Kanonen und unsrer eignen Munition beschossen wurden.

Was wir an Kanonen und Mörsern besaßen, war reiner Ausschuß. Zudem war das Eisen von einer so spröden Gußmasse, daß gewöhnlich nach neun oder zehn schnellen Schüssen das Springen des Stückes befürchtet werden mußte. Wirklich traf nur zu viele dies Schicksal. Zugleich kostete es einer größeren Menge Artilleristen das Leben, als durch feindliche Kugeln hingerafft wurden.

Wir waren daher freudig überrascht, als am 14. Juni ein englisches Schiff in den Hafen lief, welches uns eine Anzahl neue Geschütze samt dazugehöriger Munition zuführte. Es waren fünfundvierzig Kanonen und Haubitzen, zwar eiserne, aber vom schönsten Gusse. Auch an Kugeln und Granaten war eine ansehnliche Menge mitgeschickt worden.

In der Nacht auf den 15. Juni toste der Sturm und es regnete aufs heftigste. Es war finsterer, als es in dieser Jahreszeit bei uns zu sein pflegt. All dies begünstigte ein gewagt erscheinendes Unternehmen, an welches sich dennoch große Hoffnungen knüpften. Es galt einen Ausfall, der uns die Wolfsschanze zurückgeben sollte. Das Grenadier-Bataillon von Waldenfels, welches sie sich hatte nehmen lassen, wollte sie auch wiedergewinnen. Ich folgte der Truppe mit ein paar Wagen, um für die zu erwartenden zahlreichen Verwundeten zu sorgen.

In tiefster Stille zogen wir aus und hatten das Glück, uns dem feindlichen Graben fast unbemerkt zu nähern. Jetzt aber ward plötzlich Lärm. Das Feuern begann von beiden Seiten. Überall kam es zum Handgemenge, und überall floß Blut. Unsre Leute stürmten begeistert, ihnen voran ihr edler Führer. Er war im raschen Lauf der erste auf der Höhe der feindlichen Brustwehr. Plötzlich trifft ihn eine Flintenkugel, die ihn entseelt zu Boden streckt. Allein des Führers Fall steigert die Tapferkeit der Seinen bis zur Erbitterung. Sie dringen unwiederstehlich nach, und die Schanze ist erobert. Ein Obrist, mehrere andre Offiziere und zwischen zwei- und dreihundert Franzosen werden zu Gefangenen gemacht.

Ein noch empfindlicherer Verlust aber traf das Belagerungsheer, dem bei diesem Kampfe sein Anführer, der Divisionsgeneral Teullié, getötet wurde. Wir aber hatten den Tod unseres ebenso wohldenkenden als heldenmütigen Vizekommandanten zu verschmerzen, der mit seinem edlen Vorgesetzten stets ein Herz und eine Seele gewesen war.

Erobert war die Schanze allerdings. Sie konnte aber nur wenige Augenblicke behauptet werden. Eine neue feindliche Kolonne rückte unverzüglich heran. Sie war entschlossen, den Tod ihres Heerführers zu rächen und des verlorenen Postens um jeden Preis wieder Herr zu werden. Das Gefecht begann wiederum und ward bei der überlegenen Zahl der Angreifenden bald so ungleich, daß keine andere Wahl blieb, als uns fechtend in die Stadt zurückzuziehen. Vorher und jetzt hatten wir mehr als zwanzig Tote und Verwundete gehabt. Nur mit harter Mühe war mir's gelungen, die Verwundeten wegzuschleppen.

In der dritten Morgenstunde des 1. Juli eröffnete der Feind aus all seinen zahlreichen Batterien ein Feuer gegen die Stadt, so ununterbrochen, so mörderisch und zerstörend, wie wir es noch nimmer erlebt hatten. Die Erde dröhnte davon; es war als ob die Welt vergehen sollte. Sichtbarlich legten es unsre Gegner darauf an, uns durch ihr Bombardement dergestalt zu ängstigen, daß wir die weiße Fahne zur Ergebung aufstecken müßten.

Ich befand mich in dieser entsetzlichen Nacht neben unserm Kommandanten auf der Bastion Preußen. Von diesem höchsten Punkte auf unsern Wällen konnten wir beinahe alle feindlichen Schanzen und auch die Stadt übersehen. Höllenmäßig wütete das Aufblitzen und Donnern des Geschützes. In der Luft schwärmte es lichterloh von Granaten und Bomben. Wir sahen es hier und da und überall in lichtem Bogen in die Stadt hineinfliegen; hörten ihr Krachen sowie das Einstürzen der Giebel und Häuser; vernahmen den wüsten Lärm, der drinnen wogte und toste; sahen bald hier, bald da Flammen emporlodern. Es war so hell, als ob tausend Fackeln brannten.

In der Stadt gab es bald nirgends ein Plätzchen mehr, wo sich die zagende Menge vor dem drohenden Verderben hätte bergen können. Überall zerschmetterte Gewölbe, einstürzende Böden, krachende Wände und aufwirbelnde Dampf- und Feuersäulen. Überall die Gassen wimmelnd von ratlos umherirrenden Flüchtlingen, die ihr Eigentum preisgegeben hatten und sich unter dem Gezisch der feindlichen Feuerbälle von Tod und Verstümmelung verfolgt sahen. Geschrei von Wehklagenden, Geschrei von Säuglingen und Kindern, Geschrei von Verirrten, die ihre Angehörigen in dem Gedränge und der allgemeinen Verwirrung verloren hatten; Geschrei der Menschen, die mit dem Löschen der Flammen beschäftigt waren, Lärm der Trommeln, Geklirr der Waffen, Rasseln der Fuhrwerke.

Was war aber jede eigne Not gegen die niederschlagende Nachricht, daß um vier Uhr morgens die Maikuhle verloren gegangen war! Mitten im heftigsten Bombardement war dieser Posten von der äußersten westlichen Spitze sowie von der Seeseite her überfallen worden. Die Schillschen Truppen unter dem dortigen interimistischen Befehlshaber Leutnant von Gruben waren zum übereilten Rückzug auf das rechte Stromufer gezwungen worden. Sie hatten kaum noch soviel Zeit gehabt, die Verbindungsbrücke hinter sich abzubrechen.

Mit dem Verlust der Maikuhle war unsrer Verteidigung die wichtigste Waffe aus der Hand geschlagen worden. Denn nun reichte auch das Münderfort zur Beschützung des Hafens nicht mehr aus. Dies offenbarte sich auf der Stelle. Das englische Schiff, das ich kaum zwei Tage zuvor mit Mühe in den Hafen geführt und das seine Ladung an Munition erst zur Hälfte gelöscht hatte, kappte beim Vordringen der Franzosen die Ankertaue, um wieder die offne See zu gewinnen. Es gelang ihm nur mit knapper Not und unter einem dichten feindlichen Kugelregen. Wir waren jetzt vom Meere und aller von dort zu erwartenden Hilfe abgeschnitten. Wir hatten nur noch unsre eigenen Kräfte und Hilfsquellen, die sich von Stunde zu Stunde immer mehr erschöpften.

Mit wenig verminderter Stärke hielt das Bombardement den ganzen 1. Juli an. Von Schrecken umgeben und auf noch Schrecklicheres gefaßt, sahen wir der nächsten Nacht entgegen. Das feindliche Geschütz vereinigte sich zu neuen, noch höheren Anstrengungen. Das Geprassel einstürzender Häuser, fallender Ziegel und klirrender Fensterscheiben übertönte fast den Donner des Feuers. Alle jammervollen Szenen der vorigen Nacht erneuerten sich in noch weiterem Umfange. Bei vielen zeigte sich aber auch eine Gleichgültigkeit, die nichts mehr zu Herzen nahm. Anstrengung, Schlaflosigkeit, immerwährende Anspannung des Gemüts und Sorge für Weib und Kind und Eigentum hatten die meisten so sehr erschöpft, daß sie sich selbst in den Trümmern ihrer Wohnungen noch ein Plätzchen suchten, um den bis in den Tod ermatteten Gliedern einige Ruhe zu gönnen.

Der Morgen des 2. Juli brach an. Das feindliche Bombardement schien wieder neue Kräfte zu gewinnen. Mut und besonnene Fassung waren mehr als jemals vonnöten. Aber nur wenigen war es gegeben, sie in diesem entscheidenden Zeitpunkt zu behaupten. Noch wenigere erhielten die Hoffnung auf einen glücklichen Ausgang in sich lebendig. Aber alle ohne Ausnahme ergaben sich willig in das unvermeidliche Schicksal. Sie hatten es in Gneisenaus Hand gelegt.

Höher aber und höher stiegen Gefahr und Not von Stunde zu Stunde. Niemand wußte mehr, ob es dringender sei, dem Feinde zu wehren oder die Flammen zu löschen, oder das eigne Leben vor den sausenden Feuerbällen zu wahren.

Es war drei Uhr nachmittags. Da, plötzlich, schwieg das feindliche Geschütz auf allen Batterien. Auf das Krachen eines Donners wie am Tage des Weltgerichts folgte eine lange, öde Stille. Jeder Atem bei uns stockte.

Da nahte ein feindlicher Parlamentär. Neben ihm schritt ein Mann, den man unter Zweifel und Verwunderung als einen preußischen Offizier erkannte. Einige versicherten, es sei ihr Freund, der Leutnant von Holleben, der erst vor einigen Wochen mit einer Abteilung Kriegsgefangener über See nach Memel gegangen war. Das schien unmöglich, und doch war es so! Als er sich fast atemlos in den Kreis seiner Bekannten stürzte, rief er aus: »Friede! Kolberg ist gerettet!«

Er war unmittelbar aus dem Hauptquartier des Königs zu Pilkupönen bei Tilsit als Kurier gekommen und überbrachte die offizielle Nachricht von einem mit Napoleon abgeschlossenen vierwöchigen Waffenstillstand, welchem unverzüglich der Friede folgen sollte.

Alsogleich ward die fröhliche Kunde den Bürgern der Stadt unter Trommelschlag bekanntgemacht. Welche Feder vermag wohl den Jubel zu schildern, der alle Gemüter ergriff Man muß selbst in der Lage gewesen sein, sich und die Seinigen gänzlich aufgegeben zu haben, um dies neue, kaum glaubhafte Gefühl von Ruhe und Sicherheit nachzuempfinden.

Nächst Gott dankten wir es unserm edlen Gneisenau, daß wir uns dieser Stunde und eines so ehrenvollen Triumphes erfreuten. Die Belagerung war beendet. Eine völlige Waffenruhe trat ein, und schier alle Bilder des Krieges verschwanden.

Ein wenig zur Ruhe gekommen, richtete ich auch den Blick auf meine eigne Lage und mußte mir gestehen, daß die Zeit der Belagerung mich zu einem armen Manne gemacht hatte. Mein bares Vermögen war gänzlich draufgegangen; teils an Arbeiter, die ich aus meiner Tasche bezahlt, teils durch Spenden an unser braves Militär, das jede Art Erquickung so wohl verdient hatte. Mir war es das süßeste Geschäft, wenn ich den Leuten bei ihrem harten Dienst dann und wann einen warmen Bissen auf die Wälle bringen und ihnen Trost und guten Mut zusprechen konnte.

Meine Freunde haben mir so oft vorgeworfen, daß mich mein guter Wille zu weit führe und zum Verschwender mache. Aber immer antwortete ich ihnen: »Ich bin ein alter Mann ohne Kind und Kegel. Wem sollte ich es sparen?«

Mein Haus hatte durch das Bombardement in allen seinen Teilen gelitten, meine Scheune vor dem Tore war niedergebrannt, mein Gartenhäuschen abgebrochen worden und mein Garten verwüstet. Von den Vorräten meines Gewerbes war nichts mehr übrig. Doch meine Mitbürger hatte all dies Unglück ja auch getroffen.

Mir ward indes in diesen nämlichen Tagen von des gnädigen Monarchen Hand eine Auszeichnung zuteil, die ich nicht erwartet und vor andern, die mit mir ihre Pflicht getan, nicht verdient zu haben glaubte. Ich erhielt nämlich folgendes Königliche Kabinettsschreiben: »An den Vorsteher der Bürgerschaft zu Kolberg, Nettelbeck. Seine Königliche Majestät von Preußen haben aus dem Bericht des Oberstleutnants v. Gneisenau, worin er Höchstdenselben diejenigen Personen anzeigt, welche sich während der Belagerung der Festung Kolberg ausgezeichnet haben, mit besonderem Wohlgefallen ersehen, daß der Vorsteher der Bürgerschaft, Nettelbeck, die ganze Belagerung hindurch mit rühmlichem Eifer und rastloser Tätigkeit zur Abwehr des Feindes und zur Erhaltung der Stadt mitgewirkt hat. Seine Majestät wollen daher dem Nettelbeck für den solchergestalt zu Tage gelegten löblichen Patriotismus hierdurch Dero Erkenntlichkeit bezeigen und ihm, als ein öffentliches Merkmal der Anerkennung seiner sich um das Beste der Stadt erworbenen Verdienste, die hierneben erfolgende goldene Verdienstmedaille verleihen. Memel, den 31. Juli 1807. Friedrich Wilhelm.«

Um die nämliche Zeit ward mir durch des Königs Gnade eine Auszeichnung zuteil, die ich auf keine Weise hatte erwarten können. Es war Sr. Majestät – ich weiß selbst nicht wie – zur Kenntnis gekommen, daß ich vor langen Jahren in wirklichem königlichen Seedienst gestanden hatte. Demzufolge ward mir jetzt die förmliche Erlaubnis erteilt, die königliche Seeuniform zu tragen. Warum sollte ich leugnen, daß gerade diese Vergünstigung einen tiefen und rührenden Eindruck auf den alten Seemann in mir machte, dessen Patriotismus sich immer und unter allen Himmelsgegenden mit einigem Stolz zur preußischen Farbe bekannt hatte?

Gleich nach der Belagerung hatte sich der edle Gneisenau erboten, mir eine königliche Pension zu erwirken. Er wußte um die mancherlei Einbußen, denen ich während der Belagerung ausgesetzt gewesen war. Ich bat ihn, von diesem Gedanken abzustehen, denn damals waren meine Umstände noch immer leidlich, und ich hatte niemand zu versorgen. Gegenwärtig aber, wo meiner Lebenslast noch zehn Jahre zugewachsen waren, standen meine Sachen um vieles anders. Ich war daher dankbar gerührt, als die Huld meines guten und gnädigen Königs mir ein jährliches Gnadengehalt von zweihundert Talern aussetzte. Solchergestalt hatte ich nach menschlichem Ermessen nunmehr mit Welt und Leben so ziemlich abgeschlossen.

In dem, das ich noch nennen will, sorge und bekümmere ich mich als Mensch für die Ehre und den Vorteil der Menschheit. Wann will und wird bei uns der ernstliche Wille erwachen, den afrikanischen Raubstaaten ihr schändliches Gewerbe zu legen, damit dem friedsamen Schiffer, der die südeuropäischen Meere unter Angst und Schrecken befährt, keine Sklavenfesseln mehr drohen?

Wenn ich das noch heute oder morgen verkündigen höre: dann will ich mit Freuden mein lebenssattes Haupt zur Ruhe niederlegen!


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