Joachim Nettelbeck
Des Seefahrers Nettelbeck Lebensgeschichte
Joachim Nettelbeck

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Im Monat August traf ich in Kolberg ein. Meines Oheims Schiff fand ich bereits in der Ausrüstung. Wir fuhren auf die Rügenwalder Reede, wo wir unsere Ladung Holz einnahmen. Mit mir fuhr mein jüngerer, sechzehnjähriger Bruder als Kajütenwärter. Auch hatte mein Oheim seinen eigenen vierzehnjährigen Sohn mitgenommen. Alles in allem befanden sich dreizehn Menschen an Bord. Gleich der Anfang der Fahrt versprach wenig Gutes. Wir wurden durch Sturm und widrige Winde dergestalt aufgehalten, daß wir erst Ausgang Oktober im Sunde anlangten.

Hier ging mein Oheim mit mir und noch drei anderen Matrosen in der Segelschaluppe nach Helsingör an Land, wo seine Geschäfte ihn so lange aufhielten, daß wir erst abends um neun Uhr auf den Rückweg kamen. Die See ging hoch. Unser Fahrzeug, das mit Wasser- und Bierfässern sowie anderen Provisionen schwer geladen war, hielt wenig Bord. Eben machten wir einen Schlag dicht hinter dem dänischen Wachtschiffe vorbei, als ein harter Stoßwind so plötzlich aufstieg und so ungestüm in unsere Segel fiel, daß die Schaluppe Wasser schöpfte, umschlug und im Hui den Kiel nach oben kehrte. Wir wurden samt und sonders herausgespült. Ich griff nach einem Ruderholz und war so glücklich, mich über Wasser zu halten. Wo die anderen abblieben, sah ich nicht. Indes war unser Unglück von dem dänischen Kriegsschiff bemerkt worden. Sogleich setzten sie ein Fahrzeug aus, das uns Hilfe bringen sollte. Allein es war stockfinster und von uns Verunglückten keine Seele aufzufinden. Nur die Schaluppe kam ihnen in den Wurf und ward geborgen. Freilich war die ganze Ladung davongeschwommen.

Unter uns Umhertreibenden war ich wohl der erste, der sich glücklich aus diesem bösen Handel zog. Ich trieb gegen ein vor Anker liegendes Schiff und hielt mich so lange am Ankertau fest, bis die Leute mich zu sich an Bord ziehen konnten.

Erst am Morgen fanden wir uns in Helsingör wieder zusammen. Unsere Schaluppe ward uns von dem Wachtschiffe zurückgegeben. Wir ersetzten unsere verunglückte Ladung durch neue Vorräte, versahen uns mit frischen Rudern und kehrten sodann nach unserm Schiffe zurück. Sobald Wind und Wetter wieder günstiger geworden waren, setzten wir unsere Fahrt trotz der späten und bösen Jahreszeit fort.

Am 2. Dezember warf uns ein gewaltiger Nordsturm auf die flämischen Bänke, deren Gefährlichkeit wir nur zu gut kannten. Bald auch bekamen wir mehrere heftige Grundstöße, die unser Steuerruder beschädigten und es unbrauchbar machten. Um nicht augenblicklich auf den Strand zu geraten, blieb nichts übrig, als uns auf der Stelle vor zwei Anker zu legen. Das Land war eine kleine halbe Meile entfernt. Unsere Segel, die wir nicht mehr fest machen konnten, flatterten im Winde. Welle für Welle stürzte über das Verdeck hinweg. Wir standen in einem fort unter Wasser und mußten uns am Mast festhalten. Wir befanden uns an der flandrischen Küste und eine Strandung war kaum zu vermeiden. Hier war österreichisches Gebiet. Wir waren preußische Untertanen und Preußen mit Österreich seit kurzem im Kriege begriffen. Unsere Lage war daher noch unerfreulicher. Mein Oheim verbot uns für jeden Fall, auf irgendeine Weise zu verraten, daß wir von Rügenwalde kämen und ein preußisches Schiff hätten. Wir sollten vielmehr übereinstimmend aussagen: Schiff und Ladung sei schwedisches Eigentum, komme von Greifswald und sei nach Lissabon bestimmt. Sobald es der Sturm zulasse, so setzte er hinzu, wolle er hinabsteigen, um die preußische Flagge und seine Schiffspapiere zu vernichten, und die schon bereitgehaltenen schwedischen Dokumente aus der Kajüte zu holen.

Er entschloß sich wirklich zu diesem gewagten Versuch. Doch beim Niedersteigen traf ihn ein unglücklicher Schlag des peitschenden Segels so gewaltsam, daß es ihm unmöglich wurde, sich länger zu halten. Er stürzte mit dem Rücken auf den Rand des auf dem Verdeck stehenden Bootes, von da endlich auf das Deck, welches die Sturzwellen immerfort überschwemmt hielten. So sahen wir ihn in diesem Wasser hin und her gespült werden. Ein gräßlicher Anblick. Mit noch zwei Matrosen wagte ich mich hinab. Wir zogen ihn mit Mühe auf das Kajütendeck, wo nicht jede Woge eine Überschwemmung verursachte. Der Schlag des Segels hatte das linke Auge getroffen; es hing nur noch an einer schwachen Sehne weit aus dem Kopfe. Das Blut drang aus Mund, Nase und Ohren zugleich. Aus der hohlen Brust stöhnte ein dumpfes Röcheln. Er war vollkommen ohne Bewußtsein. Ratlos schob ich ihm das hängende Auge in den Kopf zurück und band ihm ein Halstuch darüber. Neben ihm lag ich mit seinem Sohn und einem Matrosen.

Bis gegen fünf Uhr abends lagen wir dort. Dann rissen unsere Ankertaue, und wir wurden bei halber Flut unaufhaltsam gegen den Strand getrieben. Endlich stieß das Schiff auf Grund. Aber erst als die Ebbe eintrat, saß es völlig fest. Allmählich krachte der Schiffsleib in allen Fugen. Wir sahen die Stücke davon unter unseren Füßen eins nach dem anderen davontreiben. Als sich die Ebbe aber immer weiter zurückzog, ließ auch die Gewalt der Wogen nach, die uns sonst unausbleiblich in den Abgrund gerissen hätte.

Es war Mondschein. Nach unserer Schätzung waren wir zwei- oder dreihundert Schritte vom Ufer entfernt. Es wurde höchste Zeit, alles aufzubieten, um wo möglich lebend an Land zu kommen, bevor die Flut wieder stieg. Deren Gewalt konnte das Schiff ohnehin nicht mehr widerstehen, ohne gänzlich in Trümmer zu gehen. Es mußte gewagt werden! Sowie nun eine Sturzwelle nach der anderen sich zu uns heranwälzte, sprangen wir der Reihe nach über Bord und wurden sogleich mit der Brandung gegen das Ufer getrieben. Die dort stehenden Menschen fingen uns auf und brachten uns aufs Trockne. Ich, mein Bruder und der Sohn meines Oheims – wir waren die letzten. Wir lagen neben dem Verunglückten auf dem Kajütendeck und konnten uns nicht entschließen, den teuren Mann zu verlassen. Wir schrien und wußten nicht, was wir mit ihm beginnen sollten. Vom Strande her ward uns durch ein Sprachrohr unaufhörlich zugeschrien: »Springt über Bord! Springt über Bord! Wächst das Wasser mit der Flut wieder an, so seid ihr verloren! Springt! Springt!«

Angefeuert und gleichzeitig geängstigt durch dies Rufen zogen wir endlich unsern Leidenden, dessen Bewußtsein völlig geschwunden war, hart an den Bord des Schiffes, warteten auf eine besonders kräftige Sturzwelle und ließen ihn damit zum Ufer treiben. Zu unserer Freude sahen wir, wie er im Flug dem Lande zugeführt wurde. Dort fingen ihn die guten Leute auf, ehe er von der See wieder zurückgespült werden konnte. Dann sprang mein Bruder ins Wasser, danach der Sohn meines Oheims. Als letzter warf ich mich in die rollenden Wogen; und schon in der nächsten Minute umfingen mich hilfreiche Arme, die mich den Strand hinauf ins Trockne trugen.

Die Mehrzahl unsrer menschenfreundlichen Retter waren österreichische Soldaten. Seit ihre Kaiserin Maria Theresia sich auch mit England im Kriege befand, standen sie hier zur Deckung der Küste postiert und hatten alle zweitausend Schritte ein Wachthaus am Strande. In ein solches Gebäude ward nun auch unser armer Oheim von uns und den Soldaten getragen. Man deckte ihn mit allem, was sich an trockenen Kleidungsstücken vorfand, sorgfältig zu, um ihn wieder zu erwärmen.

So mochte er etwa eine Stunde gelegen haben, als er zum erstenmal nach seinem Unglück den Mund öffnete. »O Gott! Ist mir noch zu helfen?« stöhnte er. Das war Musik in meinen Ohren. Mit freudiger Hast erwiderte ich ihm: »Ja, ja, lieber Vatersbruder! Gott kann – Gott wird Euch noch wieder helfen. Wir sind am Land.«

Früh morgens kam ein Fuhrwerk mit Stroh gefüllt und einer Leinwanddecke versehen. Nachmittags kamen wir in Dünkirchen an. Man schickte mich nach dem Klosterhospital, wo der rechte Ort für Kranke und Gebrechliche sei. Als wir dort angelangt waren und meinen Onkel vom Wagen gehoben hatten, nahmen ihn gleich mehrere katholische Ordensgeistliche in Empfang. Sie legten ihn zuvörderst auf einen langen, breiten Tisch, wo er bis auf die nackte Haut entkleidet wurde.

Darauf fand sich eine Anzahl von Doktoren und Chirurgen ein, welche nun zu einer genaueren Untersuchung seiner Verletzung schritten. Zuerst lösten sie das Tuch, welches ich dem Armen gleich nach seinem unglücklichen Falle um das Auge gebunden hatte. Jetzt war dieses mit dem geronnenen Blut an dem Verband fest getrocknet und wurde mit ihm aus dem Kopf gezogen. Da es nur noch an einem dünnen Nervenstrang in der Augenhöhle hing, war es rettungslos verloren. Man schnitt es daher ab.

Bei der weiteren Untersuchung ergab sich, daß das linke Bein oberhalb des Knies im dicken Fleische gebrochen war. Am bedenklichsten war jedoch die Zerschmetterung eines Rückenwirbels dicht unterm Kreuz. Offenbar verursachte diese Verletzung dem armen Manne die empfindlichsten Schmerzen. Während man ihn behandelte und die Gliedmaßen hin und her reckte und dehnte, hörte er nicht auf zu winseln und zu ächzen. Uns drei Jungen, die wir Zeugen von dem allen waren, schnitt jeder Klageton tief ins Herz. Wir heulten und lamentierten mit dem Oheim um die Wette. Schließlich sah man sich genötigt, uns aus dem Gemach zu weisen. Wir brachten eine schlaflose, trübselige Nacht zu und wußten nicht, wo Trost und Hilfe zu finden.

Am nächsten Morgen standen wir wiederum, von Herzen betrübt, am Bett unseres Kranken. Wir konnten aber keine merkliche Besserung an ihm feststellen. Ich beugte mich indes dicht an sein Ohr. »Lieber Vatersbruder«, fragte ich ihn, »sollen wir nach Kolberg schreiben?« – Er hatte mich verstanden, denn er schüttelte mit dem Kopfe, als ob er Nein sagen wollte. Ein schwacher Hoffnungsstrahl! Doch er erfüllte mich mit Mut. Vielleicht konnte doch noch alles wieder gut werden. Ich glaubte darum auch, daß ich die Briefe unbedenklich abgehen lassen dürfte, und eilte mit meinen Gefährten nach dem Postkontor.

Als wir nach dreiviertel Stunden etwa wieder in das Kloster und das Krankenzimmer kamen, fanden wir zu unsrer höchsten Bestürzung nur unsers guten Oheims Leiche vor. Sobald uns die Doktoren verlassen hatten, traten einige Pfaffen hinzu und fragten mich, zu welchem Glauben sich unser Schiffskapitän bekannt habe. Ich armer Narr antwortete unbedenklich: »Ei, zum Lutherschen!«

Sowie dies unglückliche Geständnis über meine Lippen gekommen, war es, als wäre ein Blitz ins Kloster geschlagen. Alles geriet in Bewegung. Sie sprachen eifrig untereinander. Niemand wollte den Seligen berühren, und doch mußten die Ketzergebeine aus dem geweihten Bezirk geschafft werden, ehe die Sonne unterging. Man steckte uns endlich eine beschriebene Karte in die Hand. Sie war an einen Tischler gerichtet, der wohl die Särge für das Hospital lieferte. Wir sollten uns einen Sarg nach der Größe unserer Leiche aussuchen. Unsre Wahl fiel auf den längsten, weil unser Oheim von ansehnlicher Statur gewesen war. Mit diesem Sarge wanderten wir nach dem Kloster zurück.

Hier trieb man uns mit barschem Ernst an, den Leichnam unverzüglich einzusargen. Man reichte uns Hammer und Nägel, um den Deckel zuzuschlagen. Dann begannen wir, den Sarg mit den uns so teuren Überresten eine kurze Strecke auf den Flur fortzuziehen und zu schieben. Hier aber lähmte der ungeheure Schmerz plötzlich alle unsre Kräfte. Ich fiel vor dem einen Pater auf die Knie und bat ihn um Gottes willen, man möge sich unser erbarmen.

Es gab eine kurze Besprechung unter den Anwesenden. Ein Aufwärter ward fortgeschickt, und binnen einer Viertelstunde erschienen vier Männer mit einer Trage, jeder mit einem Spaten versehen. Sie packten die Leiche an, und so ging der Zug zum Tore hinaus etwa zweitausend Schritte weit und gerade auf eine Kirche zu. Wir meinten, der Leichenzug eile dem Kirchhof zu. Doch weit gefehlt! Es ging an dem Gotteshause vorbei und wohl noch tausend Schritte weiter auf ein freies Feld.

Es war ein Fleck am Wege, der nichts hatte, was einem Totenacker ähnlich sah. Hier sollten wir nun ein Grab graben. Da es aber den Kerlen damit zu lange währte, nahmen sie uns die Spaten verdrießlich aus den Händen, schaufelten selber und schimpften uns Ketzer. Wir hingegen gaben ihnen alle möglichen guten Worte; und sobald das Grab auch nur so tief gegraben war, daß der Sargdeckel unter die Erde kommen konnte, senkten wir die Leiche mit Weinen und Wehklagen hinein und warfen Erde darüber. Dann nahmen wir unter tausend heißen Tränen Abschied.

Später berieten wir, was wir in dieser unsrer gänzlichen Verlassenheit anzufangen hätten. Wir beschlossen, am nächsten Morgen zu unserm Schiff und unsern Kameraden zurückzukehren. Wo diese blieben, wollten auch wir bleiben und ihr Schicksal mit ihnen teilen. Unser einziger und letzter Notanker war des verstorbenen Oheims Taschenuhr. Wir hatten sie an uns genommen und gedachten sie loszuschlagen, wenn es nötig wäre. Wir wanderten wieder den Strand entlang, um unsere zurückgelassenen Unglücksgefährten aufzusuchen.

Doch wir waren kaum eine Meile gegangen, als wir unsern Schiffskoch Roloff trafen. Er berichtete uns: Die österreichischen Strandwächter hätten unsre preußische Flagge von dem zertrümmerten Schiffe am Ufer aufgefischt. Die Mannschaft sei hierauf nochmals in ein scharfes Verhör genommen worden und habe sich endlich zu ihrer wahren Landsmannschaft bekennen müssen. Von Stund an habe man sie als Kriegsgefangene behandelt. Man habe sie gezwungen, die Trümmer des Schiffes und der Ladung in angestrengter Arbeit bergen zu helfen. Dabei seien sie streng bewacht worden. Niemand habe sich ohne militärische Begleitung auch nur bis zwischen die nächsten Sanddünen entfernen dürfen. Ihm selbst sei es dennoch in der letzten Nacht geglückt, seinen Aufsehern zu entwischen. Er gedenke nunmehr nach Dünkirchen zu gehen, wo er in Sicherheit zu sein hoffe. Uns aber rate er, auf der Stelle mit ihm umzukehren.

Auch uns schien dieser Vorschlag in der Tat der beste zu sein. Daneben fiel mir ein, daß unser Schiff in Amsterdam gegen Seeschaden und Türkengefahr versichert gewesen war und daß der Kommissionär, der dies Assekuranz-Geschäft besorgt hatte, den Namen Emanuel de Kinder führte. Ich konnte demnach bitten, an diesen Agenten in Amsterdam zu schreiben und ihn in unserm Namen um einen Vorschuß von einhundert Gulden für Rechnung meines Vaters zu ersuchen. Damit konnte man dann schon hoffen, unsre Heimat wieder zu erreichen.

All dies ging auch nach Wunsch in Erfüllung. Binnen acht Tagen ging auch eine Antwort von Emanuel de Kinder ein. Er schrieb, wenn wir des Nettelbecks Kinder wären, möge man uns die hundert Gulden, oder, falls wir es verlangten, auch das Zwiefache auf sein Konto vorschießen.

Mit Reisegeld waren wir nun notdürftig ausgerüstet. Welchen Weg aber sollten wir einschlagen, um wieder zu den Unsrigen zu gelangen? Es war Winter, und die See so gut als gesperrt. Zu Lande hätten wir uns durch die österreichischen Niederlande wagen müssen, wo wir als Preußen Gefahr liefen, gleich an der Grenze in Nieuport, Ostende oder wo es sonst sei, angehalten zu werden. Bald aber bot sich uns eine günstige Gelegenheit, weiter zu kommen. Die Dünkircher Kaper hatte nämlich einen englischen Kutter als Prise aufgebracht und ihn an einen Schiffer aus Bremen namens Hindrick Harmanns verkauft. Harmanns ließ das Schiff sofort mit losen Tabakstengeln laden und wollte damit nach Hamburg gehen. Die gesamte Schiffsmannschaft bestand außer ihm selbst nur aus zwei Matrosen. Wir drei waren ihm als Passagiere um so willkommener, da wir uns erboten, gegen Kost die Wache mit zu halten.


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