Joachim Nettelbeck
Des Seefahrers Nettelbeck Lebensgeschichte
Joachim Nettelbeck

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Fünf Tage war ich im lieben Vaterhause gewesen, als ein neuer Unglücksstern über mir aufging. Da hieß es: Die Unteroffiziere von unserm Bataillon, welches damals seine Winterquartiere in Torgau hatte, wären in unsrer Gegend, um frische Rekruten in diesem ihrem Kanton auszuheben. In jener Zeit eine Schreckensnachricht für alle Eltern und alles junge Volk, das eine Flinte schleppen konnte und nicht mochte.

Diese entschiedene Abneigung des Bürgers gegen den Soldatenstand, die man damals überall fand, hatte aber auch ihre genugsame Rechtfertigung in der heillosen und unmenschlichen Art, womit die jungen Leute beim Exerzieren von den dazu angestellten Unteroffizieren behandelt wurden. Vor den Fenstern ihrer Eltern, auf öffentlichem Markte wurden sie von diesen rohen Menschen bei solchen Übungen mit Schieben, Stoßen und Prügeln aufs grausamste mißhandelt. Oft nur, um ihre neue Autorität fühlen zu lassen, oft aber auch wohl in der eigennützigen Absicht, von den Angehörigen Gaben und Geschenke zu erpressen. Es war ein kläglicher Anblick, wenn die Mütter, die bei solchen Auftritten in Haufen daneben standen, schrien und baten, um dann von den Barbaren rauh und unsanft abgeführt zu werden. Irgendwelche Klagen bei den Obern wurden abgewiesen. Sie dachten wie ihre Untergebenen und sahen mit kalter Geringschätzung auf alles herab, was nicht den blauen Rock ihres Königs trug.

Ich selbst hielt mich schon meiner kleinen Statur wegen nicht tauglich zu einem regelrechten Soldaten. Man kann sich also meinen Schreck denken, als ein gutmeinender Freund aus dem eingetroffenen Werber-Korps meinem Vater insgeheim anvertraute: Sämtliche Burschen der Stadt von vierzehn Jahren und darüber wären bereits notiert; um elf Uhr würden die Tore geschlossen, die Brauchbarsten unter den Jungleuten aufgegriffen und gleich am nächsten Morgen nach Sachsen transportiert.

Jetzt war es neun Uhr morgens. Ich durfte also nicht säumen. Ich sollte vorerst nach der Münde flüchten und mich dort verbergen. Bald hörte ich, daß das Ordonnanz-Haus bereits voll neuer Rekruten stecke. Mein Vater ließ mir sagen, daß auch bei ihm nach mir gesucht worden sei. Ich möge mich daher ungesäumt aufmachen und zwei Meilen weiter am Strande entlang im Dorf Bornhagen bei einem mir namhaft gemachten Bauern eine einstweilige Zuflucht suchen. Doch dieser gute Rat kam leider zu spät; mein Aufenthalt war schon verraten!

Gleich am Nachmittag zeigten sich die Werber überall auf der Münde und umringten das Haus, in dem ich steckte. Ich hatte nur soviel Zeit, mich auf den stockfinsteren Boden zu flüchten. In meiner Angst zog ich ein großes Fischernetz, das dort hing, über mir zusammen, so daß ich ein wenig verdeckt lag. Kaum war dies geschehen, so rührte sich auch etwas auf der Leiter, die unter das Dach führte. Es war ein Unteroffizier. Er zog sein Seitengewehr und tastete damit die Winkel ab. So ging er auch rund um mich, ohne mich unter dem aufgetürmten Netz zu ahnen. Ich hatte Gelegenheit, sein Tun einigermaßen zu beobachten. Ich darf wohl sagen, daß mir dabei unheimlich zumute war. Aber er fand mich nicht, und auch unten im Hause wurde ich standhaft verleugnet.

Nun war aber auch hier meines Bleibens nicht länger! Kaum graute der Abend, so machte ich mich zu meinem Bauer auf den Weg. Man hatte mir einen tüchtigen Schiffshauer (eine Art Haumesser) zu meiner Sicherheit mitgegeben. Ich sollte mich damit weniger meiner Verfolger erwehren als der Wölfe, da ich ja das Stadtholz passieren mußte. Es war auch ein wahres Wolfswetter, mit Sturm und Schneegestöber. Gott weiß, wie blutsauer mir dieser Weg wurde. Unzählige Male brach das Eis unter mir ein oder ich versank im Schnee, daß ich vollauf zu tun hatte, immer wieder auf die Beine zu kommen. Endlich am Morgen erreichte ich meine Freistatt. Ich hielt mich dort zehn oder zwölf Tage auf. Da ich immer im Zimmer bleiben mußte und keine Nachrichten von zu Hause hatte, erschien mir die Zeit wie eine halbe Ewigkeit. Endlich hatte ich keine Ruhe mehr. Ich machte mich eines Abends wieder auf, um in meinem alten Quartier auf der Münde nachzufragen, ob ich mich mit einiger Sicherheit wohl wieder zeigen dürfte.

Hier lauteten indes die Nachrichten so wenig tröstlich, daß ich mich weiter verbergen mußte. Doch wollte ich nicht gern von der Münde weichen, weil die Schiffahrt bald wieder losging, und dann war ich hier zur Stelle und konnte womöglich mit irgendeinem absegelnden Schiff entkommen. Da sich aber noch mehrere meiner jungen Kameraden mit ähnlichen Plänen trugen, so waren wir bereits nach einigen Tagen verraten worden. Eine neue Jagd ward auf uns begonnen. Mitten in der Nacht weckte mich ein leises Klopfen an den Fensterladen des Kämmerchens, wo ich schlief Die bekannte Stimme einer getreuen Frauensperson rief mir zu: »Joachim, auf! Aus den Federn! Die Soldaten sind wieder auf der Münde! Mach, daß du davon kommst!«

In der Bestürzung griff ich nach den ersten besten Kleidern, die auf den Stühlen lagen und die ich für die meinigen hielt. So stahl ich mich im Hemd alsobald auf die Straße hinaus. Dort schüttelte ich meinen Fund auseinander, um mir davon etwas über den Leib zu werfen, und bemerkte nun erst mit Schrecken, daß mir nichts als Frauenkleider in die Hände gefallen waren. Da mir nichts anderes übrig blieb, warf ich mir einen roten Friesrock über die Schultern und war im Begriff, mich mit dem Reste noch besser auszustaffieren, als ich in meinem Anputzen häßlich gestört wurde.

Es waren die Herren Soldaten. Sie bogen kaum zehn Schritte vor mir um eine Ecke. Ich suchte mein Heil in der Flucht. Aber eben dadurch verriet ich mich und hatte meine Widersacher auf den Fersen. Mein Lauf ging geradewegs nach einem im Hafen liegenden Schiff, an dessen Bord sie mir nicht so hurtig nachfolgen konnten. Zu meinem Glück lag auf der anderen Seite des Schiffes ein Boot befestigt. Ich sprang hinein; es war sogar ein Ruder darin. Ich löste das Tau, stieß ab und entkam meinen Verfolgern in eben dem Augenblick, als auch sie das Schiffsverdeck erreicht hatten.

Jenseits, in der Maikuhle, ging ich an Land. Ich überlegte nun etwas ruhiger, was weiter zu tun sei. Vor allen Dingen mußte ich etwas auf den Leib kriegen. Ich war ja so gut wie nackt, und es war eine bitterlich kalte Märznacht. Also wanderte ich getrost zu der nächstgelegenen Holzwärterei Grünhausen. Ich klopfte den Bewohner heraus, gab mich zu erkennen und bat um Aufnahme. Seine abschlägige Antwort befremdete mich nicht. Es war derzeiten streng verboten, Flüchtlinge meiner Art aufzunehmen. Man sollte sie vielmehr sofort anhalten und ausliefern. Ich beschränkte demnach meine Bitten auf irgendeine Kopfbedeckung und ein Paar Strümpfe. Der ehrliche Kerl reichte mir seine Schlafmütze und ein Paar hölzerne Pantoffeln. Dann riet er mir noch, mich eiligst zu entfernen. Es sei auch bei ihm nichts weniger als sicher, da er gleichfalls einen Sohn im Hause habe, dem, obwohl er krank und elend sei, von den Soldaten nachgetrachtet werde.

So aufs abenteuerlichste ausstaffiert, begab ich mich nach der Maikuhle zurück, um eine anderweitige Zuflucht aufzusuchen. Es stand dort, wie ich wußte, ein alter Schiffsrumpf hoch am Strande, der im Sommer als Bierausschank benutzt wurde. An diesem kletterte ich hinan, stieg oben durch das Rauchfangloch und duckte mich da vor der Kälte in einem Winkel zusammen. Mit dem ersten Dämmerungsstrahl lugte ich von meiner Hochwarte überall umher. Da nach der Münde hin alles ruhig schien, so wagte ich mich hervor. Ich suchte mein verlassenes Boot wieder auf und ruderte vorsichtig zu einem Schiffe heran, das nach Königsberg gehörte und von dem Schiffer Heinrich Geertz geführt wurde. Dieser gute Mann nahm mich willig auf und hielt mich länger als vierzehn Tage bei sich verborgen.

Dennoch konnte ich hier nicht ewig bleiben. Es war mir daher eine erwünschte Nachricht, daß ein Kolberger Schiffer, dessen Schiff dicht neben uns vor Anker lag, am nächsten Morgen mit Ballast nach Danzig auszugehen gedenke. Zu diesem Schiff führte mich mein Freund Geertz um Mitternacht.

Auf dem Schiffe war alles still. Niemand hatte mich wahrgenommen. Ich öffnete die vordere Kabelgattluke und rutschte hinunter. Dann machte ich die Luke hinter mir zu und versuchte durch die tausend Gegenstände, die sich mir hindernd in den Weg stellten, tiefer in den Raum hinabzukommen. Es glückte mir auch, aber zu gleicher Zeit hörte ich hinter dem Ballast etwas rascheln und flüstern, das mir unheimlich vorkam. Gleichwohl kroch ich weiter heran und unterschied bald menschliche Stimmen. Je länger ich darauf horchte, um so bekannter kamen sie mir vor. Kurz, es gab hier eine ganz unvermutete Erkennungsszene zwischen mir und elf anderen Seekameraden, welche gleiche Not und gleiche Hoffnung hier zusammengebracht hatte.

Für den Augenblick hielten wir uns zwar geborgen, aber wir hatten nun zu erwarten, daß das Schiff nach uns Flüchtlingen durchsucht wurde. Inzwischen brach der Tag an und an Bord wurde es lebendig. Wir hörten, wie man Anstalten machte, in See zu gehen. Ein wenig später spürten wir mit steigender Freude das Schiff in Bewegung. Dann merkten wir das Anschlagen der Brandung an die Seitenborde und hörten endlich auch den Abgang des Lotsen, der uns zum Hafen hinaus begleitet hatte. Da auch der Wind gut sein mußte, glaubten wir uns nach Verlauf von noch einer Stunde weit genug von Kolberg, um uns wieder ans Tageslicht wagen zu dürfen. Wir setzten also die Leiter an, schoben die große Luke auf und betraten wohlgemut das Verdeck.

Das Erstaunen des Schiffers über unsern unerwarteten Anblick kannte keine Grenzen. Er tobte wie besessen. »Könnt ich nur gegen den Wind ankommen«, rief er, ich brächt euch alle auf der Stelle nach Kolberg zurück und machte rein Schiff. Aber ich weiß wohl, wo ich euch abzuliefern habe.« Zugleich verbot er seinen Leuten aufs strengste, sich um uns zu kümmern und uns Essen oder Trinken zu reichen.

Zwar wurde es mit diesem Befehl nicht so genau genommen, unsere Freunde steckten uns immerfort etwas von ihren Portionen zu; allein, da wir volle acht Tage auf See blieben, so litten wir gleichwohl grausam Hunger und Durst. Wir waren daher von Herzen froh, als endlich die Anker im Danziger Fahrwasser fielen. Hier sagte der Schiffer in unserer Gegenwart (also wohl nicht ohne geheime Absicht) zu seiner Mannschaft: Er gehe jetzt an Land und nach Danzig zum Preußischen Residenten, um uns Deserteure zu melden und an ihn auszuliefern. Bis dahin sollten sie uns an Bord festhalten und mit Leib und Leben für uns einstehen. Vergeblich wandten sie ein: Die Partie stehe zu ungleich, da sie nur fünf Mann, wir aber zwölf wären. »Was kümmerts mich?« war seine Antwort. »Und wenn es auch Mord und Totschlag gibt, so laßt sie nicht laufen!«

Das hieß nun wohl deutlich genug: Immerhin, laßt sie laufen! Kaum hatte er auch nur den Rücken gewandt, so machten wir uns zum Abzug fertig. Zum Schein gab es zwischen uns und dem Schiffsvolk ein unbedeutendes und unblutiges Handgemenge. Darauf gingen wir unsres Wegs. Wir ließen uns sofort über die Weichsel setzen und schlugen längs dem Strand die Richtung nach Königsberg ein.


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