Joachim Nettelbeck
Des Seefahrers Nettelbeck Lebensgeschichte
Joachim Nettelbeck

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Die Zeit verging. Das unselige Jahr 1806 kam herbei. Mir als feurigem Patrioten, der sich der alten Zeiten von unsers Großen Friedrichs Taten erinnerte, blutete gleich vielen das Herz bei der Nachricht von dem entsetzlichen Tage von Jena und Auerstedt. Ich hätte kein Preuße sein müssen, wenn ich nicht jetzt Gut und Blut und die letzte Kraft meines Lebens für beides aufbieten mochte. Nicht mit Reden und Schreiben, mit der Tat mußte hier geholfen werden. Jeder auf seinem Posten, ohne sich erst lange feig und klug umzusehen! Alle für einen, einer für alle!

Magdeburg und Stettin, die beiden Herzen des Staates, waren gefallen. Die ungestüme französische Windsbraut zog immer näher und drohender gegen die Weichsel heran. Es ließ sich voraussehen, daß bald genug auch die Feste Kolberg an die Reihe kommen würde.

Kaum war Stettin erobert, so kam von dorther ein französischer Offizier als Parlamentär und forderte (am 8. November) die Festung zur Übergabe auf Dieses Ansinnen wurde zwar mit einer abschlägigen Antwort bedacht, doch der Franzose hätte nur einige hundert Soldaten haben müssen, um ungehindert zu unseren Toren einziehen zu können. Dies scheint unglaublich und ist doch buchstäbliche Wahrheit.

Kolberg war damals ein Städtchen von noch nicht sechstausend Seelen. Es liegt an dem rechten Ufer der Persante, einem kleinen Flusse, welcher nur kurz vor der Ostsee einige hundert Schritte hinauf schiffbar ist. Dort, eine halbe Viertelmeile von der Stadt, bildet er einen Hafen für leichtere Fahrzeuge. Die daran liegenden Wohnungen und Speicher heißen die »Münde«.

Der Platz gewinnt aber eine bedeutende Stärke durch einen breiten morastigen Wiesengrund, welcher sich ununterbrochen von Süden nach Nordosten dicht an der Stadt hinzieht. Er gestattet keine Annäherung durch Laufgräben und kann überdies durch Schleusen tief unter Wasser gesetzt werden. Den Eingang des Hafens deckte an der Ostseite ein starkes Werk, das »Münder-Fort«.

Noch erinnerte sich jedermann an die glückliche Verteidigung durch den tapferen Kommandanten Obrist von Heyden. Dreimal – 1758, 1760 und 1761 – war die Stadt durch die Russen und Schweden zu Land und Meer belagert worden. Und auch das dritte Mal war die Übergabe nicht durch Waffengewalt, sondern nur durch Hunger erzwungen worden. Diese Erfahrungen hatten den König Friedrich bewogen, die Stadt im Jahre 1770 durch verschiedene neue Werke verstärken zu lassen. Ich habe daher den festen Glauben, daß sich Kolberg gegen eine noch so große Feindesmacht zu halten vermag, wenn genügend Proviant vorhanden ist, die Überschwemmung gehörig ausgenutzt werden kann und wenn es von der Seeseite her gesichert ist.

Allein im Herbst 1806 sah es mit allem, was zu einer rechten Verteidigung gehörte, gar trübselig aus. Seit undenklicher Zeit war für die Unterhaltung der Festung so gut wie nichts getan worden. Wall und Graben waren verfallen, von Palisaden keine Spur. Nur drei Kanonen standen in der Bastion Pommern auf Lafetten und dienten allein zu Lärmschüssen, wenn Ausreißer von der Besatzung verfolgt werden sollten. Alles übrige Geschütz lag am Boden, hoch vom Grase überwachsen, und die dazu gehörigen Lafetten vermoderten in den Remisen. Die Zahl der Verteidiger war unzureichend. Die allgemeine Entmutigung wurde durch Flüchtlinge und tausend Unglücksbotschaften genährt. Es fehlte an allem, sodaß ein rascher, kecker Anlauf genügt hätte, jeden ernstlichen Widerstand zu brechen. Unser Kommandant war damals Obrist von Loucadou, ein alter, abgestumpfter Mann, der im bayrischen Erbfolge-Krieg zu dem Ruf gekommen war, ein besonders tüchtiger Offizier zu sein. Späterhin hatte er nur wenig Gelegenheit gehabt, seine Reputation zu behaupten; und er hing noch so blind an dem alten Herkommen, daß er sich in der neuen Zeit nicht zurechtfinden konnte. Ein großes Unglück für uns alle, die wir die Gefahr sahen und ihn aus seinem Seelenschlafe vergeblich zu wecken suchten.

Natürlich konnte uns solch ein Mann kein Vertrauen einflößen. Während alles, was Militär hieß, seinen trägen Schlummer mit ihm teilte, fühlte sich die Bürgerschaft von Unruhe und Besorgnis ergriffen. Man beratschlagte untereinander. Weil ich nun einer der ältesten Bürger war, den Siebenjährigen Krieg erlebt und während der früheren Belagerungen Adjutantendienste beim braven Heyden verrichtet hatte, wählte man mich zum Wortführer. Ich sollte mich als Repräsentant der Bürgerschaft mit dem Kommandanten über alle Maßregeln zur Verteidigung des Platzes genauer verständigen.

Nach dem alten Grundsatz, daß Ruhe die erste Bürgerpflicht sei und alles, was nicht Uniform trage, sich auch nicht um militärischen Angelegenheiten zu kümmern habe, konnte es freilich anmaßend erscheinen, daß wir Bürger bei der Verteidigung unserer Stadt mit dreinreden wollten, doch bei uns in Kolberg war das anders. Von ältester Zeit her waren wir die natürlichen und gesetzlich berufenen Verteidiger unserer Wälle und Mauern. Vormals mußte jeder seinen Bürgereid schwören, daß er die Festung verteidigen wolle mit Gut und Blut. Die Bürgerschaft war in fünf Kompanien eingeteilt, an ihrer Spitze stand der Bürger-Major. Wenn die Garnison in Friedenszeiten ausrückte, besetzte sie Tore und Posten. Und noch immer versammelte sie sich zuweilen in der Maikuhle – weniger freilich zu kriegerischen Übungen, als um sich in diesem lieblich gelegenen Wäldchen zu vergnügen.

Von diesen Verhältnissen hatte indes der Obrist von Loucadou entweder nie gehört, oder sie waren ihm als Nachäffung des Militärs lächerlich und zuwider. Das erfuhr ich, als ich mich vorstellte und ihm im Namen meiner Mitbürger eröffnete, daß wir entschlossen wären, mit dem Militär gleiche Last und Gefahr zu bestehen. Er möge uns demnächst unsere Posten anweisen, wir würden unsre Schuldigkeit tun.

»Macht dem Spiel ein Ende, ihr guten Leutchen!«, sagte er endlich. »Geht in Gottes Namen nach Hause. Was soll mir's helfen, daß ich euch sehe?« – So hatte ich meinen Bescheid und trollte mich.

Bald darauf ging ich wieder zum Obristen. Es sei vorauszusehen, sagte ich, daß es bei der Instandsetzung der Festung auf den Wällen viel zu tun gebe. Die Bürgerschaft würde dabei gerne Hand anlegen. »Die Bürgerschaft! Und immer wieder die Bürgerschaft!« antwortete er mit häßlichem Lachen, »ich will und brauche die Bürgerschaft nicht!«

Solche Äußerungen kehrten uns nicht nur gänzlich von dem Manne ab, sie erweckten vielmehr allerlei Argwohn, der durch ganz frische Beispiele genährt wurde. Wer schützte uns vor Verräterei? Vor heimlichen Unterhandlungen? Um auf der Hut zu sein, wählten wir unter uns einen Ausschuß, dessen Mitglieder sich bei Tag und Nacht an allen drei Stadttoren ablösten, um dort auf alles, was aus- und einging, ein wachsames Auge zu haben.

Inzwischen wurden nun doch von seiten der Kommandantur einige schläfrige Anstalten getroffen. Darum ging ich abermals zum Obristen und machte ihn aufmerksam, welche guten Dienste uns bei den früheren Belagerungen eine Schanze auf dem Hohenberge, etwa eine Viertelmeile vor der Stadt, geleistet hätte. Noch wären die Überbleibsel der Schanze erkennbar, wir seien bereit, sie eiligst wiederherzustellen.

Sonderbar kam mir die Antwort vor, die ich endlich erhielt: »Was außerhalb der Stadt geschieht, kümmert mich nicht. Die Festung selbst werde ich zu verteidigen wissen. Meinetwegen könnt ihr draußen schanzen, wie und wo ihr wollt.« Demnach taten wir nun, was uns nicht verboten war, und taten es mit Lust und Freude. So gelang es uns denn, ein Werk aufzuführen, das sich schon sehen lassen durfte.

Eine andere Sorge war die rechtzeitige und ausreichende Beschaffung von Lebensmitteln für den Fall einer Belagerung. Ich hatte als Bürger-Repräsentant das Amt, Haus bei Haus in der Stadt aufzusuchen und die Bestände an Korn und Viktualien aufzunehmen. Ebenso begab ich mich in die nächsten Dörfer. Ich gab vor, Korn und Schlachtvieh aufkaufen zu wollen, und erfuhr so, was jeden Orts von dieser Gattung vorhanden war. Alles dies schrieb ich auf und ging darauf mit meinen Verzeichnissen zu Loucadou, legte sie ihm vor und bat, schleunigst Anstalten zu treffen, daß diese Vorräte gegen Erteilung von Empfangsscheinen in die Festung geschafft würden. Auf diese gutgemeinte Vorstellung ward ich jedoch sehr hart angefahren: Zu dergleichen Gewaltmaßnahmen sei er nicht autorisiert. Jeder möge für sich selbst sorgen. Eiligst raffte er meine Papiere zusammen und versicherte: Er brauche all den Plunder nicht, und damit Gott befohlen!

In Kolberg – das sah ich wohl – war auf keine Hilfe mehr zu rechnen. Ich entschloß mich also, in Gottes Namen unseren unglücklichen König in Königsberg, Memel oder wo ich ihn finden würde, aufzusuchen und ihm Kolbergs Lage und Not zu schildern. In dieser Zeit gerade traf der Kriegsrat Wisseling in Kolberg ein. Ein Mann, der Kopf und Herz auf dem rechten Fleck hatte. Er sah mit eigenen Augen, wie es hier zuging, und fühlte sich darüber nicht wenig bekümmert. Meine Reise aber mißbilligte er: »Ich begebe mich zum König und werde mein möglichstes tun. Wirken Sie derweilen hier. So Gott will, wird es uns gelingen, den Platz zu retten.«

Täglich fanden sich bei uns noch Versprengte von unseren Truppen ein. Unter ihnen befand sich auch der Leutnant von Schill, der, am Kopf schwer verwundet, nicht weiter konnte. Sobald er wieder ein wenig zu Kräften gekommen war, besahen wir uns den Platz und seine Umgebung. Wir waren uns darüber einig, daß es bei einer erfolgreichen Verteidigung der Festung hauptsächlich auf den Besitz des Hafens ankam. Die sogenannte Maikuhle war die Schlüsselstellung des Hafens. Dieses Lustwäldchen, das sich hart vom Ausfluß der Persante längs den Uferdünen der Ostsee erstreckt, mußte um jeden Preis gehalten werden. Bis zu diesem Augenblick aber war zur Verschanzung dieses entscheidenden Punktes noch keine Schaufel in Bewegung gesetzt worden.

Woher aber Hände nehmen, um dort auch nur einige leichte Erdwerke zustande zu bringen? Auf Schills Zureden und die Versicherung, sich für meine künftige Entschädigung eifrigst zu verwenden, entschloß ich mich, meine paar Pfennige vorzustrecken, die ich im Kasten hatte.

Demzufolge holte ich in der Gelder-Vorstadt und in den umliegenden Dörfern soviel Tagelöhner und Häusler zusammen, wie ich bekommen konnte. Ich versprach und zahlte guten Lohn und verwandte auf diese Weise gegen vierhundert Taler aus meiner Tasche. Tag und Nacht schanzten und arbeiteten wenigstens sechzig Menschen eine geraume Zeit hindurch an diesen Befestigungen nach dem von Schill entworfenen Plan. Weder der Kommandant noch sonst jemand fragte und kümmerte sich, was wir da schafften. So blieb es auch meinem Freund überlassen, diese Schanzen mit seinen Leuten zu besetzen. Allein, um sie dort zu halten, mußte auch für Löhnung und Mundvorrat gesorgt werden. Vorerst fiel diese Sorge mir anheim, solange mein Beutel vorhielt und meine Küche und mein Branntweinlager es vermochten.


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