Joachim Nettelbeck
Des Seefahrers Nettelbeck Lebensgeschichte
Joachim Nettelbeck

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Endlich, als ich etwa elf Jahre alt sein mochte, sollte es zu meiner unsäglichen Freude Ernst mit meinem künftigen Berufe werden. Meines Vaters Bruder nahm mich auf sein Schiff »Susanna« als Kajütenwächter.

Meine erste Ausfahrt ging nach Amsterdam. Hier sah ich nun eine Menge großer Schiffe vor Anker liegen, die nach Ost- und Westindien gehen sollten. Täglich ward auf diesen Schiffen mit Trommeln, Pauken und Trompeten musiziert oder mit Kanonen geschossen. Das machte mir allmählich das Herz groß. Ich dachte: Wer doch auch auf so einem Schiffe fahren könnte! Und das ging mir um so mehr im Kopfe herum, als damals all unsere Schiffsleute den Glauben hatten: Wer nicht von Holland aus auf dergleichen Schiffen gefahren wäre, könne auch für keinen rechtschaffenen Seemann gelten. Gerade das aber machte ja mein ganzes Sinnen und Denken aus!

Wovon mir das Herz voll war, ging mir auch alle Augenblicke der Mund über. Ich gestand meinem Oheim, wie gern ich die Reise an Bord eines solchen ansehnlichen Ostindienfahrers mitmachen würde. Er gab mir immer die einzige darauf passende Antwort: Daß ich nicht ganz klug im Kopfe sein müßte. Endlich aber ward dieser Hang in mir zu mächtig, als daß ich ihm länger widerstehen konnte.

Eines Nachts, zwei Tage vor unserer Abreise, schlüpfte ich heimlich in unsere Jolle. Ganz wie ich ging und stand und ohne etwas von meinen Kleidungsstücken mit mir zu nehmen. Man sollte nämlich nicht glauben, daß ich desertiert, sondern daß ich ertrunken sei. So wollte ich verhindern, daß mir auf den anderen Schiffen nachgespürt würde. Unter diesen hatte ich mir eins aufs Korn genommen, von welchem ich wußte, daß es am nächsten Morgen nach Ostindien unter Segel gehen sollte. Es fuhr auch am nächsten Morgen ab. Aber nicht nach Ostindien. Es war zum Sklavenhandel an der Küste von Guinea bestimmt.

Still und vorsichtig kam ich mit meiner Jolle an der Seite dieses Schiffes an. Niemand bemerkte mich. Ich stieg auch ungesehen an Bord, nachdem ich mein kleines Fahrzeug mit dem Fuß zurückgestoßen und es treibend seinem Schicksal überlassen hatte. Bald aber versammelte sich die ganze Schiffsbesatzung verwundert um mich. Wie ich später erfuhr, waren es vierundachtzig Mann. Jeder wollte wissen, woher ich käme? Wer ich wäre? Und was ich wollte? Statt aller Antwort – was hätte ich auch sagen können? – fing ich erbärmlich zu weinen an.

Der Kapitän war in der Nacht nicht an Bord. Man brachte mich also zu den Steuerleuten, welche das Kreuzverhör mit mir erneuerten. Auch hier hatte ich nichts als Tränen und Schluchzen zur Antwort. »Aha, Bursche!« legte sich endlich einer aufs Raten. »Ich merke schon! Du bist von einem Schiff weggelaufen und denkst, wir sollen dich mitnehmen!« – Das war mir aus dem Herzen gesprochen. Ich stammelte also ein Ja, konnte mich aber nicht entschließen, noch mehr zu beichten. Mittlerweile hatte man etwas Mitleid mit mir bekommen. Man gab mir ein Glas Wein, ein Butterbrot und Käse. Später wies man mir eine Schlafstelle an und sagte mir, daß morgen früh der Kapitän an Bord kommen werde. Vielleicht nehme er mich mit. So lag ich nun die ganze Nacht schlaflos und überdachte, was ich sagen und verschweigen sollte.

Am anderen Morgen bei Tagesanbruch fand sich der Lotse ein. Der Anker ward aufgewunden, und man machte sich segelfertig. Ich half dabei, so gut ich konnte. Endlich kam auch der Kapitän. Ich ward ihm vorgeführt, und auch seine erste Frage war natürlich: Was ich auf seinem Schiffe wollte? Ich fühlte mich nun schon ein wenig sicherer und gab ihm über mein Wie und Woher ziemlich ehrlichen Bescheid. Etwas log ich allerdings dazu. Und diese Lüge hat mir nachmals oft bitter leid getan, denn mein Oheim war gegen mich die Güte selbst und so, als wäre ich sein eigen Kind. – Ich sagte, mein Oheim habe mich auf der Reise häufig ohne Grund geschlagen, und das sei auch gestern wieder geschehen. Darum wäre ich heimlich weggegangen. Ich bat flehentlich, der Kapitän möge mich annehmen. Ich würde mich gut aufführen.

Da ich nun einmal so weit gegangen war, durfte ich auch die richtige Antwort auf die weitere Frage nach meines Oheims Namen und Schiff nicht schuldig bleiben. »Gut!«, sagte der Kapitän. »Ich werde mit dem Manne darüber sprechen.« Das war nun gar nicht nach meinem Sinn. Ich fing von neuem an zu weinen und schrie, ich würde über Bord springen und mich ersäufen, und trieb es so arg, daß nach und nach das Mitleid bei meinem Richter zu überwiegen schien. Er ging mit seinen Steuerleuten in die Kajüte, um die Sache zu besprechen. Ich lag von Furcht und Hoffnung hin und her geworfen wie auf der Folter. Die Schande, vielleicht zu meinem Oheim zurückgebracht zu werden, schien mir unerträglich.

Endlich rief man mich in die Kajüte. »Ich habe mirs überlegt«, fing der Kapitän an, »du magst bleiben. Du sollst Steuermannsjunge sein und monatlich sechs Gulden Gage haben; auch will ich für deine Kleidungsstücke sorgen. Doch sobald wir mit dem Schiffe nach Texel kommen, schreibst du an deines Vaters Bruder und erklärst ihm den ganzen Zusammenhang. Den Brief will ich selbst lesen und auch für eine sichere Bestellung sorgen.«

Man kann sich denken, wie freudig ich einschlug und was für ein Stein mir vom Herzen fiel!

Jetzt gingen wir auch unter Segel. Als ich meines Oheims Schiff in der Ferne liegen sah, tat es mir doch sehr leid, es so töricht getrieben zu haben. Gleichzeitig aber war mir klar, daß ich nicht mehr zurück konnte. Ich nahm mich also zusammen, und als wir in Texel ankamen, schrieb ich meinen Abschiedsbrief. Der Kapitän billigte ihn, und unser Steuermann sollte ihn zum Postboot besorgen.

Wie ich später erfuhr, ist dieser Brief jedoch nicht an meinen Oheim gelangt. Entweder war er schon von Amsterdam abgefahren, oder der Brief ist unterwegs verloren gegangen. Mein Tod schien also gewiß; man glaubte, ich sei in der Nacht aus der Jolle gefallen, die man am nächsten Morgen zwischen anderen Schiffen treibend gefunden hatte.

Nachdem wir in Texel Wasser, Proviant und alles, was der Sklavenhandel erfordert, an Bord genommen hatten, gingen wir in See. Mein Kapitän hieß Gruben und das Schiff »Afrika«. Alle von der Besatzung waren mir gut und geneigt. Ich selbst war vergnügt und spürte weiter kein Heimweh. Wir hatten zwei Neger von der Küste von Guinea als Matrosen an Bord. Diese gab mir mein Steuermann zu Lehrern der dortigen Landessprache. Ich darf wohl sagen, daß sie in mir einen gelehrigen Schüler fanden. Meine Lust, verbunden mit der Leichtigkeit, womit man sich im jugendlichen Alter fremde Sprachtöne einprägt, brachten mich binnen kurzem zu der Fertigkeit, daß ich nachher an der Küste meinem Steuermann als Dolmetscher dienen konnte. Und das war es eben, was er gewollt hatte.

Unsere Fahrt verlief glücklich und ohne besondere Zwischenfälle. In der sechsten Woche erblickten wir St. Antonio, eine von den Inseln des Vorgebirges Kap Verde. Und drei Wochen später hatten wir unser Reiseziel erreicht. Wir gingen an der Pfefferküste bei Kap Mesurado vor Anker, um uns mit frischem Wasser und Brennholz zu versorgen. Dies war auch die erste Station, von wo aus unser Handel betrieben werden sollte.

Später fuhren wir weiter östlich nach Kap Palmas. Und hier erst begann der Verkehr lebendiger zu werden. Die Schaluppe wurde mit Handelswaren beladen und mit Lebensmitteln versehen, die für zwölf Mann Besatzung sechs Wochen reichen sollten. Dazu wurde das Schiffchen mit sechs kleinen Drehbassen, die ein Pfund Eisen schossen, ausgerüstet. Mein Steuermann befehligte das Boot; ich aber, sein kleiner Dolmetscher, blieb ihm immer zur Seite und war ihm beim Handel vielfach nützlich. Wir machten mit diesem Fahrzeug drei Reisen längs der Küste. Wir entfernten uns bis zu fünfzig Meilen vom Schiff und waren gewöhnlich drei Wochen abwesend. Nach und nach kauften wir hierbei vierundzwanzig Sklaven – Männer und Frauen -, eine Anzahl Elefantenzähne und etwas Goldstaub zusammen. Bei dem letzten Abstecher wurde auch der für Europa bestimmte Briefsack auf dem holländischen Hauptkastell St. George de la Mina von uns abgegeben.

Unser Schiff fanden wir bei unserer Heimkehr etwas ostwärts wider der Reede von Laque la How. Acht unserer Gefährten waren in der Zwischenzeit infolge des ungesunden Klimas gestorben. Der Kapitän hatte anderthalb Hundert Schwarze beiderlei Geschlechts gekauft und einen guten Handel mit Elfenbein und Goldstaub gemacht. Für alle diese Artikel gilt Kap Lagos als Hauptstation. Landeinwärts ist nämlich ein viele Meilen langer und breiter See, auf welchem die Sklaven von den Menschenhändlern (Kaffizieren) aus dem Innern in Kanus herbeigeschafft werden.

Gerade in dieser Gegend war auch Kapitän Gruben bei den hier ansässigen reichen Sklavenhändlern seit Jahr und Tag wohl bekannt und gern gelitten. Dennoch war es ihm schon auf seiner vorigen Reise nicht gelungen, sich an diesem wohlgelegenen Platz unvermerkt fester einzunisten. Er hatte mit den reichen Negern verabredet, ein hölzernes, nach europäischer Art gebautes Haus zerlegt mitzubringen und dort aufzurichten. Darin sollten zehn bis zwanzig Weiße wohnen können, und durch dort aufgestellte Kanonen sollte es geschützt werden. Als es aber fertig aufgebaut worden war, kam dies den guten Leutchen doch ein wenig bedenklich vor. Sie bezahlten dem Kapitän lieber das Häuschen, das einer kleinen Festung glich, mit reichlich Goldstaub. Als ich dort war, wurde es schon von einem reichen Kaffizier bewohnt.

Nachdem wir von hier noch eine Bootsreise mit ebenso gutem Erfolg gemacht hatten, gingen wir nach vier bis fünf Wochen mit dem Schiffe weiter nach Axim, dem ersten holländischen Kastell an dieser Küste. Hier hatte der Schaluppenhandel ein Ende. Wir steuerten an Cabo tres Puntas vorbei nach Accada, Boutrou, Saconda, Chama, St. Georg de la Mina und nach Moure. Überall wurden Einkäufe gemacht. Endlich hatten wir unsere volle Ladung beisammen; das waren vierhundertzwanzig Neger jeden Geschlechts und Alters.

Nunmehr ging die Reise von der afrikanischen Küste nach Surinam, quer über den Atlantischen Ozean, wo unsere Schwarzen verkauft werden sollten. Nach neun bis zehn Wochen, in denen wir weder Land noch Strand sahen, erreichten wir glücklich unseren Bestimmungsort und tauschten unsere unselige Fracht gegen eine Ladung Kaffee und Zucker. Sodann traten wir die Rückreise nach Holland an. Wir brauchten wiederum acht bis neun Wochen, bis wir endlich wohlbehalten im Hafen von Amsterdam die Anker fallen ließen. Es war im Juni 1751. Die ganze Reise hatte einundzwanzig Monate gedauert. Elf Leute unserer Mannschaft waren während dieser Zeit gestorben.

In Amsterdam war es mein erstes, nach Kolberg an meine Eltern zu schreiben und ihnen Bericht von meiner abenteuerlichen Reise zu erstatten. Man kann sich ihr freudiges Erstaunen beim Empfang dieser Nachricht denken. Ich war tot und war wiedergefunden! Ihre Empfindungen drückten sich in den Briefen aus, die ich unverzüglich von dort erhielt. Segen und Fluch wurden mir versprochen. Ich Unglückskind wäre ja noch nicht einmal eingesegnet! Augenblicklich sollte ich mich aufmachen und nach Hause kommen.

Zufällig traf ich in Amsterdam einen Landsmann, den Schiffer Christian Damitz. Auf seinem Schiffe fuhr ich nach Kolberg zurück. Von meinem Empfange daheim aber will ich besser schweigen.

Ich blieb nun in meiner Vaterstadt und nahm auch am Schulunterricht teil, bis ich das vierzehnte Lebensjahr erreicht hatte und konfirmiert wurde. Dann aber war mit mir kein Halten; ich wollte und mußte wieder auf die See. So übergab mich mein Vater Ostern 1752 dem Schiffer Michel Damitz, der soeben von Kolberg nach Memel und von da nach Liverpool abgehen wollte und in den mein Vater ein besonderes Vertrauen setzte. Beide Fahrten verliefen glücklich. Wir gingen weiter nach Dünkirchen, wo wir eine Ladung Tabak einnahmen; dann über Norwegen nach Danzig. So kam ich kurz nach Neujahr zu Lande nach Kolberg zurück. Ich war um neunzehn Taler Löhnung reicher und glaubte Wunder, was ich in diesen neun Monaten verdient hätte. Jetzt bringen es unsere Matrosen wohl auf fünfzehn und mehr Taler monatlich. So ändern sich die Zeiten.


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