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Fünfzehntes Kapitel.

In Mechthildis' Garten auf dem Mechterhof waren die letzten Sternblumen und Reseden verblüht. Die patrizischen Herrschaften hatten die Freuden des Herbstes auf ihren Landgütern zu Ende genossen und waren zurückgekehrt, um sich in ihren festen Stadthäusern mit den dicken Mauern und den großen Kachelöfen vor dem Regen zu bergen, der unaufhörlich niederfloß. Am Ausgang des Septembers, während droben im Rheingau, noch im heitersten goldduftigen Nachsommer, die Winzer ihre Trauben schnitten, hatte es hier in der Ebene schon angefangen zu regnen, im Oktober war man den Regen satt geworden, und jetzt, nach Allerseelen, rann er noch immerfort. Aber die Reichsstadt konnte er doch nicht sauber bekommen, wenn die Schieferdächer auch von Feuchte schimmerten wie Seehundshaut und die Löwenmäuler an den Giebeln der Patrizierhäuser ganze Wasserfälle ausspieen. Als Meister Baltzer etliche Tage nach Allerseelen einzog, um seiner Gewohnheit nach in der Reichsstadt Winterquartier zu nehmen, geriet er trotz aller Erfahrung und Umsicht gleich am Thor in einen knietiefen Naturweiher, den der Regen dort zwischen den dürftig verteilten Pflastersteinen gebildet hatte. Der wachhabende Stadtsoldat, der ihm wieder heraushalf, trug über der Uniform einen umgestülpten Sack als Regenmantel. »Ich sehe schon,« sagte der Meister Baltzer, »in eurer Stadt ist noch alles wie zuvor.«

Die Eingeborenen meinten das auch und verlangten durchaus nicht nach Neuerungen. Zwar die Angelegenheit der verschwundenen Hexe, der Brigitt vom Martinsturm, hatte noch einigen Lärm nach sich gezogen. Gegen den gelehrten Pater Kleutermann war ein gleichfalls sehr gelehrter Franziskaner aus Koblenz aufgetreten, der unter anderem die aufregende Behauptung verfocht, der weiland Feuerwächter Hans Maybrunner sei statt in die Hölle ins Kurtrierische gefahren und treibe sich dort mit seiner in einen Raben verwandelten Muhme als Hexenmeister herum. Da aber der Rat von diesen Dingen auch einiges wußte und seine Gründe hatte, sie nicht noch breiter schlagen zu lassen, so mußten die geistlichen Herren ihren Streit auf höhere Anweisung hin einstellen, und das öffentliche Gespräch wandte sich anderen, erfreulicheren Stadtneuigkeiten zu, wie z. B. der Hochzeit des schönen Fräuleins Johanna Reynolds mit dem reichen Ratsherrnsohn Jobst Kannemann, die im September auf dem Brautlaufhaus unter unendlichem Pomp gefeiert worden war. Noch wochenlang sprach man in den Werkstätten und Wirtsstuben von dem wunderbaren neuen Tanzspiel, das die vornehmen Herrschaften dabei aufgeführt hatten: eine Schachpartie, bei der die weißen Offiziere von den schönsten jungen Damen, die schwarzen von ihren Kavalieren dargestellt wurden, während halbwüchsige Söhne und Töchter der vornehmsten Häuser in der Rolle der Bauern ihr erstes Auftreten im Ballsaale feiern durften; als Königspaar aber wirkten auf der weißen Seite Bräutigam und Brautführerin, auf der schwarzen Brautführer und Braut. Ein entfernter Verwandter Mechthildis', der Domherr von Hernoth, hatte als eifriger Schachspieler diese reizvolle lebendige Partie erfunden und leitete sie. Auch der Junker Lambertus von Halveren hopste dabei als schwarzer Springer herum, aber der Domherr, dem seine Erscheinung mißfiel, wußte es einzurichten, daß er alsbald von einem niedlichen weißen Bäuerlein genommen wurde. Nur von fern durfte er zusehen, wie Mechthildis als Brautführerin und weiße Königin zuletzt die Braut mit einer zärtlichen Umarmung »nahm«, den Brautführer mit höflicher Verneigung »matt setzte« und ihre schöne Beute dem siegreichen weißen König auslieferte. Einen Trost fand Junker Lambertus dabei: die Brautjungfer war noch schöner als die Braut. Der dumme Kerl, Jobst Kannemann, hatte also doch die Schönste für ihn übriggelassen.

Schärfer blickende Beobachter hätten ihm sagen können, daß in dem Wesen seiner schönen Base Mechthildis neuerdings ein neuer Zug stiller Ruhe hervortrat, der sich sehr von ihrer früheren, fast spöttischen Kälte im Umgang mit Standesgenossen unterschied, und die Kranken und Armen in den Bauernhütten des Mechterhofes wußten, wie warm und tröstlich diese großen braunen Augen, die vordem so gleichgültig blickten, jetzt auf fremdem Elend ruhten. Aber dergleichen gehört nicht zu den Veränderungen, die ein junger Stutzer in den Zügen seiner Nachbarin zu lesen weiß.

Auch über Mechthildis' Oheim war seit Anfang des Sommers ein ganz neues Wesen gekommen, das seinen Kollegen viel zu denken gab. Vom Ratsschreiber hatte er sich eine Unmenge alter Akten zur Durchsicht ausliefern lassen, darunter auch alle, die sich auf die bisher in der Stadt verhandelten Hexenprozesse bezogen. Nur um diese war es ihm zu thun; aber der Vorsicht wegen ließ er sich auch die übrigen vorlegen und kam dadurch plötzlich in den Ruf eines beispiellos fleißigen und gewissenhaften Bürgermeisters, zumal er nach Aussage seiner Diener auch zu Hause noch tief bis in die Nacht hinein über allerlei gelehrten Büchern wachte. Auch hatte man bemerkt, daß er verschiedenemal mit dem Domherrn von Hernoth unter vier Augen konferierte, als ob er vorhabe, auf seine alten Tage zu spekulieren; denn der Domherr von Hernoth war durch eine merkwürdige Neigung bekannt, die ihn fast noch mehr beschäftigte als das Schachspiel, – er war unermüdlich darauf aus, für andere unter der Hand Kauf- und Tauschgeschäfte zu vermitteln, ohne Vergütung und aus reiner Liebhaberei, wie er auch die weltlichen Geschäfte des Stiftes Marienforst und anderer Klöster unentgeltlich verwaltete. Nebenbei erwies sich Herr Winand jetzt als großer Verehrer der volkstümlichen Orden, er machte Geschenke in seinem und seiner Nichte Namen an Jesuiten, Kapuziner, Franziskaner, so daß einige Spötter meinten, er stelle sich an, als ob er vermittelst geistlicher Beihilfe in den Rat gewählt werden wolle, wo er doch schon Bürgermeister sei. Man wurde nicht klug aus seinem Treiben; das aber war unverkennbar, daß das eifrige Studium – und vielleicht auch der starke Wein, mit dem er sich dabei labte, ihm nicht zuträglich war. Seine Gesichtsfarbe ward immer unheimlicher, seine Zunge schwer und seine Hände zitterten.

Herr Sebaldus von Halveren verfolgte die Aenderung im Wesen seines Kollegen sehr aufmerksam und fand, daß sie vortrefflich in seine eigenen Zukunftspläne paßte. Es konnte nichts schaden, wenn Herr Winand zeitig das Irdische segnete und die Vormundschaft über Mechthildis, wie anzunehmen, an ihren zukünftigen Schwiegervater übertrug. Denn daß er das werde, davon war Herr Sebaldus von der hohen Meinung, die er von den Vorzügen seines Lambertus hegte, nach wie vor überzeugt; und Herr Winand hatte seinen vorsichtigen Andeutungen über diesen Punkt nicht widersprochen. Daß es unsittlich sei, in solcher Weise auf den Tod eines Verwandten und Gefreundten zu hoffen, fiel Herrn Sebaldus gar nicht ein. Seine Moral bezog er vom Rechenbrett. Mit dieser Moral hatte er sich den Ruf eines umsichtigen und rechtlichen Kaufherrn und sogar eines vortrefflichen Politikers erworben und hoffte mit ihr auch das Glück seines Sohnes zu begründen.

Am Tage nach seiner Rückkehr stand Meister Baltzer neben Mechthildis vor ihrer kleinen Staffelei, um ihrem jüngsten malerischen Versuch mit einigen Winken nachzuhelfen. Sie nahm seine Belehrung freundlich an und arbeitete eine Weile emsig fort. Dann ließ sie den Pinsel sinken und fragte, ohne sich umzuwenden: »Ihr wart vorhin bei dem Oheim unten. Wie findet Ihr ihn, Meister Baltzer?«

»Etwas müde,« antwortete er ausweichend.

Mechthildis nickte traurig. »Er studiert gar zu viel. Und dazu immer diese schrecklichen Dinge, – diese Hexenprozesse. Ich weiß gar nicht, was er daran findet.... Nun erzählt mir weiter von Euch,« fuhr sie nach einer Pause heiterer fort. »Von Euren Bildern in Diez habt Ihr mir schon berichtet. Wie lebt Ihr denn da? Was macht Eure Haushälterin, die Brigitt? Bäckt sie noch immer so gut?«

Meister Baltzer starrte die Fragerin sprachlos an.

Sie hatte sich bei ihren letzten Worten ganz zu ihm umgewandt, und als sie ihm jetzt in das verblüffte Gesicht sah, flog etwas von dem alten Mutwillen über ihre Züge.

»Es ist zu dumm mit dem Versteckspielen,« rief sie leise lachend. »Besonders wenn die alten würdigen Herren es treiben wollen. Meister Baltzer, Ihr seid sonst so ein ehrlicher, lieber, alter Freund, warum wollt Ihr mir denn just das Beste nicht eingestehen, wodurch Ihr diese Stadt vor einer Blutschuld bewahrt habt, die ein thörichtes Mädchen durch seine Spielerei beinah über sich und sie gebracht hatte? – Nein, seht Euch nur nicht so erschrocken um. Wir sind allein, und diese Wände haben keine Ohren. Uebrigens, – mein Oheim weiß doch schon darum, nicht wahr? Und am Ende war das die ganze wichtige Sache, über die er heut allein mit Euch reden wollte.«

»So? wollte er das?« versetzte Meister Baltzer, noch immer sehr bestürzt. »Ihr könnt einen wirklich aus der Fassung bringen mit Euren überklugen Einfällen. Aber thut mir den Gefallen und laßt sie fahren, diese Einfälle; sprecht sie um Gottes willen gegen niemand aus. Was meine Haushälterin angeht, die so gute Kuchen buk, die ist vor sechs Wochen selig entschlafen und auf dem Kirchhof zu Diez begraben worden, just auf den Michaelstag. Gott hab sie selig. Es ist unrecht von Euch und unratsam, wenn Ihr sie in Euren Gedanken mit einer anderen zusammenbringt, die nach allgemeinem Befund der Teufel vor etlichen sieben Monaten hier aus der Stadtfronerei geholt hat. – Aber weil wir doch einmal von der vertrackten Geschichte reden und die Wände hier, wie Ihr meint, keine Ohren haben – Gott geb, daß sie jedes Geheimnis bewahren, das sie von früher her wissen! – sagt mir doch, was meintet Ihr eben mit der Spielerei eines jungen thörichten Fräuleins? Wie war das eigentlich mit der Taube?«

Mechthildis errötete. »Einverstanden,« sagte sie. »Ich will's Euch erzählen. Aber nur, wenn Ihr mir zuvor sagt, was Ihr über den jungen Feuerwächter wißt. Macht nur nicht wieder so große Augen. Das weiß ja die ganze Stadt, wie er damals durchs Thor entwichen ist. Wir haben sechs Bürgermeister und zweiundfünfzig Ratsherren, meint Ihr, was die in geheimer Sitzung beraten, das hielten sie ihren Frauen und Nichten daheim verborgen?«

»Schrecklich,« seufzte Meister Baltzer. »Also das nennt man Amtsgeheimnis. Nun, was mich angeht, ich weiß nichts von jenem Hans Maybrunner. Aber einen, der Zug um Zug so aussah wie er, nur brauner im Gesicht und mit einem ganz ansehnlichen Schnurrbart, den hab' ich vor zwei Monaten etwa zu Bacharach vor der Burg Wache stehen sehen, in kurpfälzischer Montur. Der heißt aber Jan Friso. Ein alter reicher Holländer, ein Freund von mir, hat ihn adoptiert und will nun durchaus einen General aus ihm machen. Von dem hat er auch seinen Namen. Früher hieß er anders, er ist übrigens ein Neffe von meiner seligen Haushälterin, die ihr mit der Brigitt verwechselt.«

»Gott sei Dank!« seufzte Mechthildis und streckte dem alten Freunde die Hand hin. »Meister Baltzer, Ihr versteht es, die Thorheiten anderer Leute wieder gut zu machen, und wenn alle so wären, wie Ihr –«

»Es wäre eine nette Menschheit, nicht wahr?« fiel der alte Maler ein. »Danke für das Kompliment. Der liebe Gott wird doch seine Gründe haben, daß er nicht lauter Kerle wie mich herumlaufen läßt. Aber nun seid Ihr an der Reihe.«

»Was soll ich Euch da viel erzählen?« begann Mechthildis nach einer Weile zögernd. »Kann ich mir's doch selber kaum klar machen, wie ich damals auf den närrischen Einfall kam. Und wie sollt' ich's vollends Euch erklären? Ihr, so klug und besonnen, so hell im Dunkeln, wie die Lichter aus Euren Bildern, – könnt Ihr Euch denken, wenn man so am schönsten Tage allein ist in der Natur und ein Knospen ringsum, ein erstes Klingen und Frühsonnenschein und eitel Freude, und man fühlt sich mit einemmal so unsäglich allein, so arm und verworren und dunkel in der Seele, daß man die Hände ausrecken möchte und rufen: Ach, jetzt nur eine Hand, die mich wegführt, – eines Engels oder Menschen Hand, die mich aus der Einsamkeit leitete – Ihr könnt's Euch nicht denken!«

»Glaubt immerhin, daß ich es kann,« versetzte der alte Maler nach einer Weile. Er hatte die Augen von der Sprecherin abgewandt und blätterte in einem kleinen Buche, das vor ihm lag. Seine Stimme klang wunderlich weich.

»Ja,« fuhr Mechthildis in ihrer Beichte fort, »und so war's. Ein Frühlingstag, draußen auf dem Mechterhof, in meinem Garten. Ich hatte zeichnen wollen, aber es ging nicht. Ringsum so ein wundersamer goldiger Schein, der feinste Nebelduft, wie ein Hauch; und alle die ersten Stimmen der lieben Vögel, und die Luft lau, – und alles, was ich wieder einen langen, nutzlosen Winter lang mitgetrieben und mitgenossen, war mir auf einmal so wüst und leer in der Erinnerung. Und es war mir, als ob der goldige zitternde Nebel über mir nur auf ein Zeichen von mir wartete, um zu zerreißen und mir etwas Besseres zu zeigen, – etwas Gutes zu thun, wißt Ihr, zu thun! Und da –« sie errötete und ihre Stimme wurde noch leiser, »da traten mir just meine Tauben in die Augen, und der Vers fuhr mir durch den Sinn aus einem Mädchenspiel, das wir im Stift oft getrieben:

Flieg aus, flieg aus, du Taube mein,
Du sollst mein lieber Bote sein, –

und ehe ich selber recht dachte, was ich that, hatt' ich das darauf folgende Verschen zweimal aufgeschrieben, in die Federspulen von ein paar kleinen Pinseln gesteckt und den Tauben angeheftet. Husch, flog das Paar auf, als ob es nur darauf gewartet hätte, und ehe ich anfing, meinen albernen Streich zu bereuen, waren sie in dem Goldnebel verschwunden. Ich hab' sie nie wiedergesehen. – Hernach, den ersten Tag über war ich schrecklich unruhig, ich schämte mich vor jedem, der mich nur ansah. Dann kamen wieder andere Dinge darüber, und ich hatt's beinah vergessen. Bis an jenem Tag, wißt Ihr, wo Ihr und der Oheim mir zuerst von dem Hans – von dem Feuerwächter oben auf dem Martinsturm erzähltet, als wir die Tauben kreisen sahen und Ihr mich nach den meinen fragtet, – da fiel's mir wieder auf die Seele. Ach, aber dann den folgenden Tag, als mir der Oheim erzählte, wie's mit der alten Brigitte gekommen war und was sie den Herren berichtet hatte, – als ich merkte, was der Zufall aus meinem dummen Streich gemacht, wie wurde mir da zu Mute! Ich sündiges Menschenkind, ich hatte den Himmel zu einem Zeichen herausgefordert, und der Teufel gab Antwort!«

»Laßt nur den Teufel aus dem Spiel,« versetzte Meister Baltzer. »Einstweilen regiert unser Herrgott noch die Welt, und mich dünkt, er hat uns auch in dieser wunderbaren Geschichte gezeigt, daß er's noch immer versteht.«

Mechthildis nickte und fuhr sich mit ihrem Tuch über die Augen. »Auch ich hab' es hernach so erkannt,« sagte sie, »Und – ich weiß nicht, es klingt ja wohl recht dumm, wenn ich's sage – es ist etwas in mir anders geworden seitdem. Als Ihr – nun, hebt nur nicht den Finger –, sagen wir, als die alte Brigitt glücklich entkommen war – ich wußte ja so gut wie sicher, daß Ihr es gethan! – und als ich dann von meinem Oheim erfahren, was die beiden Landstreicher über die Flucht des jungen Gesellen berichtet hatten, – da war mir's so leicht um's Herz; aber wißt Ihr, auch so eine Lust: jetzt nicht bloß beten, jetzt auch etwas thun! Ich sah unsere Leute draußen auf dem Mechterhof, wie sie arbeiteten und sich's sauer werden ließen, und dabei immer rüstig und fröhlich zur rechten Zeit; und sie haben es doch so schwer! Darauf hatte ich früher nie geachtet. Nun war's doch, als ob mir auf einmal die Augen aufgingen. Und wie ich dann merkte, wie sie einen dankbar ansehen für jedes freundliche Wort, und gar die Kranken, und erst die Kinder! – da kam mir's wohl zuweilen: das ist der Segen, der dich hinter dem Nebel erwartete, und nicht erst an jenem Frühlingsmorgen. Und wunderlich! viel leichter wurde es mir nun auch, die Dummheiten zu ertragen, die mich vordem von unseren jungen und alten Kavalieren so viel geärgert hatten. Und überhaupt all das kleine Zeug, das einen so in der Welt ärgert, – ich fand, es ließ sich leichter tragen, wenn man erst selber versucht, sich ein klein wenig nützlich zu machen. Nun lernt' ich ein Büchlein lesen und verstehen – Ihr habt es just in der Hand –, die Muhme Aebtissin hatte es mir vordem geschenkt, ohne daß ich es sonderlich achtete. Es ist des seligen Thomas a Kempis lateinisches Buch von der ›Nachfolge Christi‹. Ich las darin und ich fand, daß es doch noch etwas mehr sagt als die alten heidnischen Poeten, die ich vordem eine Zeitlang so gern gelesen.«

»Sie sind auch nicht zu verachten,« erwiderte Meister Baltzer. »Ich sagt' Euch ja, unser Herrgott hat die Menschen verschieden gemacht, und die Bücher auch; man kann sein Teil von jedem lernen.«

»Es ist doch ein Unterschied,« versetzte Mechthildis. »Und seht, was mir dies Büchlein so wert macht: es ist immer ein Sporn darin. Es weist einem die Seelenruhe, aber nur von fern. – Nun, habt nur keine Angst: eine Beguine werde ich darum nicht. Der liebe Gott weiß auch hier draußen in der Welt immer ein Plätzchen, wo man ihm mit guter That dienen kann. O, Meister Baltzer, eine rechte, gute Liebesthat! Das ist das Beste, wonach mein Herz verlangt. Und dazu habt Ihr es mit erzogen.«

In diesem Augenblicke trat Herr Winand ein. Er bemühte sich, recht scherzhaft zu reden; um so deutlicher trat der müde, schlaffe Zug in seinem Antlitz hervor.

Als Meister Baltzer am folgenden Morgen in seiner hochgelegenen Klause saß, stürzte sein getreuer Page Hendricus mit einer Neuigkeit herein, die er eben auf dem Kirchgang erfahren: der Bürgermeister Herr Winand war gestern abend, mitten in der Beratung, vom Schlage getroffen worden.

»Das arme schöne Fräulein!« schluchzte Hendricus, und Meister Baltzer sprach es ihm in tiefster Seele nach, während er nach dem Mechterhause eilte.

Vor dem Portal drängte sich eine bunte Menge, neugierig und teilnehmend. Eben als Meister Baltzer anlangte, trat der Bürgermeister Sebaldus von Halveren in Begleitung seines Sohnes heraus. Herr Sebaldus sah finster drein, das gutmütige Gesicht des Junkers aber strahlte ordentlich: »Es ist gottlob nicht so schlimm,« rief er mit seiner Fistelstimme über die fragende Menge hin. »Seine Gestrengen leben und werden, so Gott will, weiter leben!«

In diesem Augenblicke verzieh ihm Maler Baltzer seine sämtlichen Dummheiten.

Oben im Vorsaale ging es ab und zu von vornehmen Teilnehmenden. Meister Baltzer wurde anscheinend schon erwartet; ein Diener geleitete ihn sogleich zu Mechthildis, die er in Gesellschaft des Domherrn traf. Sie sah sehr blaß aus, aber es lag eine Gefaßtheit in ihren Zügen, die beinah freudig zu nennen war, und während sie die Worte des Junkers mit ausführlicherem Bericht bestätigte, wurde es dem alten Meister immer klarer, was dieser Ausdruck bedeute: sie hatte nun am Krankenbett ihres Oheims die Stätte eines sie voll beanspruchenden Liebeswerkes gefunden.

Herr Winand war bei Bewußtsein und Sprache, die Aerzte hofften ihn zu erhalten; aber der Körper werde wohl gelähmt bleiben.

»Er hat eine Bitte an Euch, Meister Baltzer,« sagte der Domherr.

»Ja, eine große Bitte,« fiel Mechthildis ein. »Ob Ihr nicht, solange Ihr in der Stadt bleibt, sein Gast sein wollt? Er hätte Euch gern in der Nähe. Nicht wahr, Ihr thut es?«

»Thut's, Meister Baltzer,« sagte der Domherr. »Eure Gesellschaft wird ihm heilsamer sein, als die Besuche gewisser Kollegen.«

»Natürlich thu' ich's,« erwiderte Meister Baltzer. Mechthildis drückte ihm dankbar die Hand, dann eilte sie zu ihrem Kranken.

»Ich glaube, ich weiß, auf wen Ihr anspielt, hochwürdigster Herr,« bemerkte Meister Baltzer leise. »An einen Krankensessel paßt der mit seinem Inquisitorgesicht freilich nicht. Uebrigens so verdrießlich wie vorhin, als er hier aus dem Hause kam, habe ich ihn noch nie gesehen.«

Ueber das kluge glatte Priestergesicht des Domherrn flog ein zufriedenes Lächeln. »Das wird wohl seine Gründe haben,« meinte er. »Ich vermute, er hat sich unserem Kranken freundlichst als Stellvertreter für die Vormundschaft über mein Fräulein Nichte antragen wollen. Und da wird es ihn überrascht haben zu hören, daß der Posten schon im voraus besetzt ist, – nämlich mit mir.«

»Hm,« machte der Meister Baltzer, »das Schachspielen bildet seine Leute doch.«



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