Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Erstes Buch.


Erstes Kapitel.

Anno 1616, den 24. April, schied Cervantes aus dieser Zeitlichkeit, und zehn Tage später folgte ihm Shakespeare nach; zwei Gewaltige des Geistes, die zu gleicher Zeit Unsterbliches schufen und zuletzt der Sterblichkeit ihren Zoll zahlten, ohne jemals voneinander gewußt zu haben. Es ist anzunehmen, daß sie diese wertvollste Bekanntschaft, die ihnen auf Erden entgangen war, in einem höheren Dasein, erhaben über trennende Länder, Meere und Menschen, sogleich nachholten; und muß das eine Freude gewesen sein für alle Seligen, die dabei sein durften, als diese beiden sich zusammenfanden! Wenn sie dann im Vollgenusse ihrer jungen Freundschaft ab und zu auf die zurückgelassene Erde musternd herabschauten, so erschien ihnen natürlich manches ganz anders als den noch nicht verklärten Zeitgenossen. »Es ist merkwürdig,« sagte der erlöste Dichter des »Don Quixote«, der ja an den höheren Standpunkt schon einige Tage gewöhnt und auch bereits auf Erden weiter gereist war, »ich sage Euch, Sennor, es ist merkwürdig, wie weit der Blick an solch heiterem Maimorgen trägt, wenn er nicht mehr durch Sorgen und Sünden gleichsam wie mit einer dunklen Brille getrübt ist. Seit ich mir die holländischen Provinzen von hier aus anschaue, kommt es mir ganz natürlich vor, daß sie von unserer hispanischen Majestät nichts mehr wissen wollen. Und nun seht mir einmal dort unten in Germanien, ohnfern der niederländischen Grenze, diese hochberühmte rheinische Reichsstadt an! Es ist ein altes verräuchertes Nest, wenn man dran rührt, wird's noch schlimmer, und man kann nur sagen, Gott bessre, was daran ist. Aber ein Mann ist darin, ein Maler, dort hantiert er just vor seinem Fenster herum, der gefällt mir, auch die Bilder sind von einer guten Art, und wenn ich noch auf Erden und in selbiger Stadt weilte, so gäbe ich wohl den einen der zwei Röcke, die ich besaß, für ein vernünftiges Gespräch mit diesem Manne.«

Und der andere nickte und erwiderte: »Ihr habt recht, Sir Michael, dieser Deutsche gefällt mir. Er hat sich auf die Künste verlegt, wie ich sehe, und davon versteht Ihr ja als ein geborener Hispanier mehr als ich; aber auch abgesehen von seinen Bildern scheint er mir ein Mann von höchster Redlichkeit, und ich hätte ihn wohl gebrauchen können.«

Der Mann, der den Himmelsgästen so wohl gefiel, hatte in seiner äußeren Erscheinung wenig Anziehendes für irdische Augen. Es war eine kleine, kräftige Gestalt mit langen, flinken Beinen und breiten Schultern, von denen die rechte leider um ein erhebliches zu hoch geraten war. Der kleine Mann hätte diesen Schönheitsfehler unschwer unter dem Deckmantel der Mode bergen können; denn die spanische Tracht, die derzeit unter den vornehmen Leuten der Stadt immer noch im Schwunge war, schien ja mit ihren Schulterwülsten und spannenhohen Kragen eigens dazu erfunden, einen solchen Fehler wieder gut zu machen, indem sie ihn kunstvoll auf beide Seiten ausdehnte. Da der Kleine Maler war, so konnte ihm dieser Vorteil um so weniger entgehen; aber er blieb trotzdem seinem offenen Wams getreu, das von einem so kunstlos natürlichen Schnitt war, wie ihn in dieser Gegend nur Bauern oder Soldaten trugen, und er hatte auch einen Grund dafür vorzubringen. »Ich habe eine Stulpnase wie kein zweiter,« sagte er, »und eine hohe Schulter. Das weiß ich, und die Leute wissen es auch. Was sie an mir auszusetzen haben, das verteilen sie hübsch auf die beiden, der eine legt mir seine Witze auf den Buckel und der andere hängt sie mir über die Nase. Wollte ich aber das Ding auf der Rückseite ausgleichen, so bliebe den fröhlichen Gesellen nur meine Nase, um daran ihren Witz zu üben, und das kann ich ihr auf ihre alten Tage nicht zumuten, maßen sie mir jetzt an die sechzig Jahre treu gedient und nicht gesündigt hat. Gelt, mein Näschen?« Und dabei schielte er liebevoll an dem treuen Vorposten seines Gesichtes entlang, soweit seinen großen, klaren Maleraugen etwas wie Schielen möglich war. Die Leute aber lachten zu solchen überaus ernsthaft vorgebrachten Schnurren und meinten, daß der Maler Balthasar Schnurrseckel seinen Namen doch nicht umsonst trage.

Meister Balthasar oder, wie er nach ihrer Mundart hieß, Baltzer lachte auch zu ihrer Meinung. Was er selber im stillen von den Leuten meinte, das begnügte er sich zumeist mit seinen Bildern zu besprechen, die ja als seine Kinder und Ernährer die nächsten dazu waren.

Auch an diesem heiteren Maimorgen hatte er drei solcher stummen Zuhörer vor sich aufgestellt und unterredete sich mit ihnen sehr eingehend. Es waren drei Porträts. Das erste zeigte einen wohlbeleibten Herrn von einigen fünfzig Jahren, in prunkhafter städtischer Amtstracht, mit hohem spanischen Kragen und schwerer goldener Ehrenkette. Es war ein wenig geziert und steif gehalten, wie solche Bilder von ihren Originalen bestellt und von Meister Baltzer auch ohne Einrede geliefert wurden. Links von diesem zeigte sich in gleicher Größe das Brustbild eines schönen jungen Mädchens mit großen, lichtbraunen Augen und einem klugen Lächeln um die fein geformten Lippen. Es lag viel heiteres Selbstbewußtsein in diesen anmutigen Zügen, auch wohl für den Notfall ein gutes Teil Trotz, und diese beiden schätzbaren Errungenschaften schien die junge Schöne auch gegen die Mode geltend zu machen, denn in Tracht und Kopfputz hatte das vornehme Zeremoniell mit der Phantasie der Trägerin einen Ausgleich gefunden, der in den Augen minder anmutiger Damen vielleicht mehr von ihren Reizen als von standesgemäßer Schicklichkeit verriet. Um dies schöne Haupt über dem schlanken, von dem weit zurückgebogenen Spitzenkragen frei gelassenen Halse und den breiten, durch keine spanischen Puffen entstellten Schultern ganz neidlos zu betrachten, mußte man entweder keine Dame oder ebenso schön sein.

Meister Baltzer allerdings betrachtete das Bild mit einem Wohlgefallen, das mehr als bloße Künstlerbefriedigung war, und mit einem behaglichen Lächeln musterte er das Wappen, das er just heute in die linke obere Ecke beider Bilder gesetzt hatte. »Da steht's nun,« brummte er, »und es ist gut, daß es dasteht; denn woran sollte es sonst ein künftiges Säkulum noch merken, daß die zwei wirklich zusammengehörten?« Aber sein Lächeln wurde fast bitter, als er sich dem dritten, kleineren Bilde zuwandte, das einen kräftigen graubärtigen Mann zeigte mit wunderlich strengen, vielgefurchten Zügen, angethan mit einem groben scharlachroten Mantel ohne Schmuck und modische Zuthaten. » Den freilich werden sie auch ohne Wappen erkennen,« fuhr er fort und wandte sich seufzend dem offenen Fenster zu.

Auf dem Fenstersims stand neben drei zierlichen Spitzgläsern eine Karaffe, mit dunkelgelbem spanischen Wein gefüllt. Meister Baltzer schenkte sich ein Glas ein und schlürfte es langsam mit Kennermiene in kleinen Schlücken aus; zwischendurch musterte er die Aussicht. Das Gemach lag hoch, wie es sich für eine Malerklause schickt. Der Rat der Stadt hatte es ihm aus besonderer Gunst im obersten Stock eines Hauses eingeräumt, das vordem als Zeughaus und nun, in schwächeren Zeiten, als eine Art Rumpelkammer diente. Nur ein kleines Gärtchen mit blühenden Levkoien und blauen Schwertlilien gehörte zu dem Hause, dahinter aber erstreckte sich, vielfach durch Mauern zerteilt, ein weites Revier von Gemüsefeldern und Weingärten, untermischt mit baufälligen Häusern und Scheunen der hier wohnenden Ackerbürger, bis zu dem Zwinger hin, jenseits dessen über den übel erhaltenen altersgrauen Stadtmauern auf verlassenen Wällen ein Kranz von hohen, wild gewachsenen Bäumen aufragte, die Stadt wie mit einem Waldreif umziehend. Aus den Häusermassen, die das Pfahlbürgerrevier beidseitig umfaßten, ragten zwischen zahlreichen Kirchtürmen hie und da schlankere, stumpfdachige Türmchen auf, Wahrzeichen des patrizischen Standes ihrer Besitzer. Tauben umschwärmten sie, zogen ihre Kreise weiter und höher in der warmen Mailuft, bis sie ein langgezogener Lockpfiff zur heimischen Turmluke zurückrief. Auf diesen Türmchen weilte Meister Baltzers Blick trotz ihres malerischen Aussehens minder zufrieden als auf den kümmerlichen Hütten und Häuschen der Ackerbürger. »Ja, wie sich die Zeiten ändern!« brummte er mit spöttischem Lächeln. »Die Ahnen haben aus diesen Luken dem Feind und gelegentlich auch einander Bolzen und siedendes Pech um die Ohren geschickt, die feinen Enkelsöhnchen lassen ihre Täubchen daraus fliegen. Das Pech brauchen sie aber zwischendurch, um den Hexen einzuheizen, und so findet alles seine Bestimmung.«

Zwischen den mehr denn hundert großen und kleinen Kirchtürmen der frommen Stadt hob sich in diesem Stadtviertel einer durch seine massigen, von spitzem romanischen Turmhelm gekrönten Formen hervor; die dazu gehörige Kirche war vor fünfzig und mehr Jahren abgebrannt und durch einen kleineren Neubau an anderer Stelle ersetzt worden. Seitdem hieß der Turm der Sankt Martins-Feuerturm, oder einfach der Feuerturm; denn auf ihm hauste jetzt in einer nach allen vier Seiten mit Auslugfenstern versehenen Wohnung einer der drei städtischen Feuerwächter; von den beiden anderen wohnte der eine auf dem Rathausturm, der zweite auf einem breiten Turmstumpf der unvollendet und verwahrlost liegenden gotischen Domkirche. Diesen Wächtern lag es ob, beim ersten Anblick eines nächtlichen Brandes in ihrem Viertel mit Schlägen an die Feuerglocke ein für jeden von ihnen nach dem Rhythmus verschiedenes Signal zu geben und nach der Seite des Brandes eine brennende Fackel herauszustecken, um die Richtung zu weisen. Auch mußte der Feuerwächter alle halbe Stunden in der Nacht ein Glöcklein läuten, dessen geller Klang den Bürgern die tröstliche Gewißheit gab, daß der Wächter wirklich wach sei; er konnte sich ja am Tage ausschlafen, wie die Eulen und Fledermäuse, zwischen denen er dort oben als einsame »Haustaube« – dies war sein anmutiger Titel im Volksmunde – wohnte.

Meister Baltzer blinzelte eine Zeitlang nach dem Turme hinauf. Dann schüttelte er unzufrieden den Kopf. »Es ist jetzt vier Tage, daß ich den Raben nicht gesehen habe, und seinen Herrn auch nicht. Sonst schlief der Hans nicht so fest. Mit seinem verwünschten Nachtglöckchen weckt er mich alle halbe Stunden pünktlich, aber wenn ich ihn selber einmal sehen will, so werde ich wohl die hundertsechzig Stufen hinaufklettern müssen. – Und wäre es auch nur um der Kuchen willen, welche die alte Brigitt so lecker bäckt,« fügte er schmunzelnd hinzu und schenkte sich ein neues Glas Xeres ein.



 << zurück weiter >>