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Drittes Kapitel.

Herr Winand wußte, was er that, als er den Himmel anflehte, seinen lieben Mitbürgern die Maifreude gründlich zu verhageln. Es war eine unruhige Stimmung in der Stadt, und wenn das Wetter fortfuhr, mit seiner Freundlichkeit die angeborene Neigung zu unüberlegten Streichen in den Menschenherzen noch zu steigern, so konnten die Maitänze und Maitrünke unfriedlicher verlaufen, als es sonst ihre Gewohnheit ist.

Nach dem Buchstaben der Verfassung hätte freilich von Streitigkeiten zwischen den »Junkern« und dem Volk schon seit zweihundert Jahren keine Rede mehr sein können. Denn reichlich so lange war es her, daß der Massendruck des kleinen Bürgertums die Herrschaft der edlen Geschlechter gesprengt und durch eine ganz demokratische Verfassung ersetzt hatte. Der geringste Handwerksmeister besaß, wofern nur sein Beichtzettel in Ordnung war, genau so viel Stimmrecht, Wahlrecht und Wählbarkeit, wie der vornehmste Patrizier. Allmählich aber hatte sich auf dem Boden dieser Verfassung doch wieder die schönste Aristokratie entwickelt, indem die führenden Männer und Familien des »Volks«, sobald sie erst zur Teilnahme an der Macht gelangt waren, die Gesellschaft ihrer früheren adligen Gegner weit angenehmer fanden und sich gleich ihnen von der Menge hoffärtig abschlossen. Das neue Patriziat beherrschte ganz wie das alte die Stadt, vererbte seine Stellen im Rate und seine Anwartschaft auf den Bürgermeisterstab an Söhne und Vettern und versorgte die folgsamen Wähler mit der jeweils zweckmäßigen öffentlichen Meinung. Arbeitete sich einmal ein kleiner Mann durch Tüchtigkeit oder auch durch besonders eifrig bekundete Volksfreundlichkeit trotz allen Mißtrauens seiner Handwerksgenossen und Mitwähler hinauf bis in den Rat, so wurde er von dem vornehmen Element sehr bald aufgesogen, und die Spuren seiner demokratischen Vergangenheit waren bereits nach einigen Jahren kaum mehr mit der Lupe an ihm zu finden. Herr Winand erklärte sehr gelehrt, das sei im alten Rom mit dem patrizischen und plebejischen Amtsadel gerade so gewesen, der alte Sünder, Meister Baltzer, meinte sogar, es sei überhaupt der natürliche Verlauf der Dinge, und im ganzen ging es auch recht glatt. Zuweilen aber kam eine kleine Stockung in die Maschine, sei es, weil wieder irgend ein begabter Mann, der noch nicht im Rate saß, seine Volksfreundlichkeit entdeckt hatte, oder weil sich eine einzelne Zunft durch irgend einen Ratsbeschluß in ihrem Gewerbsertrag geschädigt fand oder weil der Uebermut eines der Regierenden die Herde bis zum Bewußtsein ihrer Macht gereizt hatte; manchmal auch war überhaupt keine bestimmte Ursache der Störung zu fassen, und die Menge wurde einfach unruhig, weil es ihr zu still war. Alsdann kam ein großes Rasseln und Quietschen in das ganze Uhrwerk, es wurde daran herumgedoktort und gefeilt, bis die unverständige Mehrzahl der anstrengenden Arbeit müde war und die sehr verständige, amtskundige Minderheit die alten, abgenutzten Räder wieder mit dem sanften Oel ihrer Weisheit, im Notfalle auch mit ein wenig Blut zu einem ordnungsmäßigen Gang gebracht hatte, bei dem sie allerdings nicht ganz eine Stunde in sechzig Minuten liefen und somit hinter der Zeit allmählich zurückblieben.

Die letzte größere Störung dieser Art war vor ungefähr fünfzehn Jahren gewesen, als Mechthilds Vater den Stuhl des ersten Bürgermeisters einnahm. Damals hatte die Schneiderzunft das Banner der Empörung erhoben; es war zu einem nächtlichen Tumult gekommen, und in diesem Tumult war der Bürgermeister versehentlich – von einem kurzsichtigen Stadtsoldaten – erschossen worden. Durch ein seltsames, sehr verwerfliches Mittel hatte alsdann der Amtsgenosse des Gefallenen die Ruhe wiederhergestellt, indem er der Aufregung des Volkes eine neue Richtung gab. Dieser Mann hieß Sebaldus von Halveren; er stammte aus einem der ältesten ritterbürtigen Geschlechter der Stadt, war mit den Herren von Mechter verwandt und nach ihnen jedenfalls der angesehenste unter den Patriziern, zudem galt er als sehr reich, da er es im Gegensatze zu den meisten Ritterbürgern nicht verschmähte, nach der Weise ihrer Vorfahren das ererbte Vermögen und Ansehen in ausgedehnten kaufmännischen Geschäften wuchern zu lassen. Beim Volke und der diesem entsproßten niederen Geistlichkeit stand er trotz seines kalten, wortkargen Wesens in hohen Ehren als ein Mann von musterhafter Frömmigkeit, da er keine kirchliche Schaustellung versäumte und vor der Welt einen fast mönchisch strengen Lebenswandel führte. Ihm war es geläufig, sich von der Menge scheinbar dahin drängen zu lassen, wohin er wollte; und so schien er nur der öffentlichen Meinung nachzugeben, als er sogleich nach dem Tode seines Kollegen die Untersuchung gegen einige alte Weiber von geringstem Stande einleitete, die durch Hexenkünste das Gewehr des unglücklichen Schützen verzaubert und die Kugel auf den Bürgermeister gelenkt haben sollten. Damit öffnete er dem entsetzlichen Irrwahn, der damals den größten Teil der Christenheit beherrschte und auch in mehreren der Stadt benachbarten Staaten schon Hunderte von Opfern gefunden hatte, die Thore der Stadt; und vielleicht mochte er seine entsetzliche List vor sich selber mit der Erwägung entschuldigen, daß ja doch über kurz oder lang der Aberglaube auch ohne ihn eingedrungen wäre. Seinen Zweck erreichte er allerdings; aber der einmal angefachte Fanatismus ließ es nicht bei der ersten Anklage bewenden, und einige Jahre lang gab es für Folter und Scheiterhaufen in dem engen Gebiete der Reichsstadt viel zu thun. Uns fehlt in einer milder und alles in allem christlicher gesinnten Zeit die Kraft des Erzählens wie des Hörens angesichts der Greuel jenes Verfahrens, das weibliche Wesen jedes Alters unter der Form gerichtlicher, von der Kirche geheiligter Untersuchung der peinvollsten Ermordung nach unnennbaren Qualen und noch entsetzlicheren Ehrkränkungen aussetzte und, immerfort genährt durch Haß, Verleumdung, Habsucht und einen nicht selten bis zur Selbstbezichtung gesteigerten Wahnwitz, jeder noch Verschonten auf morgen das Ende androhte, das heute die Nachbarin ereilte. Alle oft geschilderten soldatischen Grausamkeiten in den Kriegen jener und der nächsten Zeit waren nur die Lernfrüchte des Hexenprozesses, wie ihn die gelehrtesten kirchlichen und weltlichen Richter angelegt hatten und durchführten. Kenner der Akten und Listen haben die Zahl seiner gerichtlichen Opfer bis auf neun Millionen Seelen berechnet. Gegenüber einer solchen Summe verschwindet allerdings der winzige Bruchteil, der davon, dank der Schlauheit des Bürgermeisters von Halveren, auf die Reichsstadt entfiel; auch griff die Verleumdung hier einstweilen noch nicht in die höheren Stände hinauf, sie begnügte sich mit der Vernichtung kleiner und wehrloser Seelen, und der Herr von Halveren mochte sich Glück wünschen, mit diesen unwichtigen Opfern das Aufregungsbedürfnis der Menge auf mehrere Jahre von der Politik abgelenkt zu haben.

Mechthilds Kindheit war von diesen Entsetzlichkeiten unberührt geblieben. Als ihr Vater fiel, befand sie sich bereits über ein Jahr bei ihrer Muhme, der Aebtissin des etliche Meilen von der Stadt belegenen Cistercienserinnenstifts Marienforst. Dorthin war sie nach dem frühen Tode ihrer Mutter, einer zarten, ängstlichen Frau, auf deren letzten Wunsch gebracht worden, und dort verbrachte sie ihre Kinderjahre unter sorgsamer, friedlich-frommer Pflege, bis sie in ihrem siebzehnten Jahre nach der Stadt, in das Haus des kinderlosen Oheims und Vormunds zurückkehrte. Sie waren die letzten ihres Geschlechtes. Das ganze große Vermögen, mit dem alten palastartigen Stammhaus in der Stadt und dem großen Gute, dem Mechterhof, draußen vor den Mauern sollte sich dereinst in der Hand des verwaisten, schönen Mädchens vereinen.

Es versteht sich, daß diese Aussicht das Benehmen ihrer jüngeren Standesgenossen ebenso stark beeinflußte, wie ihre Schönheit. Auf sie selbst aber wirkten die Aufmerksamkeiten, die man ihr in der neuen Umgebung widmete, ganz eigen. Im Stift war sie inmitten einer Welt friedlichen Wohllebens und Sichgenügenlassens aufgewachsen, in welcher sich eine gewisse zuversichtliche Frömmigkeit zwanglos mit jener ehrlichen Andacht zu den Künsten und den weltlichen Wissenschaften verband, die sich in diesen vornehmen Klosterverbänden als eine weibliche Errungenschaft der Renaissance erhalten hatte. Die Muhme-Aebtissin und ihre Chorfrauen bekümmerten sich so wenig um Hexenprozesse wie um Stadtrevolutionen. Sie sahen die Welt da draußen, von der sie ungemein wenig wußten, in einem überaus rosigen Lichte an, mit einer sinnigen Zufriedenheit, die einen Ton harmloser Schwärmerei nicht ausschloß. Es gab Feinschmeckerinnen unter ihnen, welche die Schönheit eines Virgilschen Idylls oder eines Correggioschen Gemäldes ebenso unbefangen zu genießen wußten, wie den Zauber einer frommen Kirchenmelodie. Aus dieser zufriedenen Welt war Mechthildis nun in eine andere zurückgekehrt, eine Welt voll unruhiger Selbstsucht und überhöfischer, ängstlich berechneter Artigkeiten, zwischen denen doch immer eine gewisse begehrende Roheit durchzüngelte. Sie war klug genug, um zu wissen, warum sich diese Welt gerade ihr so geflissentlich von der anziehendsten Seite zu zeigen suchte; und während sie so mit frühreifem Verstande den Kreis der Standesgenossen, der sie umgab, und das Leben, das sie mitmachte, zu beurteilen und fast zu verachten begann, regte sich in ihrem jungen Herzen immer gewaltiger die dunkle Sehnsucht nach etwas Großem, Gesundem, Wahrem, etwas wirklich Verehrungswürdigem. Diesem inneren Zustande des Kampfes und der Unbefriedigung entsprach ihr Benehmen. Ihre zahlreichen Verehrer nannten das Kälte oder gar Gefallsucht, was doch im Grunde nur die Friedlosigkeit eines warmen, jungen Herzens war, das niemand hat, für den es schwärmen könnte. Ihr Oheim liebte sie mit aller väterlichen Fürsorge, deren seine bequeme, harmlos selbstsüchtige Seele fähig war, und sie erwiderte es mit kindlicher Dankbarkeit, aber zu einer wirklichen inneren Gemeinschaft fehlte diesem Verhältnis doch alles; es beruhte ausschließlich auf der Gemeinschaft des Blutes und des Standes, ohne jede Veredlung durch freie Freundschaft der Herzen. Den alten Meister Baltzer, der sie schon als Kind abgemalt und auf den Knieen gehalten, achtete sie sehr, sie freute sich jedesmal, wenn er auf seinen Wanderfahrten wieder in der Stadt oder draußen auf dem Mechterhofe auftauchte, um ihre künstlerischen Versuche in zwanglosen Lehrstunden zu prüfen und weiterzubilden. Solange ihre Unterhaltung sich dabei um äußere Dinge drehte, schreckte sie die spöttische Art des Alten um so weniger, da sie selber gerne einer verwandten Neigung nachgab; manchmal aber kam es ihr vor, als ob die Ironie des Meisters auf sie selbst und ihre heimlichsten Empfindungen ziele, und in solchen Augenblicken wäre sie vor dem bloßen Gedanken zornig errötet, ihm freiwillig ihr Herz zu öffnen. Freundinnen hatte sie viele nach Mädchenart, aber keine Vertraute. Schließlich waren ihr nach manchen Tagen jener vornehmen, inhaltlosen Geselligkeit, die sie wie eine standesgemäße Pflicht betrachtete und mitmachte, die liebsten Stunden die, welche sie allein mit sich, ihren Studien und ihren Träumereien verbrachte.

Seit einiger Zeit – seit der Rückkehr von ihrem Osterausflug nach dem Mechterhof schien sich diese einsiedlerische Neigung in ihr noch gesteigert zu haben, und der Morgenbesuch beim Meister Baltzer hatte ihre Stimmung nicht gebessert. Gleichgültig, fast verdrießlich beantwortete sie die Fragen der Zofe, in welchem Kleid und Schmuck sie auf dem Maifest am Abend zu erscheinen gedenke. Das ganze Fest schien ihr fast ebenso unbequem zu sein wie ihrem Oheim. Dieser stellte noch immer seine Hoffnung auf einen dauerhaften frostigen Regen, der sich unversehens einstellen und mit den Junkern auch die unzufriedenen Zünftler – diesmal waren es die Brauer und die Bäcker – vom abendlichen Ausgang abschrecken werde. Aber der Himmel verweigerte ihm diesen Polizeidienst. Ueberaus warm und sonnig blieb das Wetter, es lockte die Bäcker aus ihren dunstigen Backstuben und regte die Brauer an, schon früh am Nachmittag reichlich vom Werke ihres Fleißes zu kosten, während die jungen Patrizier schon in ihren Festgewändern stolzierten und den jüngeren Teil der Gegenpartei mit galanten Blicken nach Bürgerstöchtern und Mägden noch mehr reizten. Herr Winand sah ein, daß sich die Obrigkeit diesmal selbst helfen müsse. In aller Eile versammelte er den Ratsausschuß zu einer geheimen Sitzung, der auch die Hauptleute des Stadtmilitärs beiwohnten. Alsdann stieg er seufzend in seine Sänfte und ließ sich durch den lauen, von allerlei aufregenden Liedern und Rufen belebten Abend heimtragen, um Mechthildis abzuholen. Sein bester Trost war noch, daß Herr Sebaldus von Halveren auch in diesem Jahre wieder als zweiter Bürgermeister waltete. Der hatte ja vordem schon einmal den Tumult zu stillen gewußt, und Herr Winand war einer von den bequemen Leuten, denen die Anerkennung fremder Geschicklichkeit leichter fällt, als sich selber anzustrengen.



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