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21. Neun Monate später.

Etwas über neun Monate waren verflossen, seitdem Lord Harrick sich an dem Empfangsabend bei Mrs. Stonex mit Capri verlobt hatte. Das Gesellschaftsleben blieb nach wie vor dasselbe. Generationen kommen und vergehen, Nationen steigen und fallen, Kronen werden gewonnen und verloren, Kaiserreiche hinweggefegt, aber die Gesellschaft fließt wie ein gewaltiger Strom in seinem Bette unbehindert weiter.

Vor neun Monaten stand Capri als Braut an der Seite Richards des Sechsten Viscounts Harrick, in der Kapelle Heinrichs des Siebenten in der Westminster-Abtei. Ein Bischof, dem mehrere Domherren assistierten, vollzog die Trauung mit all dem Pomp und dem Zeremoniell, die dem hohen Range des Bräutigams entsprachen. Capri bewegte sich wie in einem Traume. Sie hörte die leise, feierlich gestellte Frage des Bischofs, ob sie mit dem Manne an ihrer Seite in den heiligen Ehestand treten und nach Gottes Satzung bei ihm ausharren wolle in guten und bösen Tagen?

Kaum hörbar kam das ›Ja!‹ von ihren Lippen. Der Bischof fuhr fort:

»Wollen Sie diesem Manne dienen, ihm gehorchen, ihn ehren und lieben, ihn pflegen, wenn er krank ist, Ihre Eltern verlassen, um ihm zu folgen, und treu bei ihm ausharren, bis der Tod die Bande löst?«

»Ja!«

Die leise, zitternde Stimme des Bischofs fiel an ihr Ohr, aber sie hatte das Gefühl, als ob die Worte an eine ihr befreundete Person gerichtet wären und nicht an sie, als ob jemand im Traume zu ihr spräche und sie nur die Augen zu öffnen brauchte, damit die ganze Zeremonie wie eine Vision in nichts zerfließe. Alle ihre Bewegungen führte sie mechanisch, wie ein Automat aus; wenn sie sprach, war es, als ob irgend jemand mit ihrer Stimme spräche. Als sie die Hand ausstreckte, um den Ring, der das Band ihrer Ehe besiegeln sollte, zu empfangen, hatte sie die Empfindung, als ob sie unter der Herrschaft eines fremden Willens handle, und als der Bräutigam ihre Hand erfaßte, um ihr den Schwur der Treue zu leisten, hätte diese ebensogut aus Stein oder Marmor sein können – so wenig empfand sie den Druck und so eiskalt war sie!

Capri kniete vor dem Altare nieder und hörte das Gebet: »Gott, Erzeuger und Erhalter des Menschengeschlechtes, Spender aller geistigen Gaben, in dessen Hand Tod und Leben steht, segne dieses Paar! Lasse es, wie Isaak und Rebekka, in treuer Liebe und Eintracht seine Tage beschließen. Amen! Du, der es in deiner göttlichen Gnade vereint hat, schütze und schirme es vor Versuchungen, daß Menschenhand es nicht wieder trenne, Amen!«

Die Sonne schien durch die prachtvoll bemalten Altarfenster und küßte den Scheitel der blassen Braut, deren Augen unter dem Schleier mit einem Blicke der Mater dolorosa zum Himmel emporblickten, während von der mächtigen Orgel ein Hochzeitsmarsch erklang.

Capri, die in einer Wolke von Spitzen und Atlas wie eine Märchengestalt aussah, nahm nach beendeter Zeremonie den Arm ihres Gatten und schritt durch die altersgrauen Kapellen der Abtei.

Sie vergrub ihr Gesicht in dem ungeheuren Brautbukett, um die Tränen, die auf ihren Wangen glänzten, zu verheimlichen.

Wäre doch auch schon die ganze Komödie oder Tragödie, die das Schicksal ihr bestimmt, vorüber! Sie brauchte dann nie mehr diese brennende Sehnsucht nach einem unbekannten Glücke zu empfinden, die ihre Jugend vergiftet und die, sie fühlte es deutlicher denn je, mit ihrer heutigen Trauung durchaus nicht ihr Ende erreicht hatte. Was war es eigentlich, wonach sie sich sehnte? Als sie arm wie eine Kirchenmaus gewesen, glaubte sie, im Reichtume liege das Glück, nun war sie reich und – doch nicht glücklich.

»Das schöne und glückliche Paar, Lord und Lady Harrick, hat seine Reise nach Paris sofort nach dem Hochzeitsfrühstück angetreten,« meldeten am nächsten Morgen die Londoner Zeitungen. Diese sind merkwürdigerweise stets so höflich, Leute mit schweren Geldsäcken schön und glücklich zu nennen.

Paris mit seinem wolkenlosen Himmel, seinen herrlichen Nächten, seinem heiteren, tollen Treiben, seinen unzähligen Sehenswürdigkeiten, seiner wunderbaren Umgebung erschienen Capri wie ein Weihnachtsmärchen – wie eine Vision des modernen Paradieses. Die lebenslustige Metropole, in der alles Genuß atmete, gefiel ihr weit mehr, als das schwermütige London; sie erinnerte sie an ihr von den blauen Wellen umspültes Heimatland.

Von Paris gingen sie noch Florenz und von da nach Rom, wo sie überwinterten und wo die jugendliche Vicomtesse die Heldin aller Salons wurde. Ihr Gatte, ein Schulkollege des englischen Botschafters, erneuerte diese Studentenfreundschaft, und das Pärchen wurde durch ihn in die römische Gesellschaft eingeführt. In weniger als einer Woche fühlte sich Capri in der Ewigen Stadt zu Hause und bewegte sich zwischen Prinzessinnen, den englischen Aristokraten und den amerikanischen Millionären mit einer Sicherheit, als ob sie nie in anderen Kreisen verkehrt hätte. Schon bei ihrem ersten Debüt im Botschafts-Hotel – dem Palazzo Ciarri – erregte sie großes Aufsehen; ihre seltene Schönheit und Anmut bezauberten jedermann.

Es regnete Einladungen, und ihre Zusage wurde als besondere Gunst betrachtet; selbst die Frauen buhlten um ihre Freundschaft. Ihr Erfolg versetzte sie selbst in Erstaunen, aber sie hieß ihn willkommen, weil er sie aus der Aufregung und dem Taumel nicht erwachen ließ. Und sie fürchtete das Erwachen, denn sie hätte dann der Stimme ihres Herzens lauschen müssen, die der brausende Wirbel der Unterhaltungen erstickte. Sie fühlte sich zwar nicht glücklich, aber wenigstens befriedigt, dieses aufregende Leben gefiel ihr, dieses Flattern von Genuß zu Genuß. O, wenn man nur immer so ohne Herz fortleben könnte! Dies lästige Organ verbittert so oft das Menschenleben, welches ohne dasselbe ganz erträglich vegetieren könnte!

Vicomtesse Harrick empfand die Tatsache nur zu sehr; sie versuchte ihr Herz allen Erinnerungen zu verschließen, ein Siegel daraufzudrücken, das mit ihrem Willen niemals erbrochen werden sollte: nur immerfort in dem Taumel leben, der ihr Vergessenheit brachte. Und doch fühlte sie sich nicht sicher, daß das Herzenskämmerchen, in welchem sie die Erinnerung so ängstlich bewahrt hielt, nicht eines Tages aufspringen werde, um sie dann mit den Gedanken und Gefühlen der guten alten Zeit zu überwältigen. Nein, nein, die Vergangenheit war tot und mußte es für sie bleiben. Sie wiederholte sich immer und immer wieder, daß sie glücklich sei, bis sie es schließlich beinahe selbst glaubte. In ähnlichen Fällen geht es den meisten Menschen so, daß sie sich Dinge einreden, die sie nicht empfinden.

Eines Tages kam ihr Gatte freudestrahlend heim und erzählte ihr, daß sein intimster Freund Guy Rutherford in Rom eingetroffen sei und demnächst seinen Besuch abstatten werde. Dies geschah auch, und von da ab war er täglicher Gast im Hause. Er kannte die Siebenhügelstadt wie seine eigene Tasche, jedes Gemälde in den Galerien, jede Statue und jeden heiligen Schrein in den Kirchen. Er sprach so fließend Italienisch wie Englisch und wußte eine Anzahl Legenden und Sagen, die sich alle auf die historischen Paläste und Ruinen bezogen. Man konnte sich kaum einen geistvolleren und besseren Cicerone denken, es war ein Vergnügen, sich von ihm in der Ewigen Stadt herumführen und belehren zu lassen. Seine Ausdrucksweise entbehrte niemals der Originalität und entsprang seiner augenblicklichen Stimmung. Heute sprühte sein Geist, jedes Wort, das er sprach, war ein Witz; morgen philosophierte er, und tiefer Ernst lag auf seinen Zügen; des Morgens scherzte er über alle möglichen und unmöglichen Dinge, am Abend war er schweigsam und geistesabwesend. Gerade dieser Wechsel in seiner Stimmung machte ihn den Frauen gefährlich. Auch Capri vermochte nicht, sich dem Zauber, der von ihm ausging, zu entziehen. Sie war sich über die Gefühle, die sie in seiner Nähe beseelten, nicht ganz klar; Liebe konnte es nicht sein, ganz gewiß nicht – sie sah in ihm nur die Ergänzung ihrer eigenen Natur. Mit der Liebe hatte sie seit jenem Abschiede in Marcus Phillips' Atelier abgeschlossen. Dieses Gefühl durfte in ihrem Herzen nicht mehr aufkommen, denn sie hatte es für ewige Zeiten im Keime erstickt. Guy und sie waren nur Freunde, gute Kameraden – weiter nichts.

Mit feinem Instinkte erriet Rutherford stets ihre Gedanken, ehe sie sie ausgesprochen, paßte sich ihren jeweiligen Stimmungen an und verstand in ihrer Seele zu lesen, wie bis jetzt niemand in der Welt, nicht einmal Marc! Eine geheime Wahlverwandtschaft begann sich zwischen ihnen zu entspinnen, die keiner von ihnen zu bemerken schien und die doch von Tag zu Tag ein festeres Band um sie schlang. Natürlich nur das der Freundschaft, beruhigte sich Capri, welche die Tiefe ihrer Gefühle nicht kannte und nicht kennen wollte, welche ihr Herz mit dem seinigen, seine Seele mit der ihrigen verbanden. Nur wenige Tage hatte es gebraucht, um in diesen beiden so verwandten Naturen ein Gefühl aufkeimen zu lassen, das sie nie mehr verlassen und ihnen den Seelenfrieden rauben sollte.

Sie hatten nie darüber gesprochen, und doch empfanden es beide. Wenn Herzen sich gefunden, bedarf es keiner Worte, die Intuition vertritt ihre Stelle und spricht deutlicher und mächtiger als jene. Capri erschien es, als ob jetzt erst ihr eigentliches Leben beginne, dessen Wert sie bislang gar nicht gekannt. So viele Jahre hatte sie vegetiert, ohne die Tiefe ihres Herzens und ihres wahren Charakters zu kennen, sie erwachte aus tiefem Schlafe zu …zu was? Ein Ritter hatte das Dornröschen wachgeküßt, und jetzt wurde es ihr erst klar, wie selbstsüchtig und schlecht sie gewesen. Judas hatte für dreißig Silberlinge den Herrn verschachert, sie aber für einen hohlen Titel und Glanz sich selbst, ihr besseres Ich, trotzdem man sie gewarnt. O, was mußte Guy von ihr denken?!

Bei dem Gedanken, wie niedrig und verächtlich sie in seinen Augen erscheinen müsse, sank ihr Haupt tief auf die Brust herab, und sie errötete vor Scham. Sie hätte sich am liebsten das Herz aus dem Leibe reißen mögen, um es zu zertreten, denn er, an dessen Meinung ihr am meisten gelegen, mußte wissen, daß sie sich verkauft. Sie konnte sich nicht einmal damit trösten, daß sie den Abgrund nicht gesehen, denn Marc hatte sie ja vor sich selbst zu retten versucht! O, warum hatte ihr das Schicksal Rutherford nicht früher in den Weg geschickt? Für ihn würde sie freudig jedes Opfer gebracht und nie eingewilligt haben, Lady Harrick zu werden. Sie durfte nicht an die Vergangenheit denken, wenn sie nicht ihren Verstand verlieren wollte!

Sie bot all ihre moralische Kraft auf, um ihrem Schwure treu zu bleiben und der Versuchung zu widerstehen. Ja, sie redete sich immer mehr ein, nur freundschaftliche Gefühle für Guy zu empfinden, der ihres Lebens Inhalt und Glanz war, und schloß ihre Augen vor der Gefahr, der sie sich aussetzte. Nach wie vor jagte ein Vergnügen das andere, und die Tage verflossen ihr wie ein Traum. Sie war nur neugierig, wann sie aus demselben erwachen würde. Ihrem Gatten bezeigte sie jetzt aufrichtige Teilnahme und Dankbarkeit, die er für Liebe hielt und mit unbegrenzter Hingebung und Verehrung erwiderte. Sie versuchte, allen seinen Wünschen – den ausgesprochenen und unausgesprochenen – entgegenzukommen, und jedermann hielt Lord und Lady Harrick für ein glückliches und zärtliches Pärchen, das man beneiden mußte. Dem Liebling der römischen Gesellschaft, dem Abgott ihres Gatten, fiel jedoch plötzlich die Binde von den Augen.

Eines Tages sah Capri die Gefahr, in welche sie die Freundschaft mit Guy Rutherford versetzte, so klar und deutlich, als wenn ein Blitzstrahl sie erhellt hätte. Lord Harrick hatte für den Abend eine Einladung beim englischen Botschafter angenommen, während Capri, die dies nicht wußte, der Prinzessin von Alantino versprochen, einem Maskenballe beizuwohnen. Um beide Versprechen einlösen zu können, begab sich Harrick zu seinem Freunde, während die Vicomtesse in Begleitung Guy Rutherfords den Maskenball in dem alten, herrlichen Palazzo Alantino besuchte. Sie hatte sich vorzüglich unterhalten und sehr viel getanzt. Das seltsame bunte Bild und das phantastische Treiben entsprach ihrem Geschmacke. Es war schon sehr spät oder vielmehr sehr früh, als Guy ihr in den Wagen half.

Er hatte sich den ganzen Abend zurückhaltend benommen und nur ein einzigesmal mit ihr getanzt, aber nicht etwa, weil ein Mißton zwischen ihnen herrschte, sondern nur aus Rücksicht, um der bösen Fama keine Kombinationen zu geben. Sie lehnte sich müde und etwas bleich in die Wagenecke zurück, ihre Maske lag auf den Knien. Plötzlich fühlte sie seine heißen, liebestrunkenen Blicke auf sich ruhen; ihr Herz schlug einen Augenblick so heftig, als ob es sich aus seinem engen Kerker befreien wollte, um dann stillzustehen. Ihr Atem stockte, das Blut raste durch ihre Adern. Ehe sie sich zu fassen vermochte, hatte er seinen Arm um sie geschlungen und einen langen, heißen Kuß auf ihre Lippen gedrückt. Eine unendliche Wonne erfüllte sie und ließ ihren Körper erbeben.

»Capri,« rief er, seiner nicht mehr mächtig, »ich liebe dich!«

Das brauchte er ihr nicht zu versichern, ihr Herz hatte es ihr längst verraten.

Ihr Herz? Gehörte es denn ihr? hatte Lady Harrick es nicht einem andern geschenkt? Sie zog sich in die entfernteste Wagenecke zurück, traute sich aber nicht zu sprechen, aus Furcht, ihre Gefühle zu verraten. Wie durfte sie dem Manne an ihrer Seite grollen, verdankte sie doch ihm allein die glücklichsten Stunden ihres Lebens? Wie ihn einen Verräter und Ehrlosen nennen, hatte sie sich doch ihrem Gatten, den sie nie geliebt, verkauft? O, die eine Sekunde an seinem wildpochenden Herzen hatte ihr verraten, wie es um beide stand. Eine Leidenschaft hatte sie erfaßt, welche die Welt für strafbar erklären würde. Sie bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen, Träne um Träne näßte ihre Wangen, es schwirrte ihr in den Ohren, und sie fühlte sich einer Ohnmacht nahe. Er sprach kein Wort, denn er erriet, was in ihrer Seele vorging. Als sie sich jedoch nicht zu beruhigen vermochte, erfaßte er sanft ihre Hand und flüsterte:

»Lady Harrick, können Sie mir vergeben?«

»Unter einer Bedingung,« stammelte sie.

»Und diese wäre?«

»Sie verlassen morgen Rom.«

»Morgen?« rief er verzweifelt. Der Ton dieses Ausrufes hallte noch lange in ihren Ohren, und sie mußte alle ihre Kraft aufbieten, um bei ihrer Bedingung zu beharren.

»Verlangen Sie jedes Opfer von mir, nur dies nicht! wenn ich Sie nicht mehr sehen darf, ist all mein Glück dahin. Capri, Capri, was haben Sie aus mir gemacht!«

Noch nie war ihr seine Stimme so berauschend süß erschienen, aber sie mußte stark bleiben. Ein tiefer Seufzer entrang sich ihrer Brust, die Worte erstarben auf ihren Lippen.

»Verbannen Sie mich nicht aus Ihrer Nähe. – Gestatten Sie, daß ich in Rom bleibe?«

»Nein, nein, nein!« schrie sie verzweifelt auf und sah ihn flehend an.

»Ich werde morgen abreisen.«

Beide schwiegen. Einmal noch mußte sie ihm ins Auge sehen, ehe sie für immer schieden. Die Wagenlampen beleuchteten sein bleiches Gesicht, ein seltsames Feuer loderte in seinen Augen, das ihr Furcht einflößte. Sie näherten sich ihrem Palaste.

»Leben Sie wohl und suchen Sie zu vergessen,« sagte Capri mit bebenden Lippen und reichte ihm ihre kleine, schmale Hand, die er mit heißen Küssen bedeckte und an sein Herz preßte. Der Wagen hielt; sie erhob sich rasch, und ehe er wußte, wie ihm geschah, hauchte sie einen Kuß auf seine Stirne und sprang hinaus. Sie winkte ihm, zu bleiben, und verschwand im Schatten des großen Portikus, der zu ihrem Heim führte.


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