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10. Padre Pallamari.

Der alte Pallamari wohnte in dem gegenüberliegenden ruhigen, schmalen Quergäßchen, das einst bessere Tage gesehen und noch immer von dem alten Rufe zehrte. Alle Häuser auf beiden Seiten sahen sich so ähnlich, wie ein Ei dem anderen. Der Baumeister, der sie erbaut, hatte seine Phantasie nicht zu sehr angestrengt, sie waren alle vier Stock hoch, hatten alle die gleichen schmalen Haustüren, welche von den Mietern kontraktlich jährlich einmal dunkelbraun angestrichen werden mußten, jede Türe wies den gleichen Bronzeklopfer auf, zu jeder führte eine schneeweiße Steintreppe, die jeden Morgen gescheuert wurde, und fast in jedem Fenster erblickte man auch einen weißen Zettel mit den fettgedruckten Worten: »Hier sind Zimmer zu vermieten.«

Das anständige Gäßchen hatte nur anständige, wenn auch arme Bewohner. In Nummer 3 zum Beispiel lebte ein französischer Tanzmeister, welcher in vornehmen Häusern Tanzunterricht erteilte. Wenn er mittags das Haus verließ, blickte man ihm aus allen Fenstern nach, denn ›Monsieur‹ kleidete sich nach der neuesten Pariser Mode; seine prachtvollen schwarzen Locken glänzten nicht weniger als die Lackstiefelchen, in denen seine zierlichen Füße steckten, um die ihn manche englische Lady beneidete. Die ganze Straße – namentlich seine Zimmervermieterin – war stolz auf ihn, denn niemand grüßte so höflich, verbeugte sich so schön und sah so elegant aus, wie ›Monsieur‹.

Drüben in Nummer 10 wohnte der Requisiteur eines kleinen Theaters mit seiner Frau. Auch sie waren achtbare Leute, wenngleich sie fast nie zur Kirche gingen und abends sehr spät heimkehrten. Das gehörte zwar zu ihrem Berufe, aber man würde es ihnen vielleicht doch nicht verziehen haben, wenn sie nicht bald dem, bald jenem Theaterkarten geschenkt hätten. In Nummer 8 wohnte ein ehrbares altes Fräulein, das tagsüber fleißig schneiderte und abends die blutrünstigsten Romane las oder die schauerlichsten Melodramen besuchte. Miß Banks, dies ihr Name, war ob ihrer ›Bildung‹ allgemein geachtet und auch die einzige, die der alte Pallamari hie und da mit seinem Besuche beehrte. Er selbst bewohnte ein Dachstübchen in Nummer 13.

»Es ist nahe dem Himmel,« sagte er einst zu Capri, als diese ihn aufmerksam machte, daß die vielen Stufen ihn schon zu sehr ermüden mußten, »und es ist ja für uns arme Sterbliche so schwer, diesen zu erreichen.« Er lachte über seinen eigenen Scherz.

›Padre‹ Pallamari, der Liebling aller Kinder in der Straße, hatte stets ein freundliches Lächeln, ein liebes Wort für sie, und es machte ihm Vergnügen, ihnen italienische Brocken beizubringen. Wenn sie ihm in ihrem harten englischen Akzent nachriefen: » buona journa, boona sara, padre mio«, dann strahlte sein gutes, altes Gesicht vor Freude. Sein Dachstübchen bildete seit vielen Jahren seine ganze Welt. Hier empfing er mit der Hoheit eines Prinzen und der Einfachheit eines Künstlers seine Schüler; hier schlief er und bereitete auch seine einfachen Mahlzeiten zu. In dem kleinen, stets spiegelblanken Kamin brannte Sommer und Winter Feuer.

Dieses war ihm ein Freund, dessen erwärmenden Anblick er nicht missen wollte. Der alte Padre kochte selbst, wusch seine Wäsche, besorgte seine Einkäufe und strickte sogar seine Strümpfe, kurz, er war in allen seinen Bedürfnissen so unabhängig von der Außenwelt, wie Robinson Crusoe auf seiner einsamen Insel.

Zum großen Glücke Capris wohnte ihr Vater, als er sie als zehnjähriges Kind nach London brachte, in einem Hause mit dem alten Pallamari, der sich seiner kleinen Landsmännin warm annahm. Die arme Kleine kannte kaum ein Dutzend englische Worte; alles in der ungeheuren Stadt erschien ihr fremd und abschreckend; ohne den guten Padre, mit dem sie in ihrer Sprache und von ihrer geliebten Insel sprechen konnte, hätte sie sich gar zu einsam und verlassen gefühlt. Sie war überzeugt, wenn die gütige Vorsehung ihr nicht ihn als Retter geschickt hätte, sie wäre damals vor Heimweh gestorben. Er ward ihr Freund und Vater, der sie tröstete, wenn sie zu verzweifeln drohte, ihr gütig zusprach und sie allmählich mit ihrer neuen Heimat befreundete.

An all das dachte Capri, als sie ihre Schritte auf Nummer 13 lenkte. Der alte Padre sollte der erste sein, dem sie heute ihr Herz ausschütten wollte, denn er würde am aufrichtigsten ihre Freude teilen, sie am besten verstehen; stand er ihr doch näher als ihr eigener Vater. Wie wird er sich freuen, wenn er von dem großen Glücke hört, das ihr heute zuteil geworden? Sie sieht im Geiste sein überraschtes Gesicht, hört seine Glückwünsche und Segnungen. Schon ist sie am Hause und kann es kaum erwarten, daß man ihr öffnet. Als ob sie gejagt würde, fliegt sie die vier Treppen hinauf und klopft an Padre Pallamaris Türe.

»Herein!« ruft er mit seiner wohlklingenden Stimme.

Gerade als Capri das kleine viereckige, dunkle und dürftig eingerichtete Zimmer betrat, breitete er ein grobes, aber schneeweißes Linnen über den Tisch. »Ah!« rief er freudestrahlend aus und hielt ihr beide Hände entgegen, um sie zu begrüßen. Ihr Besuch war ihm jederzeit sehr willkommen.

Sie schlang ihre weichen Arme um seinen Nacken und küßte ihn zärtlich auf beide Wangen, was dem alten Manne ein großes Vergnügen bereitete.

»Ah, mia figlia, du wirst doch dem alten Padre die Freude bereiten, sein bescheidenes Mahl zu teilen. Es schmeckt ihm dann doppelt so gut.«

»Gerne,« rief sie heiter, legte Hut und Jacke ab und nahm auf einer Kiste Platz, welche die Stelle eines Stuhles vertrat. Der Alte ließ sich in seiner Beschäftigung nicht stören, brachte Teller und Löffel herbei und stellte dann ein kräftig riechendes Ragout auf den Tisch. Es war ein Gericht, wie es nur Italiener so leicht und wohlschmeckend zu bereiten wissen, bestehend aus allerlei Gemüsen, viel Öl und wenig Fleisch. Capri fand es, trotzdem sie es aus einem gesprungenen irdenen Teller und mit einem gewöhnlichen Metallöffel aß, köstlicher, als das reiche Frühstück, das ihr bei Mrs. Lordson auf Silberplatten gereicht worden.

Sie erzählte dem Alten vorläufig kein Wort von dem, was ihre Gedanken beschäftigte; erst, als dieser sein Mahl beendet, begann sie:

»Padre, ich habe ein großes Glück gemacht, und Sie sind der erste, der es erfährt; Papa weiß noch nichts davon.«

» Figlia mia!«

»Ich hoffe – nein, ich weiß es, daß Sie sich mit mir freuen werden, denn Sie sind mein treuester Freund.«

»Ja, Capri, das bin ich,« entgegnete er liebevoll und strich ihr zärtlich durchs Haar. »Schütte nur vor mir dein kleines Herz aus, ich bin verschwiegen wie das Grab.« Dabei schmunzelte er verständnisinnig.

»O Padre, ein großes Glück steht mir bevor!«

»Ich weiß, ich weiß! Du hast deinem alten Freunde zwar noch nichts erzählt, und doch hat er Augen, um zu sehen, und Verstand, um zu erraten, und ein Herz, um sich mit seinem Töchterchen und deren Zukünftigem, dem braven, tüchtigen und schönen Künstler, zu freuen.«

»Nein, nein, das ist es nicht!« rief Capri erbleichend. Sie war dem alten Manne beinahe böse, daß er ihr Geschick mit Marcus Phillips, den er hochschätzte, in Verbindung brachte.

»Nicht?« rief er erstaunt. Er konnte es gar nicht fassen, daß er nicht den Nagel auf den Kopf getroffen haben sollte. »Jetzt habe ich's!« rief er mit listigem Augenzwinkern nach einer Weile.

»Nun?«

»Du hast die große Entdeckung gemacht, daß du verliebt bist, aber der alte Pallamari hat es längst gewußt. O, er hat scharfe Augen, sehr scharfe Augen.«

»Wieder falsch geraten!« Sie mußte über seine enttäuschte Miene lachen, wenngleich ihr sehr wehmütig ums Herz war.

»Spanne mich also nicht länger auf die Folter, denn ich bin jetzt mit meiner Weisheit zu Ende.«

»Nun denn, ich verlasse Papa und gehe als Gesellschafterin zu einer reichen Amerikanerin.«

»Du gehst fort?« rief er aufspringend. »Das ist unmöglich, Capri!«

»Doch, padre mio. Aber ich verlasse die Euston Road und Papa nur, um nach Mayfair zu übersiedeln …Ist das keine gute Neuigkeit?« fragte sie, sich darüber wundernd, daß er sie nicht beglückwünschte.

»Ist die Dame reich?« erkundigte er sich nach einer Weile tiefen Nachdenkens.

»Sie hat mir hundert Pfund jährlich angeboten.«

»Sacré! Hundert Pfund!« Das dünkte ihm eine fabelhafte Summe, ein Vermögen. Er umarmte das Mädchen und lachte und weinte in einem Atem. »Du wirst eine feine Dame werden,« sagte er mit Tränen in den Augen, »meine kleine Capri wird eine feine Dame!«

Sie erzählte ihm, wann und wo sie die Amerikanerin kennen gelernt, wie gut dieser ›Die Bettelmaid‹ gefallen, wie sie ihren ersten Besuch in Mayfair abgestattet und von Mrs. Lordson aufs liebenswürdigste empfangen worden sei, von der kostbaren Einrichtung des Salons, von dem herrlichen Flügel …

Capris Erzählung dünkte ihm wie eins der wunderbaren Märchen aus ›Tausend und eine Nacht‹. Seit dem Tode seiner angebeteten Speranza lebte er einsam hier oben, kümmerte sich wenig um die Welt, und diese noch weniger um ihn. Sein Dachkämmerchen umschloß seine ganze Welt, an dieses knüpften sich seine Sorgen und Hoffnungen, seine Freuden und Leiden.

Capri, der es selbst weh ums Herz war, suchte den betrübten Alten durch eine komische Beschreibung der amerikanischen Witwe zu zerstreuen. Sie schilderte sie als eine sehr fette Dame, die gerne bunte Farben trug, sich mit Schmucksachen überlud und ›die Kunst anbetete‹. Sie ahmte die Redeweise ihrer neuen Gönnerin so naturgetreu nach, daß der gute Padre sich vor Lachen schüttelte, namentlich, als sie ihm die kleine Geschichte erzählte von der Venus von Medici, die ein fabelhaft freches Weib gewesen sein mußte, weil sie sich splitternackt hatte modellieren lassen.

»Hör' auf, Mädchen, sonst muß ich vor Lachen ersticken …Ums Himmels willen, halt ein! Das ist zu drollig!«

»Nicht wahr? Aber ich will Ihr teures Leben schonen.«

»Also sie betet die Kunst an?«

»Nicht nur das; sie will sogar eine der Priesterinnen im Tempel der Kunst werden. – Eine Schutzheilige der Genies!«

»Du scherzest.«

»Durchaus nicht. Man braucht heutzutage nichts von Kunst zu verstehen, um sich zum Patron derselben aufzuwerfen.«

»Sacré! Die Engländer sind aber seltsam!«

»Sie müssen kommen! …Ich werde ihr erzählen, daß Sie, caro mio padre, der Letzte der Familie Cenci sind, das wird ihr riesig imponieren, wenn ich ihr vorher Shelleys große Tragödie ›Die Cencis‹ vorgelesen haben werde … Überlassen Sie nur alles mir, ich werde Sie so herausstreichen, daß meine gute Amerikanerin sich's zur heiligen Pflicht anrechnen wird, Sie empfangen zu dürfen. Den Anfang habe ich heute schon gemacht,« schloß sie kichernd.


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