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6. Hauptmann Dankers.

Es war beinahe neun Uhr, als Marcus Phillips und sein Freund die dunkle und schmale Treppe, die zu Hauptmann Dankers' Wohnung führte, hinaufstiegen. Der Künstler klopfte an, und Capris Stimme ertönte:

»Wer ist da? – Ah, Marc und Herr Marrix! Bitte, bitte, einzutreten.«

»Unserem Versprechen gemäß,« begann Newton noch in der Tür.

»Kommen Sie, mir über den heutigen Nachmittag zu berichten?« unterbrach ihn Capri neugierig.

»So ist's,« entgegnete er und warf sich in einen Lehnstuhl, der vor dem Kamin stand.

»Papa ist noch nicht zu Hause,« bemerkte Capri in einem Tone, der deutlich erkennen ließ, wie angenehm ihr diese Tatsache sei, schob einen Schemel vors Feuer, nahm darauf Platz und schlang die Arme übers Knie, wie jemand, der sich's sehr bequem machen will.

Der Künstler, der an Capris linke Seite gerückt war, bedauerte es gar nicht, diese allein getroffen zu haben. Er fühlte sich behaglich in dem großen Stuhle, dessen Sitz unter seinem Gewichte so tief gesunken, daß er wie in einer tiefen Grube saß. Bei der mangelhaften Beleuchtung der kleinen Lampe erschien der Salon höchst gemütlich.

Das altmodische, hochlehnige Sofa, von dem man sich nur nach vielen vergeblichen Versuchen wieder zu erheben vermochte, wenn man aus Unkenntnis seiner Eigenschaften darauf Platz genommen, sah mit seinem dunkelroten Überzuge einladend aus; der abgenutzte Teppich, der bei Tageslicht abgebrauchtem Löschpapier glich, harmonierte jetzt sehr gut mit seinen Gefährten, den alten Roßhaarstühlen; das Klavier in der Ecke verlieh dem Zimmer einen vornehmen Geschmack. In dem Kamin loderte ein helles Feuer, dessen rötliche Flammen die davorsitzende Gruppe eigenartig beleuchteten.

»Ich bringe gute Nachrichten, Capri,« sagte Marcus und blickte in das bewegliche Antlitz des jungen Mädchens. Dabei entgingen seinem künstlerischen Auge die schönen Linien nicht, die das knappanliegende Gewand plastisch hervortreten ließ.

»Gute Nachrichten? Nun, so erzähle mir doch rasch!« rief sie voll kindlicher Ungeduld.

»Ich wünschte, du wärest im Atelier geblieben.«

»Ich auch. Aber ist das alles, was du mir zu berichten hast?« fragte sie neckisch.

»Mrs. Stonex gefielen meine Bilder, am lobendsten jedoch hat sie sich über die ›Bettelmaid‹ ausgesprochen.«

»Und der Dichter? Der leibhaftige, fashionable Dichter, was sagte dieser?«

»O, es erfreut das Auge!« kopierte jetzt Newton Marrix den Poeten so vorzüglich, daß sowohl Marc als Capri in ein schallendes Gelächter ausbrachen.

»Sagte das Mr. Martyn wirklich?«

»Wirklich und wahrhaftig, mein Fräulein.«

»Sie machen mich ganz stolz, am Ende schreibt er gar ein Gedicht über mich.«

»Dichterlaunen sind unberechenbar. Ja, am Ende verewigt er Sie in einem Sonette,« meinte Newton ironisch.

»Graf Basano lobte es auch sehr und sagte, es müsse ein Porträt sein,« fuhr der Künstler fort.

»O, ich freue mich so sehr!« rief sie mit vor Erregung strahlenden Augen, »habe ich dir nicht oft genug beteuert, Marc, daß mein Gesicht dir Glück bringen wird? Bin ich nicht eine gute Prophetin?«

»Auf welch günstiges Ende darf ich bei so gutem Anfange hoffen?«

»Ich hege die besten und schönsten Hoffnungen für deine Zukunft,« entgegnete sie, starr ins Feuer blickend.

In diesem Augenblicke loderte eine Flamme hellauf und beleuchtete mit ihrem rötlichen Scheine das gedankenvolle Antlitz Capris.

»Und für die deinige?« fragte er leise und verstummte dann. Er hätte gern hinzugefügt: »Wird sie nicht mit der meinigen verknüpft sein?«

Aber die Worte erstarben auf seinen Lippen, und Capri wiederholte:

»Die meinige? Ich weiß nicht, wie sie sich gestalten wird. Ich scheue mich, daran zu denken, und doch gäbe ich viel darum, wenn ich über mein jetziges Dasein einen Strich machen und ein neues Leben beginnen könnte,« sagte sie, ungeduldig mit den Füßen trippelnd.

»Glaube mir, Capri, das wird alles noch kommen, du stehst jetzt da, wo sich das Bächlein mit dem Flusse verbindet.

»Und niederblickend, sehe ich nur mein düsteres Gesicht in dem rauschenden Gewässer vor mir, während dort die ferne Strömung meine Zukunft nicht widerspiegelt.«

»Denkt doch nicht an die dunkle Zukunft, während euch die Gegenwart so rosig lächelt. Du hast doch noch nicht alles erzählt, Marc.«

»Gibt es noch mehr zu erzählen?« rief Capri mit vollständig verändertem Wesen. »Berichte mir die Neuigkeit, aber nur diese, Marc!«

»Das Beste kommt zuletzt.«

»Wie kannst du hier sitzen und spintisieren, wie es deine Gewohnheit ist, du Ungeheuer, während du mir noch etwas Angenehmes mitzuteilen hast? …hast du ein Bild verkauft?«

»Nein!«

»Nun – – –?«

»Ich werde wahrscheinlich aufgefordert werden, in der Grosvenor-Galerie eines meiner Bilder auszustellen, und wenn dein Vater und du keine Einwendung erheben, möchte ich die ›Bettelmaid‹ hinschicken.«

Capri sprang wie elektrisiert auf, klatschte freudig in die Hände und rief:

»O, Marc, lieber Marc, ich könnte vor Freuden tanzen! Das ist wirklich eine erfreuliche Neuigkeit! Wie konntest du es nur übers Herz bringen, so lange hier zu sitzen, ohne es mir zu sagen? …Wie kam das alles? Jetzt mußt du mir haarklein berichten, schnell, schnell!«

»Mrs. Stonex gefiel das Bild,« begann der Künstler mit erzwungener Ruhe, denn der Anblick dieses in seiner Erregung entzückenden Wesens ließ alle seine Pulse höher schlagen. »Ich glaube, es war dein Gesicht, das sie entzückte. Sie ist in Kunstkreisen sehr einflußreich und hat mich gefragt, ob ich ausstellen möchte, wenn sie mir eine Einladung von der ›Grosvenor‹ erwirken könnte.«

»Mrs. Stonex muß eine außerordentlich liebenswürdige Dame sein; ich fühle das, trotzdem ich sie nicht kenne. Sie wird dein Schutzgeist, Marc.«

»Vielleicht ist sie es schon.«

»Wenn ich daran denke, daß ›Die Bettelmaid‹ in der Ausstellung hängen, daß dein Name im Kataloge stehen, ganz London bewundernd mein Bild anstarren und meinen Namen von Mund zu Mund flüstern wird, stockt mir der Atem vor Freude! …Das ist ja beinahe ebensoviel wert, wie wenn ich eine fashionable Schönheit wäre, deren Photographie in allen Schaufenstern, zwischen irgendeinem bekannten Bischofe und einer berühmten Ballettänzerin ausgestellt ist. Und zu wissen, daß er so rasch gekommen, denn ich wußte, daß er früher oder später kommen müsse!« sprudelte sie, die Worte überstürzend, hervor.

»Wer?«

»Der Erfolg.«

»Für dich oder für mich?«

»Für uns beide.«

»Aber wird dein Vater gestatten, daß ich das Bild einschicke?« fragte der Künstler zweifelnd.

»Gestatten! Das will ich meinen, überhaupt, wenn es ihn nichts kostet; aber ich würde nichts darnach fragen, selbst wenn er es nicht gestatten sollte,« sagte sie mit einer Entschiedenheit und Festigkeit, wie sie der Künstler noch nicht an ihr wahrgenommen hatte. Nach einer kurzen Pause fuhr sie sanfter fort: »Dies ist der erste Schritt in meinem neuen Leben.« Dabei hatten ihre Augen einen ängstlichen Ausdruck.

»Welcher?« fragte Newton, der das Mädchen mit stummem Erstaunen beobachtet hatte.

»Die Ausstellung meines Porträts in der besuchtesten Gemäldegalerie.«

»Aber woher wird das Publikum wissen, wessen Gesicht ›Die Bettelmaid‹ trägt?«

»Das fragen Sie, ein gewiegter Schriftsteller? In weniger als einer Woche wird es die geschwätzige Presse entdeckt und ihren neugierigen Lesern mitgeteilt haben.«

Capri schritt unruhig im Zimmer umher, plötzlich blieb sie vor dem Maler stehen.

»Ich weiß, Marc, daß es der erste Schritt ist. Der Vorhang wird aufgehen, und das Spiel kann früher, als ich zu hoffen gewagt, beginnen.«

Sie kauerte vor dem abgetretenen Kaminteppiche zu seinen Füßen nieder und blickte ernst in das Feuer. Jede Spur von Aufregung war aus ihrem schönen Gesichte verschwunden, ihre dunklen, mandelförmigen Augen leuchteten vor Freude.

»Ich werde beinahe verrückt vor Entzücken, wenn ich an diese Aussicht denke,« flüsterte sie vor sich hin, als ob sie die Anwesenheit der Freunde vergessen hätte. »Wie sie sich an das Bild herandrängen! ›Capri Dankers‹ geht's von Mund zu Mund. O Marc,« wandte sie sich plötzlich wieder an diesen. »Du hast mich aber auch schön gemacht auf dem Bilde! Du wirst sehen, daß alle illustrierten Zeitungen Stiche davon bringen, alle Photographen es in ihren Fenstern ausstellen, alle Kritiker es besprechen werden. O, dieses Glück! Auch für dich, mein Freund, wird es von großem Nutzen sein, denn es wird dich bekannt machen. Die Götter sind doch gut und die Menschen nicht halb so schlecht, wie man oft denkt.«

Sie lachte hellauf, und es lag ein so kindliches Frohlocken darin, daß der Maler den Egoismus, der aus ihren Worten sprach, überhörte. Ihn sowohl als auch Marrix erfreute ihre Lebhaftigkeit, und sie beobachteten gespannt den fortwährenden Wechsel im Ausdrucke ihres Gesichtes, der jeden ihrer Gedanken widerspiegelte. Marcus hatte sie noch niemals so berückend gefunden, wie am heutigen Abend. Als sie jetzt wieder plötzlich aufsprang und mit ihren schlanken, weichen Fingern durch sein Haar fuhr, fühlte er, wie sein Blut heiß aufwallte, und er mußte alle Selbstbeherrschung aufbieten, um sie nicht stürmisch in seine Arme zu schließen.

»Komm, Newton, es ist spät, wir müssen gehen,« sagte er gepreßt.

»Was? Du glaubst doch nicht, daß ich dich an einem solchen Abend so schnell entlasse? Nichts da. Wir wollen den Göttern ein Kaldaunenopfer darbringen und ihr Jünglinge noch nebenbei ein Trankopfer, bestehend aus Bier. Nur wieder Platz genommen, meine Herren! Gleich bin ich wieder hier!«

Noch ehe die beiden antworten konnten, war sie verschwunden und rannte die Treppe hinunter, um mit ihrer Hausfrau wegen des Abendbrotes zu verhandeln. Vor deren Zimmertür blieb sie einen Augenblick stehen, um sich zu beruhigen. Sie strich ihr Haar zurück, glättete ihren Rock und klopfte bescheiden an. Als sie die Schwelle überschritt, war sie nicht mehr das impulsive, lebhafte Kind, sondern eine gesetzte junge Dame. Mrs. Fums flickte gerade Wäsche, während ihre beiden Töchter ihre Aufgaben für den folgenden Tag lernten. Capri, aus Erfahrung wohl wissend, daß sie das Herz der Mutter am leichtesten erobere, wenn sie gegen deren Kinder liebevoll war, neigte sich zu dem älteren Mädchen, küßte es auf die Wange, erkundigte sich angelegentlich, was es lerne, und bat es, falls es ihr mit den Vokabeln nicht zusammenginge, nur zu ihr hinaufzukommen, sie wolle ihr dieselben schon beibringen. Jetzt erst trat sie zur Alten heran und brachte ohne Zögern ihren Wunsch vor:

»Droben sind zwei Herren, die Papa eine gute Nachricht brachten, und da ich weiß, daß er mir sehr böse wäre, wenn ich sie wegließe, ehe er sie gesprochen, mußte ich sie bitten, zum Abendbrot zu bleiben.«

Sie sagte das in einem Tone, der deutlich erkennen ließ, daß ihr die beiden nicht sehr willkommen seien, sie fuhr auch weiter so fort:

»Jetzt muß ich Sie auch noch belästigen. Wollten Sie nicht die große Freundlichkeit haben, die Kaldaunen, die ich gekauft habe, zuzubereiten und etwas Bier holen zu lassen?«

»Wenn Sie mich nicht darum bäten, Fräulein Capri, würde ich es wahrlich nicht tun. – Übrigens habe ich Ihrem Herrn Papa die Rechnung bereits zweimal diese Woche hinaufgeschickt und er hat nicht einmal Notiz davon genommen,« entgegnete Frau Fums unwillig.

»Seien Sie nur nicht böse darüber; ich versichere Ihnen, Papa sagte mir heute, daß er es sehr bedaure, Sie nicht befriedigen zu können,« beruhigte sie Capri, ihre Phantasie zur Hilfe nehmend; »die nächste Woche wolle er die ganze Summe auf einmal bezahlen.«

»Wenn er wenigstens gekommen wäre, um sich zu entschuldigen!«

»Sie wissen, es ist ihm stets peinlich, über unbezahlte Rechnungen zu sprechen. Er schämt sich,« sagte Capri in ihrem sanftesten Tone, und Mrs. Fums, die bislang beim Hauptmanne noch nichts bemerkt hatte, was einem Zartgefühle ähnlich gesehen hätte, war liebenswürdig und gutmütig genug, seiner Tochter nicht widersprechen zu wollen. Sie erhob sich, um die Kaldaunen zuzubereiten.

Capri nickte ihr dankbar lächelnd zu, neigte sich zur jüngeren Tochter, küßte sie auf die Wange und schlüpfte wieder zur Türe hinaus. Während sie die dunkle Treppe hinaufeilte, lächelte sie über ihre eigene Heuchelei und murmelte:

»O, du gutes, albernes, altes Weib, wenn du wüßtest, wie gleichgültig mir deine beiden pausbäckigen Töchter sind und wie mich mein jetziges erbärmliches Leben anekelt! Aber es soll am längsten gedauert haben!«

»So, da bin ich wieder! Ich sehe, ihr habt euch während meiner Anwesenheit nicht gelangweilt,« sagte sie, eintretend. »Wenn ihr wollt, spiele ich euch etwas vor, bis Papa und das Abendbrot kommen.«

»Das ist reizend!« rief Marc und schob den niederen Sessel vors Klavier.

»Was soll ich spielen?« fragte sie in ihrer lebhaften Weise.

»Improvisieren Sie wieder einmal,« bat Newton, der dieses ihr Talent kannte.

»Ach ja, wir werden mäuschenstill zuhören,« versicherte der Maler.

»Nun gut; ich hoffe, daß mir die Inspiration kommen wird.«

»Sie muß kommen, wenn wir hier sind,« rief der Schriftsteller und schürte das Feuer, das fast ganz heruntergebrannt war; die aufleuchtende Flamme warf einen hellen Schein auf Capris schelmisch lächelndes Gesicht. Sie schlug die Tasten mit festen, sicheren Fingern, und Ton vermählte sich mit Ton.

Man glaubte anfangs, aufjubelnde Triumphrufe zu vernehmen, doch allmählich gingen sie in sanfte, harmonische Klänge über, die dann in einen schrillen Akkord ausklangen, der sich wie ein erstickter Seufzer in der Kehle eines Sängers anhörte. Unter dem Einflusse der Musik schloß Marcus die Augen, lehnte sein Haupt auf die Lehne seines Stuhles zurück, und seltsame Gedanken kreuzten sein Gehirn. Doch plötzlich sprang Capri wieder zu einer aufrührerischen, marschähnlichen Tonart über, um dann, ihrem Impuls folgend, in sanften, träumerischen Tönen auszuklingen, die wieder wilden, leidenschaftlichen weichen mußten. So ging es eine Weile fort, von der höchsten Leidenschaft bis zur tiefsten Melancholie, bis sie schließlich mit einem schrillen disharmonischen Akkord endete. Es war eine höchst charakteristische Musik, und die Zuhörer empfanden es auch, die ihr wirklich mäuschenstill und wie gebannt lauschten; die ganze Eigenart des ungewöhnlichen Geschöpfes offenbarte sich in ihr.

»Für heute ist's genug,« rief Capri aufspringend, »denn ich fühle, daß, wenn ich noch länger fortführe, ich entweder laut auflachen oder weinen müßte, und beides ist vor dem Abendbrot nicht zuträglich.« Trotzdem sie sich bemühte, zu lächeln, klangen ihre Worte beinahe pathetisch.

»Weißt du, mein lieber Marc,« fuhr sie ernst fort, »ein Abend wie der heutige wiederholt sich vielleicht in deinem ganzen Leben nicht wieder; all deine späteren Triumphe – und ich wünsche dir deren sehr viele – werden der Frische und Neuheit entbehren, heute beseelt dich eine Empfindung, die dir später verloren gehen wird; das unerwartete Glück überwältigt dich, denn du hast eine Zukunft vor dir.«

»Ich werde den heutigen Abend niemals vergessen,« entgegnete er bewegt und wandte seinen Kopf nach der Richtung, wo sie im Schatten stand.

Trotz des matten Lichtes bemerkte er in ihren feuchtschimmernden Augen einen Ausdruck, der ihn beseligte; sie senkte rasch die Lider, denn sie wagte nicht, seinem Blicke zu begegnen. Nur einen Augenblick verharrte sie in dieser Stellung, dann nahm sie aus einer Schublade ein Tischtuch, bedeckte den Tisch damit und stellte die Lampe darauf.

»Ich glaube nicht, daß wir auf Papa warten können, er ist nie sehr pünktlich; übrigens wird es ohne ihn auch viel gemütlicher sein,« wagte sie zu sagen und blickte Marrix von der Seite an, um seine Meinung zu ergründen. Dieser war zwar auch ihrer Ansicht, denn er hegte durchaus keine Sympathie für den Hauptmann, aber er hielt diesmal ausnahmsweise seine Zunge im Zaume. Kurz darauf wurde das Abendbrot in Form einer Schüssel von geschmorten Kaldaunen aufgetragen, die einen kräftigen Geruch verbreiteten. Das Kleeblatt war gerade dabei, sich zu Tische zu setzen, als auf der Treppe Schritte hörbar wurden.

»Das ist Papa,« sagte Capri ärgerlich, aber sie faßte sich sofort, als er eintrat, und rief ihm freundlich zu: »Papa, wir haben bis jetzt auf dich gewartet.«

»Wozu hast du das getan, mein Herz?« fragte er in zärtlichem Tone, wie dies vor Fremden stets seine Gewohnheit war, und küßte sie auf die Stirn.

Ein unangenehmer Alkoholgeruch ließ Capri zurückweichen, sie blickte zu ihm auf und bemerkte sofort, daß seine Nasenspitze gerötet und seine Haltung sehr würdevoll war, das sicherste Zeichen, daß er über den Durst getrunken, denn je mehr er trank, desto würdevoller pflegte er sich zu benehmen; mit jedem Glase wuchs die Erinnerung an seine einstige Größe, mit jeder Flasche das Bewußtsein seiner Wichtigkeit.

»Ach, wie geht es Ihnen, meine Herren?« wandte er sich an die beiden, als ob er sie jetzt erst bemerkt hätte, verbeugte sich zeremoniös und reichte ihnen die Hand. Seine Anwesenheit schien auf alle drei bedrückend zu wirken, denn die gehobene Stimmung war sofort verflogen und machte einer unbehaglichen Platz. Der Hauptmann benahm sich gegen die beiden Freunde gewöhnlich wie ein wohlwollender Gönner, nur wenn er in der ›traurigen Lage‹ war, ihre Hilfe in Anspruch nehmen und sie in ihren Privatwohnungen aufsuchen zu müssen, veränderte er sich ihnen gegenüber ganz merkwürdig: dann stellte er sich stets als das Opfer seiner hartherzigen, gefühllosen, unedlen Mitmenschen hin, das mit Anstand und Geduld das schwere Kreuz der pekuniären Sorgen zu tragen wisse, und verwandelte sich plötzlich in einen zärtlichen Vater, der die Hilfe anderer niemals für sich in Anspruch nehmen würde, aber sein einziges ›heißgeliebtes‹ Kind, die ›Freude seines Alters‹, nicht zugrunde gehen lassen kann. Nur um von Capri Not und Elend fernzuhalten, bringe er es über sich, seinen Stolz zu demütigen und gute Freunde um Darlehen zu ersuchen. Sobald ihm dies gewährt wurde, verwandelte er sich wieder in einen weisen Ratgeber und machte den unerfahrenen Jüngling darauf aufmerksam, wie launisch das Glück ist und welche Wechsel die Zeit mit sich bringt. Er wisse das aus Erfahrung, denn auch ihm sei Fortuna einst hold gewesen, er habe eine bedeutende Rolle in der Welt gespielt, Reichtum besessen und beides ohne eigenes Verschulden wieder verloren. Er trage die Schicksalstücke wie ein Mann, von der Hoffnung beseelt, das verlorene wieder zu erringen und das kleine Darlehen mit Zinseszinsen zu bezahlen; denn er, Hauptmann Dankers, vergesse empfangene Freundschaftsdienste nie.

»Ich habe die Herren gebeten, unser Mahl zu teilen,« sagte Capri, nachdem ihr Vater mit der Herablassung eines Grandseigneurs ihnen versichert, daß er sich freue, sie zu sehen.

»Es gereicht mir zur Ehre, daß die Herren deine Einladung angenommen haben,« entgegnete er mit gemessener Höflichkeit.

»Sie sind sehr freundlich,« bemerkte Marcus, sich verbeugend. Newton blieb stumm.

Nach dieser angenehmen Einleitung bemühte sich Capri, ihre Laune wiederzugewinnen, sie schenkte den Herren Bier ein, und nachdem sich alle mit Speise bedient, begann sie:

»Marcus hat dir eine angenehme Mitteilung zu machen.«

»Jede Mitteilung, die Herr Phillips zu machen hat, soll mir willkommen sein,« sagte er hochmütig. Er hatte es vermieden, ihn beim Taufnamen zu nennen, was Capri übelnahm, indem sie schroff bemerkte:

»Ich werde ausgestellt.«

»Was fällt dir ein!« rief der Hauptmann, sie erstaunt anstarrend.

»Ja, es ist bereits alles geordnet,« fuhr sie ruhig fort, »ich werde ausgestellt!«

»Und zwar durch Mr. Phillips' Vermittlung,« fügte Newton boshaft hinzu.

Der Hauptmann tat, als ob er die Bemerkung überhört hätte, und wandte sich wieder an Capri:

»Erkläre dich doch, mein Liebling, und scherze nicht mit meinen heiligsten Gefühlen.«

»Das fällt mir gar nicht ein,« entgegnete sie schnippisch und von seinem erkünstelten Schrecke belustigt.

»Aber, mein lieber –«

»Ich werde ausgestellt – an der Wand der Grosvenor-Galerie.«

»Natürlich nur mit Hauptmann Dankers' Erlaubnis,« setzte der Maler vermittelnd hinzu. »Ich werde nämlich zur diesjährigen Saison eine Einladung bekommen und möchte gern ›Die Bettelmaid‹ schicken.«

»Welche mein leibhaftiges Ich ist,« fügte Capri hinzu.

Der Hauptmann legte sofort Messer und Gabel nieder, reichte Marcus seine zitternde Hand und sagte: »Mein lieber Herr, lassen Sie mich Ihnen als Freund, ich darf wohl sagen, als alter Freund, gratulieren.«

Diesmal kamen seine Worte aus aufrichtigem Herzen, was konnte er nicht von dem berühmt gewordenen Künstler erwarten, hatte ihm doch der mittellose hie und da mit einigen Pfund ausgeholfen!

»Und freust du dich nicht, mein Bild in die Öffentlichkeit gelangen zu lassen? Du hast doch ›Die Bettelmaid‹ gesehen, nicht?« fragte Capri vom anderen Ende des Tisches.

»Ja, ja, mein Kind,« entgegnete der Hauptmann zögernd; er war wohl mehrere Male in Marcs Atelier gewesen, um, wie er Capri sagte, das Bild zu bewundern, in Wirklichkeit hatte er jedesmal kleine Anleihen bei dem Künstler gemacht. Er fürchtete, daß dies jetzt an den Tag kommen könnte, und fuhr deshalb fort: »Ich habe es in seinen ersten Stadien gesehen und hielt es damals schon für ein schönes, nein, für ein wunderbares Gemälde.«

»Das ist es auch,« sagte Capri kurz, denn aus dem Benehmen ihres Vaters erriet sie, daß noch etwas Unangenehmes folgen würde, und sie wollte ihm zeigen, daß sie auf ihrer Hut sei. Ihre Voraussetzung war eine richtige, denn nach einer kurzen Pause begann er wieder:

»Ich kann mich als Vater nicht strenge genug gegen die moderne Grille, weibliche Schönheiten auszustellen, aussprechen. Es ist eines der ungesundesten Zeichen unserer Zeit.«

Da keiner der Anwesenden ihm antwortete, setzte er nach einer kleinen Pause hinzu:

»Diese Grille, meine Herren, zerstört die Heiligkeit des Familienlebens.« Er blickte von dem einen jungen Manne zu dem anderen, um zu ergründen, welchen Eindruck seine Worte gemacht, die er mit einer pathetischen Handbewegung begleitet hatte.

Capri hielt mit Mühe eine scharfe Entgegnung zurück; sie wußte nur zu gut, daß ihr Vater so hochtrabende Redensarten nur im Munde führte, um zu widersprechen und Marc gegenüber eine Gönnermiene aufzusetzen.

»Bitte, Marc, schneide mir ein Schnittchen Brot, und auch Papa kannst du eines geben, denn ich sehe, daß er keines mehr hat.«

Diesen Gemeinplatz gebrauchte Capri nur, um irgendetwas zu sagen, denn der Ärger über ihren Vater drohte sie zu ersticken.

»›Die Bettelmaid‹ wird die Heiligkeit Ihres Familienlebens nicht erschüttern,« warf Marrix jetzt sarkastisch ein, »da sie nicht ein wirkliches Porträt ist und nur wenige Besucher der Galerie das Original kennen werden.«

»Man wird es für irgendein bezahltes Modell halten, das zwei Schillinge und eine Tasse Kaffee pro Stunde bekommt,« ergänzte Capri.

»Aber, Kind,« sagte der Hauptmann vorwurfsvoll, »du sprichst zu unbedacht.« Er fühlte sich schon bei dem bloßen Gedanken, daß jemand seine Tochter für ein bezahltes Modell halten könnte, in seiner Würde verletzt. »Ich habe nur eine Geschmacksverirrung unserer Zeit getadelt, der die Frau, die nur den geringsten Anspruch auf Schönheit macht, unterliegt. Wozu braucht sie ihr Bild auszustellen, ihr Gesicht der Bewunderung der gemeinen Menge preisgeben und ihren Namen von aller Lebemänner Mund aussprechen zu lassen?« schloß der Hauptmann mit der Erhabenheit, die seine strenge Tugend ihm verlieh.

»Deine Anschauungen würden den Beifall des Publikums der vierten Theatergalerie finden,« rief das Mädchen erregt.

Ihr Vater antwortete nicht gleich, sondern blickte sie nur zornig an, doch erinnerte er sich plötzlich, daß Gäste anwesend seien, und sein Zorn verwandelte sich alsbald in Pathos: »Du beleidigst deinen alten Vater, mein Kind.«

»Nein, Papa, das war nicht meine Absicht,« sagte sie entschuldigend. Sie ärgerte sich, ihre Fassung verloren zu haben. »Wozu eine Szene? Ich war wieder einmal unartig, ich gestehe es; stecke dein Taschentuch ein, ich mag heute keine Tränen sehen, liebes Väterchen.« Damit erhob sie sich, huschte leise hinter den Stuhl des Tiefgekränkten, schlang zärtlich ihren vollen Arm um seinen Hals und hauchte einen Kuß auf seine Stirn. Das Taschentuch war jedoch zu der Rolle eines gekränkten Vaters unentbehrlich, und er drückte es tief seufzend an seine Augen.

»Ich finde Ihre Anschauungen über die Aufstellung von Porträts ganz begreiflich,« suchte Marc ihn zu besänftigen.

»Ja, ja,« entgegnete er mit dumpfer Stimme, »aber daß meine Tochter, mein einziges Kind, sich hinreißen läßt, solche Bemerkungen zu machen und meine Gefühle so zu kränken, verletzt mich mehr, als ich auszudrücken vermag.«

»Es war wirklich nicht bös gemeint, Papachen; du weißt, wir Frauen sprechen oft, ohne zu überlegen, namentlich ich. Verzeihe mir's diesmal,« bat sie zerknirscht.

»Ich bin überzeugt, daß es bei dir nicht Böswilligkeit war, mein Liebling,« entgegnete er, durch ihre Entschuldigung besänftigt.

»Ganz gewiß nicht.«

»Meine Privatansicht über die Ausstellung von weiblichen Porträts nehme ich zwar nicht zurück, aber in diesem besonderen Falle unterdrücke ich alle Bedenken, wie lebhaft sie auch sein mögen, im Interesse meines jungen Freundes, des begabten, genialen Malers,« fuhr er nicht nur ganz besänftigt fort, sondern auch bemüht, den Wünschen Capris und ihrer Freunde gerecht zu werden, – ersah er doch auch für sich einen Vorteil daraus.

Die allgemeine Stimmung besserte sich merklich. Marc dankte dem Hauptmann für diese freundliche Anerkennung seines Talentes, dieser wieder nötigte ihn, noch etwas Kaldaunen zu nehmen, und bediente sich dann selbst.

Newton Marrix, der sein Mahl beendigt hatte, erzählte die Handlung seines neuen Lustspieles, das demnächst in einem Vorstadttheater zur Aufführung gelangen sollte. Der Hauptmann wurde immer heiterer, ließ noch Bier holen und erzählte Anekdoten, die alle schon mindestens ein dutzendmal gehört hatten, aber dennoch belachten, um ihm eine Freude zu bereiten. – Dann kam er auf seine Jugendzeit zu sprechen, auf die Erfolge, die er stets bei Damen gehabt. Auf die reizende Schauspielerin Helene Faucit hatte er sogar eine Ode gedichtet, die er lebhaft gestikulierend vortrug. Diese Ode ließ er in Goldbuchstaben auf weißen Atlas drucken und versteckte sie sorgfältig in einem kostbaren Blumenstrauße, den er ihr aus seiner Loge zu Füßen warf, während sie in ihrer Glanzrolle spielte.

Auf einem ihm ganz unerklärlichen Wege gelangte sie in die Spalten einer Wochenschrift, dann wieder sprach man im ›White Club,‹ dessen Mitglied er war, darüber, daß er der Verfasser sei, und neckte ihn; schließlich kam sein Name der Schauspielerin zu Ohren, und diese lächelte ihm dankbar in seiner Loge zu, zum größten Verdrusse der anderen Offiziere.

»Ja, meine lieben Jungen, ich war ein toller Bursche, das kann ich euch sagen, aber jetzt bin ich ein Greis geworden und gehöre zum alten Eisen.«

Die jungen Leute versicherten ihm, daß er sehr gut erhalten sei und es noch mit jungen Männern aufnehmen könne. Dieses Kompliment steigerte seine gute Laune, er erhob sich mit seinem halbgeleerten Glase, um auf Marcus Phillips' Gesundheit zu trinken.

»Es ist mein Vorrecht als Hausherr, das Glas auf das Wohl meiner Gäste zu erheben,« begann er mit einer Feierlichkeit, als ob er bei dem Antrittsdiner des Lordmayors zu sprechen hätte.

»Am Vorabend des großen Erfolges meines talentierten Freundes erhebe ich das Glas mit dem Wunsche, daß Ruhm und Anerkennung ihm in so reichem Maße zuteil werden, wie ich es ihm gönne. Den Musen, die ihn so lange begünstigt haben, mögen sich noch Fortuna und die göttliche Venus zugesellen und …und …und ich wünsche Ihnen Glück und Erfolg, mein Sohn,« schloß er plötzlich, weil er nicht weiter konnte.

Marcus dankte in einfachen Worten für die Wünsche und sagte, daß er diesen Abend niemals vergessen werde.

»Ich glaube,« bemerkte jetzt Capri, die sich schweigend verhalten hatte, weil ihre eigenen Gedanken sie überwältigten, »sie sind der Prolog zu dem Spiele, das demnächst beginnen wird.«

»Warum glaubst du das?« fragte der Künstler bewegt. Sie standen jetzt nebeneinander vor dem Kamin, während Newton und der Hauptmann sich vor dem Rauchtische die Zigarren anzündeten, die ersterer mitgebracht.

»Ich weiß es nicht, aber ich fühle, daß der Vorhang sich jeden Augenblick heben und die Vorstellung, deren Helden wir sein werden, sofort beginnen kann.«

»Dann hoffe ich, daß es ein Lustspiel sein wird,« sagte der Maler, in ihr bleiches Antlitz blickend.

»Ich auch von ganzem Herzen,« entgegnete sie sehr ernst und reichte ihm die Hand, die er einige Minuten in der seinigen behielt. Newton Marrix näherte sich ihnen, um das Signal zum Aufbruche zu geben, worauf der Hauptmann für den Besuch dankte und sich unter zeremoniösen Verbeugungen verabschiedete. Capri begleitete die Freunde bis zum Treppenabsatze, um ihnen hinabzuleuchten. Sie hielt die kleine Lampe in die Höhe; die Strahlen fielen auf ihr leicht vorgeneigtes Haupt und beleuchteten ihr dunkles Gesicht seltsam. Ringsum von tiefen Schatten umgeben, sah sie aus wie eine Madonna in ihrem Schreine. Marc wandte sich auf der Treppe noch einmal nach ihr um, ihre Augen begegneten sich, und er meinte in ihren feuchtschimmernden einen Ausdruck zu lesen, der ihn freudig erbeben machte.


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