Balduin Möllhausen
Der Schatz von Quivira
Balduin Möllhausen

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Sechsunddreißigstes Kapitel.

Schluß.

Die Nacht war bereits vorgeschritten, als Perennis in Lucretia's Begleitung Wegerichs Wohnung verließ. Wegerich selber leuchtete ihm. Auf dem Flurgang trat ihnen die Marquise entgegen. Von der röthlichen Beleuchtung voll getroffen, erschien ihr Antlitz weniger bleich; dagegen verlieh ein schmerzliches Lächeln demselben einen unbeschreiblichen Ausdruck tiefer Wehmuth. Vor Lucretia hintretend, küßte sie dieselbe auf die Stirn.

»Ueberlassen Sie mir Ihren Matthias – oder vielmehr Perennis auf ein Stündchen,« bat sie mit bewegter Stimme, »ich habe Manches mit ihm zu besprechen, was dann auch Ihnen kein Geheimniß mehr bleiben wird. Und gerade unsere jetzige Stimmung ist am geeignetesten, ihm das anzuvertrauen, was ich nicht mit mir in's Grab nehmen möchte. Aber nicht hier, nein, nicht innerhalb meiner vier Wände,« fügte sie hinzu, als Lucretia zurücktrat, »mit dem Dache über mir würde ich fürchten, zu ersticken. Lassen Sie uns hinausgehen ins Freie, hinab an den Strom; er ist verschwiegen, er mag immerhin Zeuge unseres Gespräches sein.«

Dem voraufleuchtenden Wegerich folgend, bewegte sie sich auf die Treppe zu. In der Hausthür trat Perennis an ihre Seite. Bereitwillig nahm sie den ihr gebotenen Arm, und sich schwer auf denselben stützend, überließ sie es Perennis, behutsam die ebensten Wegestrecken auszuwählen.

»Zum alten Ginster,« sprach sie auf dem Rheinufer. Es waren die einzigen Worte, welche zwischen ihnen auf dem Wege laut wurden. Ginster war eben im Begriff sein Netz zu heben, als die Marquise, sich hinter ihm auf eine der natürlichen Rasenbänke niederließ und Perennis aufforderte, an ihrer Seite Platz zu nehmen. Ginster hatte unterdessen das Netz wieder in die Tiefe gesenkt.

»Gönnen Sie den Fischen ein Weilchen Frieden,« rief die Marquise ihm zu, »setzen Sie sich zu uns, damit Sie Zeugniß ablegen, ob ich ein Wort zu viel, oder eins zu wenig spreche.«

Schweigend trat Ginster von seinem Damm. Einen kurzen aber herzlichen Gruß richtete Perennis an ihn, und nachdem der alte Mann, der kaum Erstaunen über das Wiedersehen verrieth, sich vor ihnen auf eine Art Weidenschütte geworfen hatte, fuhr die Marquise fort:

»Ginster, es ist nichts mit dem, was mir so viele Jahre hindurch vorschwebte. Ich weiß es jetzt von ihm selbst, und wer im Begriff steht, vor seinen letzten Richter hinzutreten, der nimmt keine Lüge mit hinüber.«

»Ich hab's nimmer glauben wollen,« antwortete Ginster eintönig, »Blut hätte nicht von Blut gelassen.«

»Nun ja, Ginster, Sie wissen jetzt, woran wir sind, aber hier ist Jemand, dem wir einen klaren Blick nicht vorenthalten dürfen, um unser Beider willen.«

Sie schwieg, wie um sich zu einer vor ihr liegenden schweren Aufgabe zu rüsten. Die Luft war klar; vom Himmel funkelten die Sterne nieder. Als dunkle Fläche dehnte der breite Strom sich aus. Schwarzen Silhouetten ähnlich erhoben sich auf seiner anderen Seite die mit Bäumen bepflanzten Ufer und weiter aufwärts die Felsenhöhen. Geheimnißvoll gurgelten und sprudelten die eilenden Fluthen zwischen den glatten Strandkieseln und den Netzreifen. Hin und wieder strich ein Luftzug flüsternd durch die Weidenpflanzung.

»Was Ihr verstorbener Onkel Ihnen anvertraute,« hob die Marquise endlich an, »und was in dem Ausspruch gipfelt: So wurden zwei Herzen getrennt, die für einander bestimmt gewesen: es ist so wahr, wie das ewige Leuchten der Himmelskörper dort oben, so wahr, wie die treue selbstlose Liebe, mit welcher ich an dem Dahingeschiedenen gehangen habe. Und hätte, als wir auseinander gingen, nur ein versöhnlicher Blick aus seinen Augen mich getroffen – doch dahin, Alles dahin!

»Als wir uns in dem Bade kennen lernten, befand ich mich auf einer Erholungsreise, und um nicht belästigt zu werden, hatte ich mich als Fräulein Marcusi in die Badelisten eintragen lassen. Niemand ahnte, daß es die Tänzerin Graniotti, welche dort in behaglicher Zurückgezogenheit lebte, am wenigsten aber der gelehrte Herr Rothweil, der mich in seiner sinnigen Weise so wunderbar zu fesseln verstand. In demselben Maaße, in welchem unser Verkehr einen innigeren, bedeutungsvolleren Charakter gewann, ich aber seine ernsten Grundsätze kennen und ehren lernte, wuchs meine Scheu, ihm meinen wahren Stand zu verrathen. Ich ging davon aus, daß seine aufrichtigen Huldigungen nur der Lucile Marcusi dargebracht wurden, also nie der Tänzerin Graniotti gegolten hätten. In meiner tiefen Hinneigung zu ihm und in meiner Besorgniß, ihn sich von mir wenden zu sehen, behütete ich mein Geheimniß ängstlich, anstatt mich ihm frei zu offenbaren. In blindem Wahn hoffte ich, daß es mir, durch irgend einen unvorhergesehenen Zufall begünstigt, gelingen würde, ohne Aufsehen meinem Beruf zu entsagen. Wie meine Hoffnung mit einem Schlage vernichtet wurde, wissen Sie. Was ich aber an jenem Abend litt, als ich ihn unter den Zuschauern entdeckte, meine Entdeckung dagegen zu verheimlichen suchte, ist unbeschreiblich. Was mir mit Rücksicht auf jenen verhängnißvollen Abend sonst noch vorgeworfen wurde, lasse ich unerörtert. Es beruht einerseits darauf, daß ich gezwungen war, als Künstlerin dem mir gespendeten Beifall Rechnung zu tragen, andererseits, daß ein, den Bühnenverhältnissen fremder Gelehrter keinen Begriff von den Verpflichtungen einer Tänzerin hatte. In meiner Verzweiflung beschloß ich, Denjenigen aufzusuchen, der sich von mir hintergangen wähnen mußte. Bei meinen Erkundigungen nach ihm begrüßte ich mit wilder Freude die Nachricht über seine Beziehungen zu dem Knaben, welchen er als seinen Adoptivsohn bezeichnete. Glaubte ich doch dadurch in die Lage versetzt zu sein, ihm mit einer Auflage zuvorkommen und damit seinem Vorwurf des mangelnden Vertrauens die Spitze abbrechen zu können. Wie ich mich täuschte, wissen Sie. War ich vorher von der Wahrheit der in Umlauf befindlichen Gerüchte überzeugt, so geschah von seiner Seite nicht nur nichts, dieselben zu widerlegen, sondern es konnte sein Benehmen auch nur dazu dienen, dieselben zu bestätigen. Und dennoch, wie gern wäre ich auch über diese Angelegenheit hinweggegangen, hätte jenes verhängnißvolle: Nur eine Tänzerin, nicht eine für uns Beide in ihren Folgen so furchtbare Entscheidung herbeigeführt. Störrisch, aber vergeblich harrte Einer auf des Anderen erstes versöhnliches Wort, und so trennten sich denn die beiden Herzen, die für einander bestimmt gewesen. Was ich damals empfand, warum soll ich es heute noch schildern? Seltsam würde es aus dem Munde einer alten Person klingen, wollte sie noch von der Liebe Leid erzählen. Aber daß aus meiner aufrichtigen Zuneigung jener nie schlummernde Haß entstand – nein, das ist nicht die richtige Darstellung – ich meine, daß die wahnsinnige Leidenschaft der wegen ihres Berufes verschmähten Tänzerin kein Mittel scheute, keine Mühe, keine Kosten, dem Verschmähenden immer wieder die unwiderstehliche Gewalt ihrer Leidenschaft ins Gedächtniß zurückzurufen und vor Augen zu führen: wer ein Weiberherz kennt, der findet es nicht unnatürlich. In diesem Umstände liegt die volle Erklärung alles dessen, was der Verstorbene, wenn auch frei von feindlichen Gesinnungen, mir in dem Briefe zur Last legte.

»Als er damals, um sich meinem Gesichtskreise zu entziehen, hierher übersiedelte, behielt ich ihn ebenso gut im Auge, als hätten wir nachbarlich beieinander gelebt. So konnte mir auch nicht verborgen bleiben, daß sein Sohn – und dafür hielt ich ihn, mußte ich ihn halten – ein leichtfertiger lebenslustiger Student – bestrickt durch die Reize der ältesten schönen Tochter Ginsters, ein inniges Verhältniß mit ihr anknüpfte und dasselbe bei seinen gelegentlichen Besuchen auf dem Karmeliterhofe immer mehr befestigte. Und so mochte schließlich keine große Ueberredungskunst dazu gehört haben, das leichtgläubige junge Mädchen, Gertrud hieß es, zu bewegen, dem Geliebten heimlich nach der Stadt zu folgen, in welcher er selber ziemlich nachlässig seinen Studien oblag. Ich war damals auf längere Zeit an denselben Ort gebunden. Da ich den jungen Menschen um seines Vaters willen fortgesetzt beobachtete, erfuhr ich beinah selbigen Tages, daß seine Gertrud eingetroffen sei und Beide in nicht geringe Verlegenheit dadurch versetzt worden waren. Durch einen Dritten nahm ich mich des armen Kindes an, und wie ein Blitz leuchtete es in meinem Geiste auf, daß ich nunmehr die Mittel in Händen habe, mich an Demjenigen zu rächen, der mich meines Berufes wegen verschmähte. Dem Vater war eine Tänzerin nicht gut genug gewesen, dafür sollte der Sohn ihm eine Tänzerin als Schwiegertochter ins Haus führen. Ich jubelte bei diesem Gedanken, und leicht gelang es mir, zur Anbahnung meiner Rache das unerfahrene Mädchen dem Balletpersonal einzureihen. Gelehrig, wie diese Gertrud sich zeigte, war sie doch schon zu alt, um sich mit ihren Leistungen noch über das sehr Mittelmäßige zu erheben; das kümmerte mich indessen weniger, wenn sie überhaupt nur Tänzerin war. Obwohl die beiden Leutchen mit rührender Liebe aneinander hingen, bewahrte das den leichtfertigen jungen Mann nicht davor, jedes ernste Ziel gänzlich aus den Augen zu verlieren, seine Studien zu vernachlässigen und statt dessen sich mit Altersgenossen in einen Strudel wilder Vergnügungen zu stürzen. Von seiner Gertrud konnte er hingegen ebenso wenig lassen, wie sie von ihm, und keinen anderen Ausweg entdeckend, um in ihren Besitz zu gelangen, entschloß er sich endlich, ebenfalls zur Bühne überzugehen. Was die Beiden nunmehr gemeinschaftlich verdienten, war wenig genug, allein unerfahren und verblendet, wie sie waren, hielten sie es für ausreichend, damit einen kleinen Hausstand zu begründen. In diese Zeit fiel das Zerwürfniß des jungen Mannes mit Ihrem Onkel. Unstreitig hielt er sich selbst für dessen natürlichen Sohn, welchem schließlich dennoch verziehen werden müsse, oder er hätte vielleicht ein Ohr für die Warnungen seines Wohlthäters gehabt. Ich selbst stand seinen Entschlüssen fern, war sogar überrascht, als ich erfuhr, daß er, dem angekündigten unheilbaren Bruch trotzend, sich mit seiner Gertrud habe trauen lassen. Das Erwachen aus dem kurzen Liebestraum scheint ein schreckliches gewesen zu sein. Der natürliche Verlauf der Dinge machte die junge Frau unbrauchbar für ihren Beruf; fast gleichzeitig wurde der junge Mann wegen mangelnden Talentes entlassen. Und so kam es, daß innerhalb kurzer Frist das Elend in seiner schrecklichsten Gestalt sie angrinste. Hätten sie, anstatt zu verzweifeln, sich vertrauensvoll an mich gewendet, so wäre ihnen gewiß auf die eine oder die andere Art geholfen worden, ich hätte mich sogar zum Beistande verpflichtet gefühlt; allein es scheint, als ob sie den Kopf vollständig verloren hatten. Unter dem Vorgeben, die Verzeihung seines Vaters anzurufen, verließ der junge Mann eines Tages seine Frau, und das Nächste, was sie von ihm erfuhr, war, daß man ihn hier einige hundert Schritte unterhalb der Pferdeschwemme, als Leiche aus dem Wasser gezogen habe. In ihrem Entsetzen ließ sie mich zu sich rufen, und ich kam gerade zur rechten Zeit, um ein kleines Töchterchen von ihr in Empfang zu nehmen und bald darauf ihr selber die Augen zuzudrücken.«

Hier säumte die Marquise eine Weile, wie um aus den leise murmelnden, eilenden Fluthen das herauszuhören, was sie weiter mitzutheilen beabsichtigte. Auch Perennis schwieg; er fürchtete, durch einen Laut ihren Ideengang zu stören. Plötzlich richtete sie sich wieder empor.

»Nicht wahr Ginster,« redete sie diesen an, der düster vor sich niederstierte, »das waren traurige Tage damals, als sie den jungen Rothweil begruben, als Sie ihm die letzten Liebesdienste erwiesen, ahnungslos, daß er der Vater Ihres eigenen Enkelchens, von dessen Erscheinen Sie ebensowenig wußten?«

»Schwere Tage,« bestätigte Ginster trübe, »und wäre mir die ganze Wahrheit gleich zugetragen worden, wer weiß, ob ich's überlebt hätte.«

»Nun, alter Mann,« fuhr die Marquise fort, »nichts macht den Körper zäher, als Leid und Gram, und daß es Ihnen an Beidem nicht fehlte, das soll Gott wissen. Doch ich bin noch nicht zu Ende,« kehrte sie sich Perennis wieder zu; »wie ich für ein angemessenes Begräbniß der armen, jungen Mutter sorgte, nahm ich mich auch der kleinen Waise an. Ich gab sie in Pflege und wartete nur darauf, daß sie sich einigermaßen entwickelt haben sollte, um sie als die Tochter seines Sohnes und einer Tänzerin, Ihrem Onkel in die Arme zu legen. Und nach Jahresfrist legte ich sie in der That in die Arme ihres Großvaters, aber hier des schmerzlich erstaunten und doch erfreuten Ginster, der jetzt erst die volle Wahrheit erfuhr. Denn der andere, der Besitzer des Karmeliterhofes, der war meinem Gesichtskreise entschwunden, ohne daß es mir möglich gewesen wäre, ihm die Kunde von dem Leben der kleinen Gertrud zu übermitteln. Doch ich rechnete auf die Zukunft, rechnete darauf, daß er dennoch über kurz oder lang zurückkehren müsse, und dann war es immer noch früh genug, meinen Zweck zu erfüllen. Als ob Alles sich vereinigt hätte, mich wenigstens nach einer Richtung hin in meinen Plänen zu unterstützen, blieb die Ehe der zweiten Tochter Ginsters kinderlos, und diese war es, welche der kleinen Gertrud nicht nur ein sicheres Heim, sondern auch ein Mutterherz bot. Ihr Mann, eine biedere treue Seele, dachte nicht anders, und unter ihrer gewissenhaften Aufsicht wuchs die Kleine allmälig unter dem Namen der Pflegeeltern als Gertrud Schmitz heran. Leider griff der Tod wieder in die damals so still zufriedene Familie meines Freundes Ginster ein. Das Kind vererbte sich durch neue Heirathen auf ihm fremde Eltern, und so kam es, daß das Geheimniß seiner Geburt bis auf den heutigen Tag so streng bewahrt blieb.

»Doch nun traf auch mich ein schweres Unglück. Auf offener Bühne zog ich mir eine Verrenkung zu, welche mich für die ganze übrige Lebenszeit zum Krüppel machte. Als ein Glück konnte ich preisen, durch verständige Sparsamkeit allmälig in eine Lage gerathen zu sein, welche mir wenigstens meine Unabhängigkeit sicherte. Ich hätte sonst sterben müssen vor Gram und Erbitterung. Denn von dem Tage ab, an welchem meine fernere Unbrauchbarkeit für die Bühne festgestellt wurde, war ich vergessen, kümmerte sich Niemand mehr um mich. Daß solche Erfahrungen dazu beitrugen, meine Verbitterung zu erhöhen, kann nicht befremden. Meine Hoffnung, die junge Waise ihrem vermeintlichen Großvater dennoch persönlich zuzuführen, war dagegen durch den Unglücksfall nicht erschüttert worden. Von seiner endlichen Heimkehr überzeugt und um zugleich dem Kinde nahe zu sein wählte ich den Karmeliterhof zu meinem Aufenthalt. Dort konnte ich zurückgezogen leben; außerdem bot der Zerfall des Gehöftes mir Gelegenheit, von Zeit zu Zeit mit meinen Geldmitteln einzugreifen und dessen Besitzer zu meinem Schuldner zu machen. Ich krönte diesen Theil meines Werkes dadurch, daß ich Ihnen zur Reise den Vorschuß leistete und während Ihrer Abwesenheit die Hypotheken den ungeduldigen Gläubigern abkaufte. Ich glaubte dies um so sicherer thun zu können, weil ich die leibliche Enkelin ihres Onkels als seine, aber auch als meine Erbin betrachtete.

»Die kleine Gertrud hatte ich als ein wildes, sogar unbändiges, aber ausnehmend schönes und gewandtes Kind wiedergefunden. Selbstverständlich nahm ich mich ihrer an, und wenn Ginster den ganzen Umfang meiner Zwecke nicht ahnte, so war er doch damit einverstanden, daß die Kleine mich regelmäßig bediente und besuchte, wofür ich in Form eines Lohnes ihren Angehörigen entsprechende Unterstützungen zuwendete. Die glückliche Veranlagung des Kindes, welche ich auf den ersten Blick erkannte, reifte schnell den Plan in mir, dasselbe heimlich ebenfalls zu einer Tänzerin auszubilden. Es verschärfte unausbleiblich – so folgerte ich – den Eindruck auf Rothweil, wenn er seine Enkelin in dem von ihm so verachteten Beruf erzogen fand. Anfänglich zitterte ich bei dem Gedanken, daß er vor Vollendung meiner Aufgabe heimkehren würde. Als aber Jahr auf Jahr dahinging, ohne daß jenes mit so viel Zuversicht erwartete Ereigniß sich verwirklichte, wurde ich ängstlich. Das Einzige, was mich dann für meine unsägliche Mühe und Geduld entschädigte, was mich in meinem Werk nicht ermüden ließ, war, daß Gertrud meine kühnsten Erwartungen in so hohem Grade übertraf, zugleich aber, neben einer zügellosen Begeisterung für ihren Beruf, so viel Scharfsinn, eine so wunderbare, sogar ans Unglaubliche grenzende Willenskraft offenbarte, daß ich sie aufrichtig bewunderte und in herzlicher Liebe mich ihr zuneigte. Ohne diese merkwürdigen Eigenschaften würde es mir schwerlich gelungen sein, unser stilles Treiben sogar vor Ginster zu verheimlichen.

»Da trafen Sie ein und mit ihnen die Kunde von dem Ableben Desjenigen, auf dessen Wiedersehen ich so zuversichtlich gerechnet hatte. Wie diese Nachricht mich niederschmetterte, weiß nur ich allein. Meine so lange gehegten Pläne konnten indessen dadurch wohl eine Wandlung erfahren, dagegen ihren ursprünglichen Charakter nicht einbüßen. Sie selbst hielten sich für den Erben Ihres voraussichtlich wohlhabend gestorbenen Onkels, wogegen ich in Ihnen den Erben meiner gegen den Verstorbenen gerichteten Pläne erblickte. Denn die Erbin seines Reichthums konnte für mich nur die leibliche Enkelin sein. Vorsichtig bewahrten Ginster und ich unser Geheimniß. Zu meiner eigenen Erbin hatte ich Gertrud ohnehin bestimmt – und in dieser Bestimmung offenbarte sich gewiß verständlich genug meine unvergängliche Neigung zu deren vermeintlichen Großvater – dagegen wäre es nutzlos gewesen, schon vor anderthalb Jahren ihre Ansprüche an den im fernen Lande Gestorbenen geltend zu machen. Denn wer hätte wohl für sie auf ziemlich unverbürgte Nachrichten hin die beschwerliche Reise unternehmen mögen? Sie selbst mußten also hinüber, mußten Gertruds Angelegenheit als Ihre eigene vertreten, und kehrten Sie nach erfolgreichem Ordnen der Nachlaßangelegenheiten zurück, so war es ja noch immer früh genug, auf dem Wege der Einigung oder des Prozesses den Rechten Gertruds Anerkennung zu verschaffen. So dachte ich, als ich Ihnen die Reisemittel anbot, so dachte ich noch vor wenigen Stunden, bis endlich das von Ihnen mir eingehändigte Schriftstück mich über meinen langjährigen Irrthum aufklärte.

»Ich leugne nicht, daß nach meinem Bekanntwerden mit Ihnen, ich Sie herzlich bedauerte, weil Sie zu Gunsten Anderer sich der gefahrvollen Reise unterziehen sollten. Dann aber hoffte ich wieder, die ganze Angelegenheit zu vereinfachen, indem ich mein Möglichstes aufbot, Sie mit Gertrud, also einen Rothweil mit einer Tänzerin zu verheirathen und damit meine letzte Lebensaufgabe zum Abschluß zu bringen. Doch die Mittel, zu welchen ich griff, Sie einander näher zu bringen, scheiterten an dem wunderlichen Herzen meines unsteten Irrwisch's, sie scheiterten an dem Ihrigen, welches bereits, wenn auch gleichsam unbewußt, in der Verlobten eines Andern eine Wahl getroffen hatte. Auf diesen, meinen aufrichtigen Wunsch, zwei mir näher stehende Menschen zu beglücken und zugleich meine Lebensaufgabe zu erfüllen, ist zurückzuführen, daß ich nicht hindernd einschritt, sogar bis zu einem gewissen Grade Vorschub leistete, als jener hinterlistige Winkelkonsulent – doch sprechen wir nicht mehr von ihm; Sie werden den Wunsch meiner Gertrud ehren und ihn unbehelligt das Weite suchen lassen.«

»Und mehr noch, er mag seinen Raub behalten,« versetzte Perennis tief ergriffen, »ich will ihn sogar für das, was er an veruntreuter Habe zurückläßt, entschädigen, wenn ich dadurch sein wenig auffälliges und spurloses Verschwinden aus dieser Gegend erwirke. Ich denke, bei der ihm gestellten Wahl wird er nicht lange zaudern.«

»Solchen Ausspruch erwartete ich,« fuhr die Marquise wieder fort, »die Rücksichten für Ihre junge Braut bedingen die zarteste Behandlung dieser Angelegenheit. Doch auch für mich habe ich noch Einiges hinzuzufügen. Als ich das Wiedersehen zwischen Ihnen und Lucretia beobachtete, als ich sah, wie das liebe, sanfte und geknechtete Wesen sich angstvoll an Sie anklammerte, als ich bemerkte, wie Sie für keine Andere, nur noch für das treue Kind Blicke hatten, da war mein Starrsinn gebrochen. Nur leicht erklärliche Scham hielt mich ab, es sogleich zu verkünden. Bei meinem späteren Alleinsein aber, und bevor ich jenen Brief gelesen hatte, gelangte ich zu dem Entschluß, die vermeintlichen Beziehungen Gertruds zu Ihrem Onkel zu verschweigen und sie in Ihrem Besitzthum schon allein um Ihrer tiefgekränkten jungen Braut willen nicht zu stören. Ginsters Zustimmung war ich gewiß, wenn ich ihm vorschlug, unser Geheimniß mit ins Grab hinabzunehmen. Und was sollte Gertrud mit noch mehr Geld, sie, die nicht nur meine Erbin, sondern auch in ihrer Kunst die Mittel besitzt, im Laufe der Zeit ein, ich möchte fast sagen: fürstliches Vermögen zu erübrigen.

»Da las ich endlich die letzten Bestimmungen und Wünsche des verstorbenen Jugendfreundes, und jetzt erst begriff ich, daß ich die vielen langen Jahre hindurch nur einem Phantom nachgejagt hatte. Mit dieser Gewißheit aber trat die Nothwendigkeit an mich heran, das, was Sie selbst aus jenem Schriftstück bereits erfahren hatten, zu vervollständigen. Nichts sollte oder durfte Ihnen ein Geheimniß oder unerklärlich bleiben. Sie mußten ein richtiges Urtheil über mein bisheriges Verfahren gewinnen, um mich nicht zu verdammen, aber auch um gerüstet zu sein, wenn jemals durch Zufall von einer anderen Seite her Zweifel angeregt werden sollten. Gertrud steht also in keiner anderen Beziehung zu Ihrem verstorbenen Onkel, als daß sie die Tochter seines Adoptivsohnes, welcher das Verhältniß zu seinem Wohlthäter durch einen freiwilligen Tod löste. Nein, es kann nicht anders sein. Die letzten Worte, die letzten Gedanken eines anderen, eines bis über das Grab hinaus getreuen und edlen Todten bürgen dafür.«

Bei den letzten Worten neigte die Marquise das Haupt. Die Dunkelheit verbarg, daß heiße Thränen über ihre hageren Wangen rollten.

Die Sterne funkelten. Geheimnißvoll sprudelten und gurgelten die eilenden Fluthen zwischen den glatt gespülten Strandkieseln. Flüsternd strich ein Lufthauch durch das Weidendickicht.

Weder Perennis noch Ginster wagten, die Marquise in ihrem Ideengange zu stören. Ersterer mochte ahnen, was sie in diesem Augenblick litt, während dem greisen Fischer vielleicht die Bilder seiner frühzeitig dahingeschiedenen Töchter vorschwebten.

»Ich habe heute Nachmittag so ernst darüber nachgedacht, daß ich fürchtete, den Verstand zu verlieren,« hob die Marquise nach einer langen Pause wieder an und sich aufrichtend blickte sie über den dunkeln Wasserspiegel nach den jenseitigen Höhen hinüber, »ich habe gegrübelt und gesonnen, und doch entdeckte ich keinen anderen Ausweg. Sollen wir die arme Gertrud beunruhigen, indem wir ihr anvertrauen, daß es ihr Vater gewesen, der hier in der Nachbarschaft aus dem Strom gezogen wurde? Nein, wer weiß, ob ihrem wunderlichen Herzen nicht ohnehin genug aufgebürdet wird. Mag sie meinen Namen als Künstlerin führen bis zum letzten Athemzuge; die Gertrud Schmitz, die Enkelin des alten Ginster, die Tochter seiner Tochter bleibt sie immerdar und unzweifelhaft. Ich denke, Ginster, Sie sind damit einverstanden?«

Ginster reichte statt der Antwort der Marquise die Hand und diese nahm ohne Säumen ihre Mittheilungen wieder auf:

»Für uns und für Alle, welche sie näher kennen, bleibt sie die Gertrud Schmitz; und ein dankbares, treues Kind ist sie obenein, das hat sie längst an den Tag gelegt, und sie würde es in erhöhtem Grade beweisen, könnte ihr Großvater sich von seinem alten Gewerbe trennen.«

»So lange meine alten Knochen aushalten, gehe ich von dieser Stelle nicht fort,« entgegnete Ginster dumpf, »und wollen die nicht mehr, wird's überhaupt wohl bald vorbei sein. Es ist dankenswerth genug, daß sie ihre Stiefmutter und Stiefgeschwister nicht vergißt, und was die gnädige Frau an mir und allen den Meinigen gethan haben –«

»Nichts davon, alter Freund,« fiel die Marquise wohlwollend ein, »wir sind Menschen, und als solche mit Schwächen und Fehlern behaftet, welche durch die wenigen guten Regungen nicht aufgewogen werden. Die Gertrud wird schwerlich lange bleiben; ich hätte sie sonst begleitet. Jedenfalls begebe ich mich innerhalb kurzer Zeit zu ihr –«

»Den Karmeliterhof verlassen?« fragte Perennis bedauernd.

»Nun ja,« hieß es eintönig zurück; »Sie müssen bauen, die Gärten herrichten –«

»Ich erfülle damit eine Pflicht gegen einen theuren Verstorbenen,« versetzte Perennis, »wollen Sie der damit verbundenen Unruhe aus dem Wege gehen, so verdenke ich es Ihnen am wenigsten. Aber eine andere Pflicht, eine heiligere noch erfülle ich, indem ich Ihre Wohnung mit in den Bereich der Erneuerung hineinziehe und sie dann Ihnen wieder zur freien Verfügung stelle.«

»Das wollten Sie thun?« fragte die Marquise sanft, und etwas reger fuhr sie fort: »nun ja, ich nehme Ihr Anerbieten mit Dank an; jenem theuren Verstorbenen bin ich es sogar als Sühne schuldig, so lange kein anderes Hinderniß entgegensteht, auf seinem Eigenthum den friedlicheren Theil meines Lebens zu verbringen. Ja, ja, das sind friedliche Aussichten, wohl werth, etwas fester am Leben zu hängen. Abwechselnd hier in ländlicher Abgeschiedenheit, und bei der lieblichen Trägerin meines alten Namens – Ginster, ich glaube, nach so vielem Leid haben wir keine Ursache mehr, unzufrieden zu sein.«

»Keine Ursache mehr,« antwortete der alte Mann. Er richtete sich auf, und nach seinem Damm hinaufschreitend, hob er das Netz und senkte er es wieder in den Strom, jedoch mit so unsicheren Bewegungen, daß, wären wirklich Fische in dessen Bereich gewesen, sie hinlänglich Zeit gehabt hätten, der Gefahr auszuweichen.

Als er nach der Rasenbank zurückkehrte, standen die Marquise und Perennis vor derselben.

»Ich will heimgehen,« redete jene ihn an, »die Nacht ist weit vorgerückt und ich sehne mich nach Ruhe. Wenn ich wieder bei Ihnen vorspreche, brauchen wir nur noch von freundlichen Dingen zu plaudern. Was sonst noch zwischen uns schwebt, wir wollen es begraben sein lassen in ewige Vergessenheit.«

Sie kehrte sich ab. Mit einigen herzlichen und aufmunternden Worten verabschiedete Perennis sich von Ginster. Dann trat er an der Marquise Seite, ihr wieder seinen Arm bietend. Indem sie langsam hart am Wasserrande hinschritten und endlich bei der alten Pferdeschwemme ihren Weg aufwärts nahmen, vertieften sie sich wieder in ein ernstes Gespräch. Es gab ja so Viel, was Perennis über die letzten Lebensjahre seines verstorbenen Onkels zu berichten wußte.

Vor der Einfahrt des Hofes blieb die Marquise stehen.

»Zwei Herzen trennten sich, die füreinander bestimmt gewesen,« sprach sie leise, wie zu sich selbst, »und doch hätte es nur eines Blickes, eines Wortes von der einen oder der anderen Seite bedurft, um – dahin, unwiderbringlich dahin!« Sie blickte nach den dunkeln Fenstern Lucretia's und Wegerichs hinauf. »Wie Alle so sanft schlafen,« fuhr sie träumerisch fort, »so sanft, wie gewiß seit langer Zeit nicht. Werde auch ich Ruhe finden? Ich glaube es fast. Wie stiller Friede ist es in meine Brust eingezogen. Gute Nacht, Herr Rothweil, vergessen Sie nicht: Auch ich gehöre zur Erbschaft jenes treuen Mannes – nein – gehen Sie nicht weiter mit – auf Wiedersehen morgen.« Hastig zog sie ihr Tuch fester um sich zusammen und unbekümmert um die knurrenden und anschlagenden Hunde begab sie sich nach dem Wohnhause hinüber.

Perennis säumte, bis die schwere Thür hinter ihr zugefallen war. Dann trat er den Rückweg zur Stadt an. Was er an diesem Abend erfahren hatte, bewegte ihn noch immer ernst. Aber sein Blut kreiste ruhig wie bei einem Schiffer, der nach langer, stürmischer Fahrt den sicheren Hafen vor sich sieht.

»Wie Alle so sanft schlafen,« hatte die Marquise gesprochen. Hätte sie nur in die Träume des armen Jerichow und ihres Lieblings, des rastlosen Irrwischs mit dem wunderlichen Herzen einzudringen vermocht! Der breite Strom kannte ebenfalls keine Ruhe. Plaudernd und gurgelnd badete er immer wieder die glatt gespülten Strandkiesel. Flüsternd hauchte die sanfte Brise durch die Weidenpflanzung auf dem Uferabhange. Zug um Zug hob der alte Ginster sein Netz aus den Fluthen, abwechselnd leer und mit Beute beschwert. – – –

Ende.


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