Balduin Möllhausen
Der Schatz von Quivira
Balduin Möllhausen

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Einunddreißigstes Kapitel.

Auf Ewig

Zehn Tage waren verstrichen. Für Lucretia in ihrer bangen Seelenstimmung zehn unendlich lange Tage, und dennoch so kurz, indem jede einzelne Stunde sie dem ihr von Splitter und der Marquise vorgesteckten Ziele näher brachte.

Und wiederum neigte die Sonne sich dem Westen zu, als vor dem Dorfe, in welchem Gertrud einst ihren Unterricht genoß, eine geschlossene Miethskutsche anhielt. Gleich darauf entstieg derselben eine in Schwarz gekleidete, tief verschleierte Dame.

»Warten Sie auf mich,« wendete sie sich an den Kutscher, »es mag eine halbe, eine ganze Stunde dauern und noch länger. Vielleicht bin ich auch nach einigen Minuten zurück.«

Die letzten Worte sprach sie leise, als hätte sie die angedeutete Möglichkeit befürchtet. Der Kutscher erklärte höflich seine Bereitwilligkeit. Dann blickte er ihr nach, wie sie behenden Schrittes sich ins Dorf hineinbewegte, den ihr begegnenden Leuten auf deren Gruß durch freundliches Neigen ihres Hauptes dankte und endlich in den das Schulhaus von der Straße trennenden Garten einbog. Behutsam schloß sie die Pforte hinter sich. Dann blieb sie stehen, ihre Blicke über die sich vor ihr ausdehnende Szenerie hinsendend.

Da lag das stille Schulhaus noch gerade so zwischen Bäumen, Sträuchern und Spalieren eingenestelt, wie vor achtzehn Monaten; nur daß heiteres Frühlingsgrün es schmückte, wogegen damals der Herbst bleichend, bräunend und röthend in das dichte Weinlaub eingezogen war. Auch der Garten war bis in die kleinsten Anlagen hinein derselbe geblieben; doch was damals reifte, heute lugte es erst schüchtern über das schwarze Erdreich empor, drängte es sich in Strauch und Baumwipfeln verheißend und fröhlich dem Sonnenschein entgegen.

»Das soll mir eine gute Vorbedeutung sein,« flüsterte es, wie die Umgebung begrüßend, unter dem schwarzen Schleier hervor, und zögernd näherte die schlanke Gestalt sich der bereits schattigen Hollunderlaube auf dem Giebel des Hauses. Nur einen Blick wollte sie auf die traute Stätte werfen und dann weiter suchen, bis sie Denjenigen fand, der hier in ländlicher Abgeschiedenheit mit gleichem Eifer und gleicher Liebe kindliche Gemüther wie Blumen und junge Bäumchen pflegte. Bevor sie die Laube erreichte, wurde ihr Schritt noch leiser und vorsichtiger. Man hätte meinen mögen, daß sie zu leicht, um die Spuren ihrer kleinen Füße in dem Sande des Weges auszuprägen. Neben der Laube, an die Giebelwand gelehnt, standen eine Harke und eine Schaufel, ein Zeichen, daß Jerichow auf seiner Lieblingsstätte rastete. Vor dem Eingange, jedoch weit genug zurück um denselben nicht zu verdunkeln, trat die Fremde so weit herum, daß sie das Innere der Laube zum Theil zu überblicken vermochte. Und da saß er ja wirklich, Gertruds Lehrer und Freund, auf derselben Stelle, von welcher aus er so manches liebevoll ermahnende Wort an sie richtete. Auch Bücher lagen wieder vor ihm und – sie täuschte sich ja nicht – eine Anzahl loser Blätter und ein Heft, welches sie auf den ersten Blick als ein von ihrer eigenen Hand beschriebenes erkannte. Und so rief es denn den Eindruck hervor, als habe er seine Schülerin nach alter Weise erwartet, um nach ihrem Eintreffen den Unterricht sogleich zu beginnen. Hatte er sich doch, wie damals, auch jetzt in ein Buch vertieft, wie sich auf sein Werk vorzubereiten. Denn die Gertrud war nicht wie die Dorfkinder. Ueber deren Sphäre reichte ihr Geist hinaus. Ihren Gesichtskreis erweiternd, mußte er mit Ueberlegung und Vorsicht seine Worte abwägen, um nicht zu verwirren, nicht Saatkörner auszustreuen, welche Früchte trugen, am wenigsten geeignet, den Seelenfrieden des räthselhaften Wesens zu begründen und demnächst zu befestigen.

So verrannen Minuten. Regungslos, wie ein Gebilde aus Marmor, stand Gertrud, die Blicke fest auf das ihr zugekehrte Profil Jerichows gerichtet. Aber unter dem Schleier hervor, der nur bis an die lieblich geschnittenen rothen Lippen reichte, sank Tropfen auf Tropfen auf den ihren Busen umhüllenden blauschwarzen Sammet nieder. Endlich schlug sie den Schleier zurück. Es geschah geräuschlos. Doch den Schatten der Bewegung mußte Jerichow gleichsam gefühlt haben, denn er kehrte sich nachlässig dem Ausgange zu. Eine Fremde vermuthend wollte er sich erheben, sank aber sogleich wieder auf die Bank zurück. Er konnte ja nicht glauben, was er sah, mußte es für eine Sinnestäuschung halten. Und so starrte er auf Gertrud hin, als hätte deren Anblick ihn geblendet. Und dabei sah er so bleich, so leidend aus, während auf seinen Wangen sich unheimliche rothe Male bildeten, daß Gertrud vor Jammer hätte laut aufweinen mögen; aber noch immer blieb sie wie gelähmt stehen. Sie konnte ihre Blicke nicht von dem vertrauten Antlitz abziehen, nicht von den redlichen Augen, die sonst in Begeisterung strahlten, wenn er in heiligem Eifer geistig das Naturreich mit ihr durchwanderte, den ihm streng auferlegten Pflichten zuwider, die Erhabenheit der Gottheit an deren begreiflichen Werken erklärte und veranschaulichte. Ja, da saß er, der getreue Jerichow mit seinem edlen Johannesgesicht, doppelt veredelt durch die ihm innewohnenden Ueberzeugungen, aber gleichsam verklärt durch den Stempel eines unheilbaren Siechthums, welchen ein grausames Geschick seinem Antlitz aufgedrückt hatte.

»Gertrud!« entwand es sich endlich mit einem unbeschreiblichen Ausdruck freudigen Erstaunens seinen Lippen.

Da löste sich der Bann, von welchem Gertrud so lange umfangen gewesen. Neue Thränen entstürzten ihren Augen, und bevor Jerichow sich zu erheben vermochte, lag sie vor ihm auf den Kniee, seine beiden Hände haltend und küssend, daß er meinte, vor Schmerz und Freude sterben zu müssen.

»Gertrud,« brachte er endlich hervor, und er kämpfte gewaltig gegen die ihn übermannende Rührung, »woher kommst Du? was soll das heißen? – Nicht doch, Gertrud – das ist keine Stellung für Dich,« und er versuchte ihr seine Hände zu entziehen; sie aufzurichten.

»Hier will ich liegen bleiben,« fiel Gertrud mit ihrem gedämpften, tiefen Organ ein, und ängstlich blickten ihre großen Augen, »hier will ich bleiben, bis ich Alles ausgesprochen habe, was mich bedrückt. Ich bin gekommen, um nicht anders von Ihnen zu gehen, als wenn Sie mich fortweisen! Ich will Ihnen dienen und treu sein, bis über das Grab hinaus –«

»Gertrud,« unterbrach Jerichow sie abermals, und die brennende Röthe der Wangen theilte sich flüchtig seinem ganzen Antlitz mit. »Du meine liebe, theure Schülerin, – bedenke, was Du sagst – erwäge, wie ich die Worte deuten könnte, welche die Freude des Wiedersehens Dir eingiebt –«

»Ich war auf das Wiedersehen vorbereitet,« fuhr Gertrud leidenschaftlich fort, »und ich weiß, was ich spreche. Seit der Stunde, in welcher ich von Ihnen schied, hat der jetzige Augenblick mir vorgeschwebt, habe ich ihn herbeigesehnt; und nun, da er herbeigekommen ist, flehe ich zu Ihnen: weisen Sie mich nicht fort! Ehre und Schätze will ich von mir stoßen! Ihre Gertrud, der Irrwisch will ich wieder sein, und erkennen Sie mir ein Mehr zu, so ist mein Glück vollständig.«

Sie säumte; aber den Ausdruck von Seelenangst in Jerichows Antlitz entdeckend und seinem Bestreben, sie emporzuziehen, wehrend, sprach sie in einem, vor Innigkeit fast ersterbenden Tone weiter:

»Wie jetzt vor Ihnen, habe ich vor unzähligen Menschen, die mich nicht kümmerten, gekniet. In derselben Minute habe ich gelacht und geweint, habe ich alle nur denkbaren Empfindungen zur Schau getragen, ohne daß mein Herz etwas Anderes kannte, als den Wunsch zu glänzen, zu gefallen. Dies Alles ist jetzt dahin! Blicken Sie mir in die Augen und fragen Sie sich, ob ich auch hier eine Täuschung begehe, hier, wo ich nicht um den Beifall gleichgültiger Menschen mich zu bewerben brauche. Fragen Sie sich, was allein mich hergetrieben haben kann, was mich auf meinen Knieen zu Ihnen flehen läßt, mich nicht zu verstoßen! Und ich sehe es ja: noch lebt der wilde Irrwisch in Ihrem Gedächtniß, wohl gar ein wenig in Ihrem Herzen – was sollten sonst die zerrissenen Blätter dort, welche ich einst unter ihrer Aufsicht beschrieb –«

»Nicht weiter, Gertrud!« fiel Jerichow wiederum tödtlich erbleichend ein, und ihr die eine Hand beinahe gewaltsam entziehend, bedeckte er die Schriften mit den Büchern, »ich verstehe Dich nicht, Du sprichst so geheimnißvoll, ich kenne Dich nicht wieder, steh' auf, meine liebe Gertrud, laß es sein wie früher. Setze Dich mir gegenüber auf Deinen Platz, wir wollen plaudern, wie in alten Zeiten. Sage mir, daß ich falsch hörte; entreiße mich dem Glauben – welcher – nein, ich darf es nicht aussprechen, komm, Gertrud, da drüben ist Dein Platz, hier sind Deine Bücher – ich nahm Alles mit hierher, der Erinnerung halber; denn wie es gewesen, kann es doch nimmermehr werden. Du hast Glück in der Welt gehabt, liebes Kind, du erscheinst mir so viel anders, so fremd. Und Deine geheimnißvollen Reden – deute mir Alles. Ich weiß, Du kannst mir nichts erzählen, dessen Du Dich zu schämen brauchtest –«

Er brach ab. Das lebhafte Sprechen zusammen mit der tiefen Erregung hatte ihn erschöpft. Seine Blicke hafteten an den großen Augen, als hätte er deren Glanz in Einklang mit den vernommenen Worten bringen wollen. Gertrud lag noch immer auf den Knieen. So lange er sprach, lauschte sie beinah athemlos. Als er aber endigte und die schmale Hand zurückzog, welche er, wie vor Jahren so manches liebe Mal, auf ihr Haupt gelegt hatte, da erhob sie sich ebenso gehorsam wie damals. Wie seinen Sinnen nicht trauend, betrachtete er die schlanke Gestalt, welche in der ihm noch fremden Bekleidung mehr denn je zuvor das tadelloseste Ebenmaß zeigte, in Haltung wie Bewegungen eine ruhige, würdevolle Anmuth offenbarte, die so himmelweit verschieden von dem Trotz des graziösen Irrwischs. Was hatte sie erlebt? Welche Erfahrungen bildeten die Schule, aus welcher sie so gänzlich verändert, sogar veredelt in Wesen und Sprache hervorgegangen war? In ihrer Seele hätte er lesen mögen, um ihre Erfahrungen zu prüfen, an dem Schlage des eigenen Herzens zu ermessen, ob er ihre lange Abwesenheit nach dem räthselhaften Verschwinden segnen oder beklagen sollte.

Gertrud hatte sich ihm gegenüber niedergelassen. Vor ihr auf dem Tische ruhten ihre gefalteten Hände. Wie bei ihrem ersten Besuch, als sie mit dem wildumlockten Haupt kaum bis an Jerichows Schultern reichte, hingen ihre Blicke auch jetzt wieder an seinen Lippen. Doch statt des früheren kindlichen Eifers glühte aus den prachtvollen Augen eine Angst, als hätte sie einem über Leben und Sterben entscheidenden Urtheil entgegengesehen. Die Bedeutung der unheimlichen Rosen auf Jerichows Wangen kannte sie nicht. Sie entdeckte nur, daß sein Antlitz noch zarter, noch milder im Ausdruck geworden war, und zieh sich eines Fehls, nicht längst in der Erinnerung sein Bild mit diesen neuen Reizen geschmückt zu haben.

»Wer hätte geahnt, daß ich Dich in meinem Leben noch einmal wiedersehen würde?« brach Jerichow das Schweigen und in dem schmerzlichen Lächeln ruhte, Gertrud freilich unverständlich, eine wehmüthige Erklärung seiner Worte, »und noch einmal sage ich es: so verändert; ich kann es nicht fassen, Du mußt mich beruhigen, das Räthsel lösen.«

Da ergriff Gertrud seine Hand, und dieselbe zwischen ihren beiden pressend, sprach sie mit einer Stimme, die vor Erregung zitterte:

»Blicken Sie mir in die Augen, halten Sie mich, damit ich den Muth nicht verliere, damit ich aus Ihren Zügen lese, daß Sie keine Zweifel in meine Worte setzen.«

Wie nach Athem ringend, seufzte sie tief auf; dann fuhr sie fort:

»Als der wilde Irrwisch einst von Ihnen floh, hatte er bereits eine Schule durchgemacht, zwar im Geheimen, aber eine so strenge und oft genug qualvolle Schule, daß es nicht ohne Einfluß auf das Gemüth bleiben konnte. Schon als Kind hatte ich gelernt, mich zu beherrschen, und mehr noch, meine Zunge zu überwachen, daß nichts über meine Lippen kam, was ich den Menschen vorenthalten wollte oder mußte. Gern hätte ich Ihnen das Räthsel damals gelöst, allein ich durfte nicht, wollte ich das Ziel, welches vor mich hingestellt wurde, nicht verfehlen. Die Gertrud, die wilde Rheinnixe, der tolle Irrwisch mußte sterben, durfte nicht in Beziehung treten zu der Lucile Graniotti –«

Wie von einem Blitz getroffen fuhr Jerichow auf; sich matt zurücklehnend, entzog er Gertrud seine Hand.

»Gertud, Du bist die Graniotti – hast Deinen Weg in die Zeitungen gefunden – bist – Tänzerin geworden?« fragte er mit ersterbender Stimme, »ist es denn wahr? Du, das muthwillige Kind –« wiederum stockte er; seine Augen verloren ihren Glanz, während die Röthe der Wangen plötzlich das ganze Antlitz bedeckte.

Gertrud lächelte unsäglich bitter.

»Ja, ich bin Tänzerin geworden,« sprach sie ruhig, »oder vielmehr, ich war es schon seit dem Tage, an welchem die Frau Marquise mich in ihren Schutz nahm und die noch geschmeidigen Glieder des zarten Kindes in einer Weise reckte und dehnte, daß ich oft meinte, vor Schmerz sterben zu müssen. Ihre gütigen Worte und kleinen Geschenke beruhigten mich indessen immer wieder, und Jahre hindurch hielt ich für ein absonderliches Spiel, was mit mir getrieben wurde. Jung, wie ich war, und verwildert, schämte ich mich doch, zu meinen Gespielen darüber zu sprechen. Ich fürchtete, der sogenannten verrückten Marquise halber verspottet zu werden. Auch wollte ich den mir zufließenden Geschenken und dem Lohn für meine Dienstleistungen nicht entsagen. Später hingegen, als ich erfuhr, zu was ich bestimmt sei, daß ich den Straßenstaub und die Hütte in dem Festungsgraben mit einem glänzenden Hause vertauschen sollte, als die Marquise mir erklärte, daß meine Begabung mich zu einer hervorragenden Stellung berechtigte, da war ich klug genug, das nur zwischen uns Beiden lebende Geheimniß heilig zu bewahren und in den Stunden, welche ich auf dem Karmeliterhofe verbrachte, mit unermüdlichem Eifer meinen Uebungen obzuliegen. Nur ein beschränkter Raum stand uns zur Verfügung. Um mich daher zu gewöhnen, meine Bewegungen stets mit dem Takte der Musik in Einklang zu bringen, besuchte ich, wo sich Gelegenheit bot, die Dorfbälle; denn dort hatte ich am wenigsten erniedrigende Behelligungen zu gewärtigen. Die nichtswürdigsten Verleumdungen eines elenden Schreibers, welche eine Unschuldige in Berührung mit der Polizei brachten, setzten meinem Verkehr mit der Marquise früher ein Ziel, als ursprünglich beabsichtigt gewesen. Mit den wärmsten Empfehlungen reiste ich ab, und bald darauf befand ich mich in der Schule eines Meisters, der menschenfreundlich nicht duldete, daß man die in der neuen Umgebung eingeschüchterte, aber noch immer wilde und trotzige Schülerin zur Zielscheibe des Spottes wählte. Nach der ersten Prüfung meiner Kraft und Gelenkigkeit behandelte er mich sogar mit einer Achtung, die mich anfänglich verwirrte, dann aber meinem Sinnen und Denken eine ernstere Richtung verlieh.

»Ein halbes Jahr, vielleicht etwas länger, hielt mein wohlwollender Lehrer mich der Oeffentlichkeit fern. Nur in den Proben wirkte ich mit. Als fertige Tänzerin sollte ich vor das Publikum hintreten, nicht mit der Unsicherheit einer Anfängerin, um kein Vorurtheil herauszufordern. Das war der Plan meines Lehrers, und er glückte vollkommen. Ich lernte leicht und schnell. Was Andere durch Ausdauer im Laufe der Jahre sich aneignen: das Verständniß für verwickelte Gruppirungen, ich fand mich nach dem ersten Blick hinein. Die Liebe zur Musik war mein treuster Bundesgenosse. In der Musik lag für mich das Gesetz für meine Bewegungen, sogar für mein Denken. Woher ich es hatte, ich weiß es nicht; aber kein Balletabend verging, an welchem ich nicht Zuschauerin gewesen wäre, nicht herausgeklügelt hätte, wo ich nachzuahmen oder es besser zu machen haben würde. Und so konnte es kaum überraschen, daß als ich, durch und durch vertraut mit meiner Aufgabe, zum ersten Mal öffentlich auftrat, ich mit Beifall begrüßt wurde. Der Beifall aber war für mich ein Sporn. Zu den äußersten Anstrengungen wurde ich dadurch getrieben. Lieber hätte ich mir, wie die Marquise, eine Lähmung, sogar den Tod zugezogen, als einen Mißerfolg erlebt. Der Spott, welchen ich als Irrwisch über mich ergehen lassen mußte, und, im Gegensatz zu demselben, die Lehren, welche ich auf dieser Stelle empfing, trugen wohl mit dazu bei, daß ich mich so leicht und schnell in jede neue Rolle hineinfand und, sobald ich die Bühne betrat, mit Leib und Seele nur das war, was zu verbildlichen ich übernommen hatte. Und so schritt ich weiter von Stufe zu Stufe, bis ich endlich so weit gelangte, daß man mir als Jahreseinkommen bietet, was ich früher in meiner Einfalt als ein fürstliches Vermögen betrachtete.

»Das ist die einfache Lösung des ganzen Räthsels. Ihnen erscheint sie schmerzlich, ich sehe es Ihnen an. Das Wort Tänzerin hat einen rauhen Klang für Sie, und doch trägt mich das Bewußtsein, nie die Grenzen überschritten zu haben, welche das Trachten nach allgemeinem Beifall mir steckt. Doch ich bin noch nicht zu Ende,« fuhr Gertrud lebhaft fort, als sie zu bemerken glaubte, daß Jerichows Antlitz einen noch leidenderen Ausdruck erhielt und er zugleich Miene machte, sie zu unterbrechen; »mit welcher Sehnsucht ich, trotz meines bewegten Lebens, hierher zurückdachte, ich kann's nicht beschreiben. Aber als ich vor acht Tagen von der Frau Marquise die Weisung erhielt, um einen kurzen Urlaub nachzusuchen und einige Tage bei ihr zuzubringen, da folgte ich der Einladung mit einer Erregung, welche mich vollständig über mich selbst aufklärte. Gestern Abend traf ich ein, und heute benutzte ich die erste geeignete Stunde, zu Ihnen zu eilen. Wäre ich noch in Zweifeln gewesen, sie hätten schwinden müssen, als ich in Ihren Garten eintrat, wo mich Alles, jeder Baum, jeder Strauch, jedes Pflänzchen willkommen hieß. Und als ich endlich Ihrer selbst ansichtig wurde – Sie meinen Namen riefen – ja, da konnte ich nicht länger an mich halten. Was ich aber im Uebermaß der Freude des Wiedersehens offenbarte – jetzt wiederhole ich es aus überströmendem Herzen: Hier sitze ich vor Ihnen, Ihre wilde und aufmerksame Gertrud. Die glänzenden Erfahrungen, welche ich im Laufe des letzten Jahres sammelte, ich will sie vergessen –« »Halte ein, Gertrud,« unterbrach Jerichow sie mit sichtbarer Anstrengung, »sprich nicht aus, was mich noch elender machen würde – Gertrud – ich will glauben, falsch gehört zu haben; denn was Deine Worte in sich bergen, ist zur Unmöglichkeit geworden – Gertrud, es ist unmöglich!« und er sank wieder kraftlos zurück.

Gertrud erbleichte. Deutlich bemerkte Jerichow, wie ihre auf dem Tisch ruhende Hand zitterte, wie ihre Augen erstarrten, um indessen sogleich wieder in hellerem Licht zu strahlen, aber in einem Licht, welches unstet flackerte, wie vor einem Luftzuge, der es gänzlich zu verlöschen droht. Klagend ertönte ihre Stimme, indem sie fortfuhr.

»Sie gedenken jenes Irrwischs, der sich widerstandlos eine entehrende Rüge gefallen lassen mußte. Wohlan, das ist nicht rückgängig zu machen, unverdient, wie die Schmach mich getroffen haben mag. Niemand aber hier weiß bis jetzt, daß der wilde Irrwisch und die Graniotti eine und dieselbe Person. Es giebt noch Punkte auf der Erde, auf welchen es sich in Frieden leben läßt. Wohin Sie sich wenden, jeden anderen Ort will ich freudig als meine Heimat begrüßen. Wollen Sie nicht, daß ich noch einige Jahre die Früchte meines langen eifrigen und so qualvollen Lernens für uns sammle, so bin ich mit dem bescheidensten Loose zufrieden. Was gelten mir Sammet und Seide? Was Gold und Edelgestein? Ich verachte Alles, denn es macht mich vielleicht eitel, aber nicht glücklich –«

Sie verstummte, als Jerichow, wie sie beschwörend, seine Hand aufhob.

»Laß es genug sein,« bat er, und die eben noch über sein ganzes Antlitz ausgebreitete Gluth beschränkte sich wieder auf die brennende Röthe seiner Wangen. »In dem wilden Ungestüm früherer Tage sprichst Du Dinge, welche die Graniotti bereuen würde, wäre ich im Stande, auch nur auf eine Erörterung darüber einzugehen. Deine Schuldlosigkeit ist Deine Wehr gegen hinterlistige Verleumdungen; mein Urtheil über Dich können solche nie erschüttern. Wähnst Du indessen, nachdem Du einmal berauschende Triumphe kennen lerntest, denselben leicht entsagen zu können, so täuschest Du Dich über Dich selbst. Nimmermehr dürfen die flüchtigen Regungen des Augenblicks maßgebend sein wenn –«

»Ich habe überlegt, lange und reiflich habe ich überlegt! Meine Regungen bleiben unveränderlich bis zum letzten Athemzuge!«

»Höre mich zu Ende, bevor Du entscheidest, Gertrud, entziehe meinen jungen Pflanzen dort im Garten das Sonnenlicht, und sie werden verkümmern und vor der Zeit sterben –«

»Ich finde mein Sonnenlicht hier, wo ich es so oft gefunden habe,« fiel Gertrud wieder angstvoll ein, und sie legte ihre Hand auf die Bücher, »fürchten Sie aber Derartiges, was hindert Sie, mit mir zu ziehen, sich zu erfreuen an den Triumphen –«

»Mit Dir ziehen?« fragte Jerichow vorwurfsvoll.

Sengende Gluth schoß in Gertruds Antlitz. Sie war scharfsinnig genug, zu errathen, daß ihr Vorschlag eine Kränkung in sich barg. Doch flüchtig, wie die Gluth aufflammte, erlosch sie auch wieder. Todtenblässe bedeckte ihr Antlitz; es schien zu Marmor zu verhärten, indem sie mit ergreifendem Ausdruck anhob:

»Ich war selbstsüchtig. Nur an mein eigenes Glück dachte ich, nicht an das Ihrige. Ich vergaß, daß zu Ihrem Glück mehr gehört, als ich zu bieten vermag. Gleichviel ob verspotteter Irrwisch oder gefeierte Tänzerin: Keins von Beiden ist Ihrer würdig.«

»Du zwingst mich gewaltsam zu einem Bekenntniß, welches Dir Kummer bereitet!« rief Jerichow klagend aus, und er legte seine Hand auf die Gertruds, »zu Offenbarungen welche ich am liebsten mit mir in die Erde genommen hätte. Warum konntest Du nicht damit Dich bescheiden, wenn ich vorgab, daß die Verschiedenheit der beiderseitigen Lebensstellungen die Verwirklichung Deines sich gewiß bald verflüchtigenden Traumes unmöglich mache? Warum konntest Du nicht mit dem Bewußtsein von mir gehen, daß ich schwach genug, äußeren Verhältnissen Alles zu opfern? Und dennoch ist es vielleicht besser, wenn keine Zweifel zwischen uns walten, die Erinnerung, welche Einer dem Andern bewahrt, nicht durch heimliche Vorwürfe getrübt wird.«

Er säumte einige Sekunden, wie Muth aus den mit tödtlicher Spannung auf ihn gerichteten großen Augen schöpfend, und milde, wie vor einem offenen Grabe fuhr er fort:

»Jetzt fordere ich Dich auf, mich frei anzublicken, Dich zu überzeugen, daß meine Worte der Ausdruck einer lauteren heiligen Wahrheit. Ja, Gertrud, ich habe Dich bereits geliebt, als Du noch als meine Schülerin dort vor mir saßest. Ich habe Dich geliebt, lange bevor Du selbst, eingetreten in die große Welt, Dir über das klar wurdest – wohl richtiger: das mißverstandest, was in Dir die Sehnsucht nach diesem stillen Winkel wachrief. Wie ich Dich liebte, das erfuhr ich, als damals von feindlicher Seite die bösen Gerüchte über Dich in Umlauf gesetzt wurden. Ich erfuhr es wiederum, als Du eben erschienst und mir die unübersteigliche Kluft zeigtest, welche zwischen Deinem gefeierten Namen und einem anspruchslosen Lehrer besteht – unterbreche mich nicht, geliebte Gertrud, nein, sondern höre mich an, wie ich selber Deinen Worten aufmerksam lauschte; und glaube mir, Du wirst eine Beruhigung mit von hier fortnehmen – mag sie immerhin schmerzlich sein – welche Dir schließlich dennoch über alle Zweifel hinweghilft. Und so vernimm denn: ständen wir auf derselben gesellschaftlichen Stufe, oder vielmehr: besäße ich weniger Gewissenhaftigkeit, um mich über die von mir angeregten und gerechtfertigten Bedenken hinwegzuschwingen – denn heißer lieben könnte ich Dich ja nicht – so würde ich dennoch unter Anrufung des Heiligsten wiederholen: Unmöglich! Blicke mich an, blicke mich mit kluger Ueberlegung an. Sehe ich etwa aus, wie ein Mann, der sich noch lange des lieben Sonnenlichtes, des Verkehrs mit guten Menschen, der rührenden Anhänglichkeit wißbegieriger jugendlicher Gemüther erfreut? Du zweifelst, weil Du mir ein besseres Loos wünschest – zittere nicht, meine theure Gertrud. Lerne von mir, wie man mit Ruhe einem ernsten Geschick ins Antlitz schaut, weiß doch kein Mensch, was ihm bevorsteht. Und ich war ja noch jünger als Du, als ich Solches lernen mußte, als ich Zeuge war, wie ein treues Mutterherz langsam, dann aber schneller und schneller in unheilbarer Krankheit dem Grabe zusiechte. Der Keim aber jener Krankheit ist das einzige Erbtheil meiner Mutter. Das wußte ich vor Jahren, und vor Jahren schon söhnte ich mich mit dem Gedanken aus, daß meine Tage gezählt seien. Zu genau – und die Liebe macht selbst Kinder scharfsichtig – hatte ich meine sterbende Mutter, die verschiedenen Stadien der grausamen Krankheit beobachtet, um nicht jetzt ungefähr berechnen zu können, wie kurze Zeit mir nur noch beschieden ist –«

»Es ist nicht wahr!« entwand es sich im Uebermaß des Entsetzens Gertruds Lippen.

Jerichow lächelte. Es ruhte in diesem Lächeln eine Bestätigung, gegen welche Einwendungen zu erheben Gertrud die Kraft nicht besaß. Aber seine Hand umspannte sie krampfhaft und verzweiflungsvoll ihren Jammer, einen unsäglichen Schmerz bekämpfend, fügte sie hinzu:

»Und sollte es dennoch sein, sollte der Himmel sich dennoch einer solchen schnöden Ungerechtigkeit schuldig machen, dann dürfen Sie mich um so weniger verstoßen. Ich will bei Ihnen bleiben, will Ihre Frau sein; ich will Sie pflegen und behüten, will sehen, ob ich mit meiner Sorgfalt, mit meiner Treue nicht mehr vermag, als ein feindliches, verächtliches Geschick,« und der eigenthümlich wilde, dämonische Trotz des sich für unbesiegbar haltenden Irrwisch's funkelte wieder aus den schönen und doch so düsteren Augen, »Tag und Nacht will ich bei Ihnen wachen –«

»Nein Gertrud,« unterbrach Jerichow sie, wie um die Qual zu dämpfen, welche Angesichts so vieler Opferwilligkeit seine Brust zerriß, »das darf nicht sein. Du kannst nicht wollen, daß ich doppelt leide, doppelt sterbe, daß ich, heute noch ausgesöhnt mit meinem Loose, Zeuge sein soll, wie Du gemeinsam mit mir Dich in Gram verzehrst; Du kannst nicht wollen, daß in meinem Herzen Vorwürfe gegen die Vorsehung erwachen, die mir den Himmel zeigte, in denselben mich sogar einführte, um mich die entsetzlichsten Höllenqualen erdulden zu lassen. Nein, Gertrud, Deine Gestalt an meinem Sterbelager, Deine auf mein zerfallenes Gesicht gesenkten kummervollen Blicke würden mir das Scheiden erschweren. Weine nicht, meine arme, geliebte Gertrud; weine nicht, Du treues, treues Herz. Nimm ein Beispiel an mir –« und seine Stimme zitterte vor endlosem Weh – »und wenn unsere heutige Zusammenkunft uns zwingt, einen Kelch des Leids und des Schmerzes bis auf die Hefe zu leeren, so laß uns nicht vergessen, daß dieselbe zugleich hinfort eine Quelle süßer Erinnerungen und holden Trostes, bis das Auge bricht: Dir nach einem langen gesegneten Leben, mir in der Blüthe der Jahre. Denn noch unzählige Male, wenn längst über mir der Rasen grünt, mein Grabkreuzlein sich längst mit Moos überzog, wirst Du in stillen Stunden Dir wiederholen: Seine letzten Tage habe ich erhellt, indem ich ihm das für ihn noch denkbar höchste Glück bereitet. Und ich selber? Dein Bild wird mich von dieser Stunde an umschweben, wie ein milder Himmelstrost. Der Gedanke an Dich wird mich stärken zur Erfüllung meiner Berufspflichten, wird mich erheitern, wenn mein geistiger Horizont sich zu umdüstern droht. Und tritt endlich die letzte Entscheidung an mich heran, ist es dann nicht ein freundliches Bewußtsein, daß Deine Liebesgrüße, keine Entfernung kennend, mich finden, Du vor meinen geistigen Blicken Dich verkörperst, ich Deine Gestalt zu sehen meine, wie Du neben mir sitzest, meine Athemzüge überwachst, Dich zu mir niederneigst, mich zum letzten Mal küßt und Deine leichte Hand mir die gebrochenen Augen zudrückt? Ach, Gertrud, das ist wohl ein seliges Sterben; und wenn ich es jetzt so ausführlich schildere, so ist es kein vermessenes Schwelgen in düsteren, martervollen Betrachtungen, sondern es geschieht, um Dir eine Erinnerung mit ins Leben zu geben, welche Deine Trauer mildert, und mehr noch: selbst in den mißlichsten Lagen Dir einen Innern Halt gewährt.«

Er konnte nicht weiter sprechen. Als aber Gertrud die Thränen gewahrte, die langsam über seine Wangen rollten, da war es um ihre Fassung geschehen. Laut schluchzend barg sie das Antlitz in ihre Hände, krampfhaft zuckte ihr Körper; ihr Herz schien vollständig gebrochen zu sein. Feuchten Blickes betrachtete Jerichow sie. Nicht an sich selbst dachte er, nicht an das, was das Glück ihm bot, um es ihm sogleich wieder grausam zu entreißen. Nur Gertrud sah er in ihrem Schmerz, der so aufrichtig, so wahr, wie die Strahlen der tief stehenden Sonne, die zitternd ihren Weg zwischen dem jungen Blätterwerk hindurch zu ihm in die Laube fanden. Endlich erhob er sich, und neben Gertrud hintretend, legte er seine Hand schmeichelnd auf ihre Schulter.

»Laß es genug sein jetzt, mein armes liebes Kind,« sprach er tief bewegt, »zerreiße nicht länger mir das Herz durch solche Kundgebungen. Klammere Dich vielmehr mit ganzer Seele an die Ueberzeugung, daß es nicht anders sein kann, und die darauf folgenden ruhigeren Betrachtungen werden nicht ohne wohlthätigen Einfluß bleiben. Noch lacht die Sonne mir ja ebenso freundlich, wie Dir, gieb auf daher die Befürchtungen für die Zukunft. Zeige Dich als den starken Charakter, für welchen ich Dich stets gehalten habe, und wenn Du gehst, dann nimm das Bewußtsein mit Dir, daß Du mich unbeschreiblich beglücktest. Bei meiner unwandelbaren Liebe zu Dir aber beschwöre ich Dich, gönne mir den Trost, Dich gefaßt und erfüllt von lächelnden Hoffnungen von mir scheiden zu sehen.«

Und wiederum leistete Gertrud gehorsam Folge. Sie erhob sich und zugleich versiegten ihre Thränen. Ihr Antlitz war wohl bleich, aber um ihre Lippen spielte ein unsäglich kummervolles Lächeln. Sie ergriff Jerichows Hand.

»Das war eine schwere Stunde,« sprach sie sanft, »doch um alle Schätze der Welt, selbst um meine Seligkeit möchte ich sie nicht hingeben. Ich bin jetzt ruhig. Die Blicke will ich nach vorne richten, das mir gesteckte Ziel nicht aus den Augen verlieren. Wenn es aber Blumen und Kränze um mich regnet, wenn lauter Beifall das Ohr betäubt, ich dankbar dazu lächeln muß, dann wird mein Herz zucken schmerzlich und wehevoll in Erinnerung dieser Stunde. Indem ich dagegen meinen Beruf nur als nährendes Gewerbe betrachte, kalt und mit unverschleiertem Blick meine Aufgabe berechne, muß es mir gelingen, das Höchste zu leisten.«

Sie lächelte herbe. Jerichow betrachtete sie erstaunt. Sich fragend, wie es dem wilden Fischermädchen möglich gewesen, innerhalb der verhältnißmäßig kurzen Zeit sich in der neuen Sphäre nicht nur äußerlich umzuwandeln, sondern auch in ihrem Empfinden, in ihrer Ausdrucksweise zu veredeln, söhnte er sich mit ihrem Beruf aus.

»Du wirst Dir Deinen Weg mit Ehren durchs Leben bahnen,« sprach er träumerisch, »möge er Dich aber nicht allein zu Glanz und Reichthum führen, sondern auch zur Zufriedenheit am eigenen häuslichen Herde.«

Und wiederum lächelte Gertrud. Den von Jerichow angeregten Gedanken weiter zu spinnen, widerstrebte ihr.

»So will ich denn gehen,« sprach sie anscheinend gefaßt, und sie trat in den Ausgang der Laube. Einen traurigen Blick sandte sie über den wohlgeordneten Garten. Sie mochte sich fragen, wie bald eine fremde Hand die Bäume beschneiden, die Blumen pflegen, die Bienenstöcke überwachen würde; sie mochte sich vergegenwärtigen, mit welcher Freude sie selbst bei Allem zur Hand gegangen wäre. Ein Schauder durchrieselte ihre schlanke Gestalt.

»Ich habe mich noch einmal hier umgesehen,« bemerkte sie erzwungen heiter, »Abschied genommen von Allem, was mich so oft hier freundlich grüßte; nun bleibt mir nur noch der Abschied von Ihnen.«

Sie reichte Jerichow die Hand.

»Leben Sie wohl,« hob sie an; als sie aber in seine schwermüthigen Augen sah, zum erstenmal verfolgte, wie die scharf abgegrenzte unheimliche Röthe auf seinen Wangen sich bis zu den Schläfen hinauf ausdehnte, war die schwer errungene Fassung dahin. Weit breitete sie ihre Arme aus, und Jerichow's Hals umschlingend, weinte sie an seinem Herzen, als hätte sie geahnt, daß es ein Abschied auf ewig sein würde.

Jerichow hatte seinen Arm um sie gelegt.

»Auch das noch,« flüsterten die bleichen Lippen über das theure Haupt hin, und einen Blick des entsetzlichsten Vorwurfs sandte er zum sonnigen Himmel empor. Er küßte Gertruds Stirne.

»Mögest Du gesegnet sein für und für,« sprach er lauter, »möge ein Höherer Dir vergelten, was Du heute an mir gethan hast, Du liebes, Du treues Herz.«

Gertrud richtete sich auf. Sie hatte Zeit gefunden, sich zu sammeln.

»Gehen Sie nicht weiter mit,« bat sie unter sichtbarer Anstrengung.

Schnell, bevor Jerichow es hindern konnte, küßte sie seine Hand, und den Schleier niederlassend, schritt sie hastig davon. In der Gartenpforte blickte sie noch einmal zurück. Hinüber und herüber wurde ein letzter Gruß gesandt. Das war ein Abschied auf ewig.

Die Sonne schien warm, wie zuvor. Gräser, Kräuter, Blumen und Bäume athmeten frisches Frühlingsleben. Schwerbeladene Bienen eilten zu ihren Stöcken. Vereinzelte Falter segelten auf ihren breiten Schwingen von Blüthe zu Blüthe. Ihre schwerfälligen Bewegungen verriethen die Nähe des Abends. Gedämpft drang aus der weiteren Umgebung des Dorfes das Läuten der Kuhglocken herüber, indem die Heerden langsam den Milchplätzen zugetrieben wurden. Tiefer Friede herrschte überall. –


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