Balduin Möllhausen
Der Schatz von Quivira
Balduin Möllhausen

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Drittes Buch

Die Tänzerin

Dreißigstes Kapitel.

Auf dem Karmeliterhofe

Auf zwölf Monate berechnete man in der Heimat Perennis' Abwesenheit; es waren deren achtzehn geworden und noch immer fehlte jegliche Nachricht von ihm. Der Frühling hatte wieder seinen Einzug gehalten, sein Aeußerstes hatte er aufgeboten, dem Karmeliterhofe ein freundliches Aussehen zu verleihen, mit heiterem Grün schmückte er Baum- und Strauchdickichte; mit Butterblumen und Tausendschönchen durchschoß er die verwahrlosten Rasenflächen, aber der Ausdruck tiefer Melancholie, welcher das Gehöft umlagerte, wurde dadurch nicht verdrängt.

Die Marquise saß auf ihrem gewöhnlichen Platz am Fenster, von welchem aus sie den Strom und die schräge gegenüberliegende malerische Gebirgsgruppe zu überblicken vermochte. Der Sonnenschein eines klaren Nachmittags ruhte auf dem breiten, wirbelreichen Wasserspiegel, Sonnenschein auf den Wipfeln der Bäume, auf den schadhaften Dächern und dem mit Kehricht überfüllten Hofe. Sonnenschein endlich auf dem Wurfnetz des alten Ginster, der mit dem Erwachen der Natur seine angestammte Fischstelle wieder aufgesucht hatte.

Wie kalt, wie eisig schaute dagegen die Marquise darein! Die regelmäßigen Formen ihres Antlitzes schienen in den letzten achtzehn Monaten noch starrer geworden zu sein; vergeblicher als vor diesem Zeitraum, mühte sich die Schminke, die Spuren der Jahre zu verdecken. Die großen Augen aber hatten noch immer ihren alten Glanz bewahrt, und schwarz und üppig, wie vor einem halben Jahrhundert, schmiegte sich auch heute das sorgfältig geordnete Haar an die weißen Schläfen an. Eine Häkelarbeit lag auf ihren Knieen. Starr blickte sie durchs Fenster ins Leere, während ihre schmalen Hände mechanisch mit einem Briefe spielten, welchen sie eben empfangen hatte. Plötzlich hob sie diesen wieder empor, und wie um zwischen den Zeilen nach irgend welchen besonderen Andeutungen zu forschen, las sie ihn zum zweiten Mal Wort für Wort langsam durch.

»Gnädige Frau,« hieß es, »noch auf vierzehn Tage an New-York gebunden, wo ich vor einigen Wochen nach einer mühevollen Reise aus dem Westen eintraf, beehre ich mich, für den Fall, daß Sie nicht durch meine junge Verwandte, an die ich mit letzter Post schrieb, bereits unterrichtet sein sollten, auch Ihnen den ungefähren Zeitpunkt meiner Heimkehr anzuzeigen. In meiner Hoffnung, hier endlich Nachrichten aus der Heimat vorzufinden, sah ich mich getäuscht. Dies beunruhigt mich in um so höherem Grade, weil ich seit anderthalb Jahren ohne jegliche Kunde geblieben bin. Wie werde ich den Karmeliterhof wiederfinden? Wie dessen Bewohner? Worin liegt die Ursache des geheimnißvollen, sogar beängstigenden Schweigens? Die fünfzehnhundert Dollars, welche ich vor sechs Monaten an Lucretia übermittelte, werden ihnen zu Händen gekommen sein. Bei der Verwendung der Summe, welche ich, nach Abzug Ihres Guthabens, zur vorläufigen Instandsetzung des Karmeliterhofes bestimmte, haben Sie in Wegerich gewiß einen dienstfertigen Ausführer Ihrer Pläne gefunden und hoffentlich Ihre eigenen Bequemlichkeiten und Neigungen als maßgebend gelten lassen. Ich deute damit an, daß Ihr Aufenthalt auf dem Karmeliterhofe durch nichts gestört oder verkürzt werden soll. Im höchsten Grade befremdet mich, daß Lucretia, trotz des mir ertheilten Versprechens, nie ein Wort an mich richtete. Ich zürne ihr nicht, aber ich bin besorgt um sie. Auch ihr erkenne ich das Asylrecht auf dem Karmeliterhofe auf so lange zu, wie sie sich daselbst heimisch fühlt und geneigt ist, die von meinem verstorbenen Onkel ihr testamentarisch zugesicherte Gastfreundschaft in Anspruch zu nehmen. Innerhalb drei bis vier Wochen, von heute gerechnet, werde ich den heimatlichen Boden wieder betreten. Dasselbe Dampfboot, welches mich vor anderthalb Jahren in die Welt hinaustrug, soll mich auch wieder zurückbringen. Mein erster Gang gilt dem Karmeliterhofe. Mögen meine Besorgnisse sich als übertrieben und ungerechtfertigt ausweisen. Mit den herzlichsten Grüßen an meine junge Verwandte, die anmuthige Gertrud und endlich an den getreuen Wegerich, habe ich die Ehre –« »Habe ich die Ehre,« wiederholte die Marquise theilnahmlos. Dann sah sie wieder zum Fenster hinaus. Nur wer sie genauer kannte, hätte entdeckt, wie es hinter diesem Mamorantlitz wirkte und arbeitete. Endlich erhob sie sich, und mit schleppendem Gange sich an den Sophatisch begebend, schrieb sie einen kurzen Brief. »An Fräulein Lucile Graniotti«, lautete dessen Aufschrift. Sie hatte kaum wieder am Fenster Platz genommen, als Lucretia eintrat und sich bescheiden nach ihren Wünschen erkundigte. Die Marquise dankte und forderte sie auf, sich zu ihr zu setzen. Indem Lucretia einen Stuhl herbeiholte, folgten die Blicke der Marquise aufmerksam ihren Bewegungen, als hätte sie ihre heutige Erscheinung mit derjenigen verglichen, welche sie beim ersten Zusammentreffen mit ihr bot. Hatte sich doch während der letzten achtzehn Monate eine gewisse träumerische Ruhe ihrem Wesen einverleibt, welche zwar das Kindliche verdrängte, dafür aber holde Jungfräulichkeit mehr in den Vordergrund treten ließ. Auch ihr Antlitz hatte sich verändert. Nicht mehr so rosig, erschien dessen Oval vollendeter. Die lieben freundlichen Züge erhielten dadurch in erhöhtem Grade einen schwermüthigen, sogar leidenden Ausdruck, der ohnehin durch den sinnenden Blick der guten blauen Augen bestimmt wurde.

»Wie lange ist es her, seitdem Rothweil uns verließ?« fragte die Marquise, sobald Lucretia Platz genommen hatte, und als sei es zufällig geschehen, legte sie die Handarbeit vor sich auf den offenen Brief.

»Achtzehn Monate und zehn Tage,« antwortet Lucretia lebhaft, doch lag es im Tone ihrer Stimme wie eine sanfte Klage.

»Und wie viel Briefe haben Sie in dieser Zeit empfangen?«

»In den ersten beiden Monaten drei; dann erfuhr ich nichts mehr von ihm.«

»Wunderbar. Sie stehen ihm doch am nächsten; es läßt sich kaum vermuthen, daß er an einen Anderen schrieb.«

»An keinen Anderen. Wo es nur immer möglich gewesen wäre, stellte ich Nachforschungen an.«

»Also auch bei Herrn Splitter?«

»Kein einziges Mal sah ich ihn, ohne ihn danach zu fragen.«

»Seltsam in der That, wenn auch nicht beunruhigend –«

»Und dennoch beunruhigt es mich im höchsten Grade,« fiel Lucretia ein und ihre Augen füllten sich mit Thränen, »zu fest versprach er, mich stets in Kenntnis über sein Ergehen zu erhalten. Ich sollte sogar zwischen ihm und Allen vermitteln, mit welchen er sich in Verkehr zu setzen wünschte.«

»Immer noch kein Grund zu Besorgnissen; wer weiß, ob da, wohin er sich begab, die Verkehrsmittel einen regelmäßigen Briefwechsel begünstigen.«

»Das war bisher mein Trost, oder ich hätte mich noch mehr geängstigt.«

»Sie verabsäumten vielleicht, ihm von hier aus Nachricht zu geben?«

»Seinem Rathe gemäß sandte ich alle vier Wochen einen Brief an ihn ab, und jeden einzelnen adressirte ich genau an seinen mir in den ersten Nachrichten ertheilten Angaben. Herr Splitter ist mein Zeuge. Er selbst trug alle zur Post. Der eine oder der andere muß sein Ziel erreicht haben.«

Die Marquise sah wieder zum Fenster hinaus. Sie wünschte zu verheimlichen, daß die Sorgenfalten zu beiden Seiten der zusammengepreßten Lippen sich etwas tiefer senkten, ihr Blick sich umdüsterte.

»Ich würde Ihnen rathen, fernerhin nicht mehr zu schreiben,« bemerkte sie nach einer Pause ruhig, »denn nach meiner Berechnung kann er sich kaum noch in Neu-Mexiko befinden.«

»Sie haben Nachricht von ihm?« fragte Lucretia, und die Spannung färbte ihr gutes Antlitz purpurn.

»Keine Nachricht,« hieß es eintönig zurück, »was könnte ihn veranlassen, sich an mich zu wenden?«

Lucretia neigte das Haupt. Ein Weilchen beobachtete die Marquise sie sinnend, dann fragte sie, wie um überhaupt das Gespräch weiter zu spinnen:

»Ist Herr Splitter lange nicht hier gewesen?«

Lucretia erschrak.

»Gewöhnlich einen Tag um den anderen besucht er den Karmeliterhof,« antwortete sie mit sichtbarer Anstrengung.

»So kurz vor der Hochzeit giebt es gewiß Mancherlei zu ordnen und zu verabreden,« warf die Marquise gleichmüthig ein. Lucretia schwieg; dagegen entdeckte die Marquise, daß es auf dem geneigten Antlitz kämpfte, als hätte sie in lautes Weinen ausbrechen mögen.

»Ist der Tag schon bestimmt?« fragte sie nach einer Pause.

»Ich weiß es nicht,« erklärte Lucretia kaum vernehmbar, »ich überlasse ihm Alles. Seitdem er meinen Wunsch, Rothweils Rückkehr abzuwarten, als ungerechtfertigt zurückwies, frage ich nicht mehr. Es scheint fast, als wüßte er, daß wir ihn nie wiedersehen würden.«

»Woraus schließen Sie das?«

»Er beruft sich darauf, daß ich eines gesetzlichen Schutzes bedürfe, wenn ich in die Lage gerathen sollte, als meines Verwandten Erbin aufzutreten. Es klang entsetzlich.«

»In seinen Worten liegt viel Wahres. Er wünscht also, Ihre Vereinigung zu beschleunigen?«

»In neuester Zeit mehr und dringender, denn je zuvor, bis ich endlich meinen Widerstand aufgab. Achtzehn Monate weigerte ich mich, ohne Rothweils Zustimmung den letzten Schritt zu thun; doch ich bin mürbe geworden. Ihr Zuspruch trug mit dazu bei, meinen Willen zu brechen,« und vorwurfsvoll klang Lucretia's Stimme.

»Nun ja,« versetzte die Marquise, die Brauen leicht runzelnd, »ich hob allerdings hervor, daß ein junges Mädchen wohl überlegen müsse, bevor es einen Heirathsantrag zurückweise, namentlich, wenn es so allein dastehe, wie Sie. Wie oft erlebte man, daß ein Herz, welches durch glänzende Außenseiten bestochen wurde, nach kurzem Traum in Jammer brach, während ein anderes, welches bei der Entscheidung manchen zarten Regungen fremd, allmälig eine Stätte des Glückes und des Friedens wurde. Nebenbei scheint sein Einkommen sich erhöht zu haben.«

»Auch das gab er als Grund seines Drängens an. Ich kümmere mich nicht darum. Mit dem Wenigsten bin ich zufrieden, und um ein Stückchen Brot brauchte ich mich nicht zu verkaufen,« bäumte Lucretia's geknechtetes Gemüth sich noch einmal empor; aber ein einziger Blick in die sie kalt beobachtenden Augen, und ihr erwachendes Selbstgefühl entschlummerte wieder.

»Fassen Sie Muth,« hob die Marquise an, »Herr Splitter ist ein Mann, der seine Frau auf den Händen trägt –«

Lucretia war aufgesprungen, sank aber sogleich wieder, wie entkräftet, auf ihren Stuhl zurück.

»Ihnen ergeht es,« fuhr die Marquise, die Störung scheinbar nicht beachtend, ruhig fort, »wie so vielen jungen Mädchen vor Ihnen und nach Ihnen. Jungfräuliche Scheu macht sie unfähig zu einem ernsten Gespräch über Ihre Zukunft. Und doch zwingt Theilnahme für Sie mich dazu, dieselbe ins Auge zu fassen. Sie erwarten Herrn Splitter vielleicht heute noch?«

»Ich erwarte ihn nie, aber er mag kommen.«

»So senden Sie ihn zu mir. Mit ihm will ich Alles vereinbaren, was ich zu Ihrem Frommen am Liebsten mit Ihnen selbst besprochen hätte. Und nun noch einmal: Fassen Sie Muth. Vergessen Sie nicht, daß auch von Seiten des Mannes ein hoher Grad von aufrichtiger Anhänglichkeit dazu gehört, ein Bündnis fürs ganze Leben einzugehen.«

Lucretia erhob sich. Im Tone der Marquise hatte gewissermaßen eine Verabschiedung gelegen. Mit einer höflichen Verneigung verließ sie das Zimmer, und gleich darauf trat sie bei dem alten Wegerich ein.

»Armes Kind,« lispelte die Marquise wie unbewußt, sobald sie sich allein befand, »gern möchte ich Dir den bitteren Kelch ersparen, allein ich kann nicht. Andere Rücksichten walten,« und ihr Antlitz versteinerte sich förmlich, »Rücksichten, die nicht umgangen werden dürfen, soll ich meiner Vergangenheit nicht untreu werden.«

Sie zog den Brief unter der Handarbeit hervor und las ihn zum dritten Mal mit großer Aufmerksamkeit. Am Schluß lächelte sie spöttisch.

»Wie mancher gemeine Verbrecher wurde auf Grund seiner Verwandtschaft geschont,« lispelte sie wiederum, »o, dieser Splitter ist ein scharf berechnender, ein kluger Mann,« und nachlässig griff sie nach Wolle und Häkelarbeit. –

Lucretia war kaum bei Wegerich eingetreten, als sie sich auf einen Stuhl warf, ihr Antlitz mit beiden Händen bedeckte und so bitterlich weinte, als hätte es einem letzten Abschied von allem Glück, allem Frieden gegolten. Traurig näherte Wegerich sich ihr. Jede einzelne Borste auf seinem Haupt schien sich vor Schmerz zu winden und noch steiler empor zu richten, während innige Theilnahme die Zahl der Falten in seinem bartlosen Gesicht verdoppelte. Da Lucretia auf seine erste Anrede kein Zeichen des Verständnisses gab, legte er seine Hand sanft auf ihr Haupt.

»Ich will mir zwar kein Urtheil darüber anmaßen,« sprach er ergriffen, »aber es kommt dennoch Alles vielleicht anders; in jedem Augenblick kann Herr Perennis eintreffen –«

»So sprechen Sie heut,« fiel Lucretia klagend ein, »so sprachen Sie vor vielen Monaten. Nein, er kehrt nicht zurück, und kommt er, so ist es zu spät. So lange ich den gefürchteten Zeitpunkt fern glaubte, beunruhigte das Verhältniß zu Splitter mich weniger. Allein jetzt, da ich keinen Ausweg mehr sehe, ist mir, als müßte ich in den Tod gehen. Ich ertrag's nicht, nein, ich ertrag's nicht!« –

»So wollen wir ihn abweisen,« suchte Wegerich, selbst seinen Muth nur erheuchelnd, die jugendliche Freundin aufzurichten.

»Ich kann nicht,« schluchzte Lucretia, »zu fest bin ich gebunden. Ich habe mich ihm versprochen – nicht einmal, sondern so oft er seine Augen auf die meinigen richtete und mich fragte – ach, eine unwiderstehliche Gewalt liegt in diesen Augen, die niemals lachen, keinen Widerspruch dulden – ich muß ihm folgen, ihm gehöre ich – ich kann nicht anders –«

Sie verstummte entsetzt. Sie hatte Splitters Schritte erkannt, indem derselbe mit seinem bedächtigen Wesen die Treppe erstieg.

»Um Gotteswillen, Herr Wegerich,« flüsterte sie von Todesangst ergriffen, »sagen Sie ihm, die Frau Marquise wünsche ihn zu sprechen. Ich will ihn jetzt nicht sehen – er darf nicht erfahren, daß ich weinte.«

Wegerich war schnell hinausgetreten; Lucretia hörte, daß er Splitter zur Marquise beschied.

»So grüßen Sie meinen guten Genius,« antwortete Splitter laut, denn er errieth Lucretia's Nähe, »viele tausend herzliche Grüße bestellen Sie ihr. Vergessen Sie nicht, ausdrücklich zu wiederholen, daß ich um keinen Preis ihr irgend welchen Zwang auferlegen möchte. Sei sie heute nicht in der Stimmung, mich zu sehen, so würde ich morgen wiederkommen.«

Er klopfte, und gleich darauf begrüßte er die Marquise unterwürfig.

»Sie begreifen, daß nur aufrichtige Theilnahme für meine junge Gesellschafterin mich dazu bewegen konnte, eine Unterredung mit Ihnen zu suchen,« hob die Marquise an, sobald Splitter auf ein Zeichen von ihr Platz genommen hatte, »aber auch an mich selbst denke ich indem ich zu wissen wünsche, bis zu welchem Tage ich mich deren Dienste noch zu erfreuen haben werde.«

»Eine bescheidene Wohnung habe ich in der Stadt bereits eingerichtet,« antwortete Splitter, und indem er den kalten Blicken der Marquise auszuweichen suchte, zuckten die Falten auf seiner Stirn vor Diensteifer hinauf und hinunter; »von einer Hochzeitsfeier müssen wir natürlich absehen. Einige Zeugen begleiten uns – ich habe gedacht, in zehn, spätestens zwölf Tagen und nachdem das letzte Aufgebot stattgefunden hat. Eine nähere Entscheidung möchte ich meiner jungen Verlobten anheimgeben.«

»Plötzlich so eilig?« fragte die Marquise, und ihre dunklen Augen schienen sich zu vergrößern, indem sie Splitter fest ansah.

»Nur im Interesse meiner jungen Verlobten,« erklärte Splitter, sich förmlich windend unter dem eisigen Blick; »ungern möchte ich bei dem zurückgezogenen Leben, welches sie führt, unseren Verkehr einschränken; die äußeren Formen verlangen immerhin ihre Rücksichten, und um böswilligen Deutungen zuvorzukommen, giebt es wohl kaum einen geeigneteren Weg, als die Trauung zu beschleunigen.«

»Ich darf Ihnen Glück zur Erhöhung Ihres Gehaltes wünschen?«

»Eine Gehaltserhöhung eigentlich nicht, indem ich mir ein eigenes Bureau einrichtete,« stotterte Splitter, und um dem forschenden Blick auszuweichen, glättete er anspruchslos seine Hutkrämpe, »sondern vielmehr eine Erhöhung des Einkommens überhaupt – eine kleine Erbschaft – ich wäre sonst schwerlich im Stande gewesen, schon jetzt meinen eigenen Herd zu begründen.«

Um die zusammengepreßten Lippen der Marquise spielte es wie unsägliche Verachtung. Doch keine zerspringende Stahlsaite hätte ausdrucksloser klingen können, als ihre Stimme, indem sie bemerkte:

»Ihre Pläne zeichnen sich stets durch große Klugheit aus. Ich betrachte dies als eine Bürgschaft für die Sicherstellung der äußeren Verhältnisse Ihrer jungen Frau. Nur Eins bedaure ich; nämlich, daß der jetzige Besitzer dieses Gehöftes, der junge Herr Rothweil, noch nicht heimgekehrt ist. Seine Anwesenheit würde viel dazu beigetragen haben, die letzten Bedenken des schüchternen Kindes zu beseitigen. Sie hängt mit großer Liebe an ihrem Verwandten; und wie sie mir anvertraute, ist sie seit sechszehn Monaten ohne Nachricht von ihm geblieben.«

»Niemand kann das tiefer beklagen als ich,« versetzte Splitter, wiederum mit seinem Hut beschäftigt, »es muß ihm irgend Etwas begegnet sein. An einen Unglücksfall glaube ich zwar nicht; dagegen erscheint nicht unmöglich, daß die Verhältnisse, in welche er auf der anderen Seite des Ozeans eintrat, seinen Geist in so hohem Grade umfingen, daß der Karmeliterhof sammt allen seinen Bewohnern, wenn auch nur vorübergehend, aus seinem Gedächtnis verdrängt wurde.«

»Ich pflichte Ihnen bei, Herr Splitter, irgend Etwas muß vorgefallen sein; doch geben wir uns darüber keinen weiteren Muthmaßungen hin. Ich billige, daß Sie das Mädchen, welches verwandtschaftlichen Schutzes entbehrt, in Ihren gesetzlichen Schutz nehmen wollen. Kehrt Herr Rothweil in nächster Zeit heim, so kann es ihm nur Befriedigung gewähren, Sie als Verwandten zu begrüßen.«

Obwohl mit ihrer Häkelarbeit beschäftigt, bemerkte die Marquise über dieselbe hinweg, daß Splitter bei ihren letzten Worten erbleichte und sich nur zustimmend zu verneigen vermochte. Sie gab sich das Ansehen, es nicht zu bemerken, und fügte eintönig hinzu:

»Dort auf dem Tisch liegt ein Brief, welchen ich recht sicher befördert haben möchte. Ich kann ihn wohl keinen zuverlässigeren Händen anvertrauen, als den Ihrigen. Er ist an eine Freundin gerichtet, welche ich eingeladen habe, einige Tage bei mir zu verleben. Vielleicht trifft sie früh genug ein, um Ihre Verlobte zum Traualtar zu begleiten.«

Wiederum verneigte Splitter sich unterwürfig. Die Marquise lächelte spöttisch, als sie entdeckte, wie gewaltig die Andeutung seiner Gewissenhaftigkeit ihn erschütterte. Sie mochte sich sein und Lucretia's Erstaunen vergegenwärtigen, wenn sie in dem angekündigten Besuch den Irrwisch früherer Tag erkannten. Da sie kein neues Gespräch anknüpfte, betrachtete Splitter die Audienz als beendigt. Unterwürfig, wie er eingetreten war, entfernte er sich wieder. Die Marquise neigte sich über ihre Arbeit. Ihre Ruhe schien durch die jüngste Unterhaltung nicht gestört worden zu sein. Nur einmal öffnete sie die Lippen und flüsternd entwand es sich denselben:

»Sie kann mir leid thun, die Kleine,« und gleichmäßig reihten sich die unter ihren Händen entstehenden Maschen aneinander. –

Als Splitter bei Wegerich eintrat, saß dieser an dem mit weiblichen Handarbeiten bedeckten Tisch Lucretia gegenüber. Was auch immer zwischen ihnen verhandelt worden war: Lucretia hatte Zeit gefunden, sich zu sammeln und die Spuren der Thränen von ihren Wangen zu entfernen. Beim Anblick Splitters erhoben sich Beide. Wegerich schlich scheu bis in den äußersten Winkel seines Zimmers, wogegen Lucretia, auf ihren Stuhl zurücksinkend, den Eindruck eines Opfers hervorrief, welches bereit ist, seinen Nacken unter den letzten Todesstreich zu beugen. Einen flüchtigen Blick des Argwohns sandte Splitter zwischen den beiden Vertrauten hin und her, dann trat er vor Lucretia hin, und deren Hand ergreifend, hob er dieselbe an seine Lippen. Mit der freien Hand strich er über das liebliche Haupt. Er fühlte, daß Lucretia zitterte. Eine Wolke des Mißmuthes, gleichsam ein Schatten seines Gespräches mit der Marquise, eilte über sein häßliches Antlitz. Doch schnell erhielt dasselbe wieder jenen Ausdruck unerbittlicher Strenge, gepaart mit einem Lächeln der Ueberlegenheit, vor welchem Lucretia heimlich in sich zusammenschauerte.

»Alles ist endgültig entschieden und geordnet,« sprach er, seinem rauhen Organ eine gewisse Weichheit verleihend, »und ich freue mich, daß die Frau Marquise meinen Plan in allen seinen Theilen billigt. Am zehnten Tage von heut gerechnet, findet das dritte Aufgebot statt; dann gebe ich Dir noch drei Tage Zeit. Innerhalb dieser Frist aber muß die Trauung stattfinden. Vielleicht ist es Dir lieb, vorher unsere Hauseinrichtung zu prüfen. Sie ist zwar einfach genug, allein ich glaube nicht, daß ich etwas vergaß.«

»Ich werde sie früh genug kennen lernen, wenn –« hob Lucretia an, stockte aber sogleich wieder. Sie vermochte den Gedanken nicht weiter zu spinnen.

»Und dennoch wirst Du Dich überzeugen, daß in den bescheidenen Verhältnissen nichts vernachlässigt wurde, vor Allem aber ich peinlich Deine eigenthümlichen Neigungen im Auge behielt,« bemerkte Splitter, ihre Hand etwas fester drückend. Zugleich suchten seine Amphibienaugen mit den scheinbar zitternden, kleinen Pupillen die ihrigen, wie in jenen Tagen, als der schäbige Bureauschreiber den Zwang des Lernens mit kleinen Näschereien versüßte, und wie damals beugte Lucretia sich auch heute unter die harte Nothwendigkeit. Der heitere Muthwille der damaligen Zwischenstunden war dagegen eingeschlummert.

»Wenn ich durchaus muß, werde ich hingehen,« antwortete sie mit jenem Ausdruck, wie man ihn einem, durch den sagenhaften Zauberblick einer Schlange gebannten Opfer vor der tödtlichen Umschlingung zuschreibt.

»Ja, Du mußt, mein theures Kind,« erklärte Splitter, und indem er mit den Lippen einen tief berechneten, harten Urtheilsspruch fällte, glitt die große Hand wieder schmeichelnd über das liebliche Haupt, »ich wiederhole: Du mußt. Ich darf nicht dulden, daß unsere künftigen Hauswirthe ein ungünstiges Urtheil über meine junge Braut fällen, ihr wohl gar Mangel an Theilnahme für die Stätte vorwerfen, auf welcher sie zum ersten Mal in die Pflichten und Rechte einer Hausfrau eintreten soll. Ueberhaupt muß ich ernstlich darauf dringen, daß jetzt, nach dem ersten Aufgebot, wir uns mehr in der Oeffentlichkeit zeigen. Wir werden gemeinschaftlich die Kirche besuchen und auf Spaziergängen uns erholen. Trug ich aber bisher Deinen absonderlichen Wünschen Rechnung, so kann das einzig und allein meiner herzlichen und aufrichtigen Neigung zu Dir zugeschrieben werden.«

»Ein halbes Jahr schenken Sie mir noch,« raffte Lucretia ihren letzten Muth zusammen, »bei Allem, was Ihnen heilig, bitte ich, gönnen Sie mir Zeit, und wenn auch nur drei bis vier Monate. Vielleicht ist Rothweil bis dahin zurückgekehrt; ich versprach ihm, ohne seinen Willen – und er vertritt doch gewissermaßen meine verstorbenen Eltern – keinen Schritt zu thun.«

Splitter sah zur Seite, um zu verbergen, wie es in seinen Augen feindselig aufleuchtete, dann sprach er bedächtig:

»Empfändest Du anders, so würde ich es tadeln. Die Anhänglichkeit an einen Verwandten und der Werth, welchen Du einer ihm unüberlegt ertheilten Zusage beimißt, verdienen sogar Anerkennung; allein in diesem Falle müssen Deine Bedenken schweigen. Denn hätte nach sechs Monaten Rothweil immer noch kein Lebenszeichen von sich gegeben, was dann? Wir befänden uns nicht nur auf derselben Stelle, wie heute, sondern hätten uns auch geschädigt. Und ferner – schmerzlich, wie es mir ist, es zu offenbaren: Ich kann mich von dem Gedanken nicht lossagen, daß Rothweil in dem fremden Lande in glückliche Verhältnisse eintrat und sich daher am wenigsten nach dem tief verschuldeten und zerfallenen Karmeliterhofe zurücksehnt.«

»Er thut es, ja, er sehnt sich zurück, wenn auch nur um seine Verpflichtungen gegen Andere zu erfüllen,« versetzte Lucretia leidenschaftlich, »sein letztes Wort an mich war: ›Auf Wiedersehen!‹ und ich weiß, über alle Hindernisse hinweg löst er sein Versprechen.«

»Aber wie, wenn statt seiner, wie bei seinem verstorbenen Onkel, die Kunde einträfe, daß er nicht mehr unter den Lebenden weile, schon längst die fremde Erde sein treues Herz decke? Wäre es dann nicht eine Wohlthat für Dich, Jemandem zu gehören, der Dir Alles, Alles ersetzte?«

Tiefer neigte Lucretia ihr Haupt, um die Thränen zu verbergen, die langsam und schwer über ihre Wangen rollten.

»Er lebt, ich weiß es,« sprach sie gedämpft, als wären ihre Worte nicht für Splitter bestimmt gewesen, »er kehrt auch zurück, mag es immerhin noch eine Weile dauern; aber er kommt, ja, er kommt, meine Ahnung kann mich nicht trügen.«

In Splitters Augen glühte wieder verhaltener Zorn, aber versöhnlich klang seine Stimme, indem er antwortet:

»Und wenn er kommt, soll er als theurer Verwandter mir tausendmal gegrüßt sein. In seinen Augen werden wir innere Befriedigung lesen, daß Du einen sicheren, treuen Hort fandest – doch Du bist ergriffen – Du möchtest allein sein, möchtest Dich sammeln, Dich im Stillen mit dem bevorstehenden Wechsel Deiner Lage vertraut machen und ich bin es, der auch Deine leisesten Wünsche achtet und ehrt. Und so scheide ich denn heute von Dir, um Dich vielleicht nach einigen Tagen erst wiederzusehen, dann aber hoffentlich in heiterere Augen zu schauen.«

Er küßte Lucretia auf die Stirn. Wohl fühlte er, daß sie vor seiner Berührung unabsichtlich zurückbebte; wohl fachte es seinen Verdruß, und mehr noch, seine Besorgnisse zu verborgen lodernden Flammen an, daß Lucretia, wie gebrochenen Herzens sitzen blieb, anstatt ihn bis zur Thür zu begleiten; allein er verstand es, sich zu beherrschen. Sanft, sogar vertraulich klang seine Stimme, als er, Wegerich zum Abschied die Hand reichend, ihn darauf vorbereitete, daß auch nach ihrer Verheirathung seine junge Schutzbefohlene noch manche Stunde, manchen Tag bei ihm auf dem Karmeliterhofe verleben würde.

Dann ging er. Aber nachdem er schon längst den Hof verlassen hatte, saß Lucretia noch immer auf derselben Stelle, beobachtete Wegerich noch immer von seinem Winkel aus trübselig die hin und wieder krampfhaft schluchzende zarte Gestalt.


 << zurück weiter >>