Balduin Möllhausen
Der Schatz von Quivira
Balduin Möllhausen

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Fünfunddreißigstes Kapitel.

Die Rache des Irrwischs.

Wie Gertrud vorhergesagt hatte, war es geschehen. Gefolgt von dem Rothkopf waren Splitter und Lucretia in dasselbe Haus eingetreten, nach welchem Ersterer sich nach der unerwarteten Zusammenkunft mit Bartel noch zur späten Abendstunde begeben hatte. Auch an dem heutigen Morgen war er schon dort gewesen, um sich zu überzeugen, daß eine Verzögerung nicht mehr zu befürchten sei, die ihn mit Lucretia unauflöslich vereinigende Handlung also schleunigst vollzogen werden könne. In dumpfer Ergebung war Lucretia neben ihm einhergeschritten. Wohin er sie führte, wo die Räumlichkeiten lagen, in welchen sie fortan als Hausfrau schalten sollte, kümmerte sie nicht. Erst als die Thür sich vor ihr öffnete und sie in ein Geschäftszimmer sah, in welchem zwei Herren vor einem mit mehreren großen Büchern und Schreibmaterialien bedeckten Tisch saßen, stieg eine Ahnung der Wahrheit in ihr auf. Sprachlos vor Entsetzen starrte sie auf Splitter. Dieser senkte einen seiner bannenden Blicke in ihre angstvollen Augen, und der Gewalt, welche er über sie besaß, sich vollkommen bewußt, sprach er zutraulich, aber auch wieder mit jenem strengen Ernst, der schon so vielfach ihren sich krampfhaft aufbäumenden Willen gebrochen hatte:

»Eine Ueberraschung, welche ich mit Rücksicht auf Deine Gemüthsstimmung einleitete,« hob er an, »so allein, wie Du in der Welt dastehst, und nur auf mich angewiesen, mußte ich befürchten, daß Dein armes schüchternes Herz« –

»Was – was soll ich hier?« fand Lucretia endlich Worte.

Splitter verneigte sich entschuldigend nach den ihn befremdet beobachtenden Beamten hinüber, dann kehrte er sich Lucretia wieder zu.

»Was zwischen uns auf den morgigen Tag verabredet wurde, es soll heute geschehen,« sprach er so sanft, wie es in seinen Kräften stand, »Besiege daher Deine Scheu –«

»Nimmermehr!« rief Lucretia mit ersterbender Stimme aus, »Sie haben gesagt: morgen, und so will ich den heutigen Tag noch für mich behalten.«

»Sie sind also mit Herrn Splitter einverstanden?« suchte der Beamte zu vermitteln.

»Ja, ich habe es ihm versprochen,« antwortete Lucretia, »aber nicht heute, nein, nicht heute –«

»Lucretia, besinne Dich,« fiel Splitter ernst ein, und er bezweifelte nicht, daß, wie so oft in seinem Leben, er auch heute ihren Widerstand brechen würde, »und wenn heimliche Scheu Dich erfüllt, ist es da nicht rathsamer –«

Die Thür öffnete sich und in derselben erschien der Rothkopf, die Aufmerksamkeit Aller sogleich auf sich lenkend. Lucretia athmete auf, als wäre der Anblick eines bekannten Gesichtes eine Beruhigung für sie gewesen, wogegen Splitter, trotz seines früheren beinah freundschaftlichen Verkehrs mit dem Eintretenden, sich entfärbte.

»Ich komme von dem Karmeliterhofe,« antwortete der Rothkopf zuversichtlich auf die wenig höfliche Frage des Beamten, »ich soll das Fräulein auffordern, sogleich nach Hause zu eilen. Es ist Jemand eingetroffen, welchen Sie seit langer Zeit nicht gesehen haben.«

»Wir werden bald erscheinen,« nahm Splitter das Wort, bevor Lucretia's ahnungsvolles Erstaunen sich löste, »gehen Sie nur voraus, in einigen Minuten folgen wir nach.«

»Das Fräulein möchte schnell kommen,« versetzte Wodei störrisch, indem er ein Papier aus der Tasche zog, es öffnete und es Splitter vor Augen hielt, »ich soll Ihnen diesen Schein zeigen, und Sie würden selber sagen, daß keine Minute verloren werden dürfe.«

Splitter athmete tief auf. Fühlend, daß alle Blicke auf ihn gerichtet waren, kostete es ihn unsägliche Mühe, wenigstens äußerlich eine nothdürftige Ruhe zu bewahren. Pläne der abenteuerlichsten Art durchzuckten wie Blitze sein Gehirn. Zugleich aber begriff er, daß nur die äußerste Vorsicht ihn retten, ihm wohl gar seine Beute erhalten könne.

»Ich errathe die Ursache der Störung,« kehrte er sich dem Tisch zu, »ein längst erwarteter Verwandter meiner Braut ist heimgekehrt, und um den Preis, ihn als Zeugen bei der feierlichen Handlung zu sehen, dürfen wir uns gern einen kleinen Aufschub gefallen lassen. Ja, Lucretia,« wendete er sich an diese, die einen Schritt von ihm fortgetreten war, augenscheinlich in der Absicht, dem an sie ergangenen Ruf schleunigst Folge zu leisten, »ich heiße den glücklichen Zufall willkommen – doch was säumen wir? Dein Vetter Perennis wird ungeduldig werden –« und mit einem erzwungenen sorglosen »auf Wiedersehen in den nächsten Tagen,« nach dem Tisch hinüber, bot er Lucretia den Arm. Auf der Straße trat der Rothkopf noch einmal neben sie hin.

»Die Herrschaften möchten den Uferweg einschlagen; sie würden beim alten Ginster erwartet,« sprach er vertraulich, dann hielt er sich weit genug zurück, um nicht als zu ihnen gehörig zu erscheinen. Aber Mühe hatte er zu folgen, indem Lucretia, von freudigen Ahnungen bewegt, ihre Schritte aufs Aeußerste beschleunigte und Splitter gleichsam mit sich fortzog. Was dieser zu ihr sprach, wie er sein Verfahren in ein günstiges Licht zu stellen suchte, hörte sie nicht. Es kümmerte sie nicht, daß er begeistert der Freude des Wiedersehens gedachte, nicht daß seine grauen Amphibienaugen mit den stechenden Pupillen bald ängstlich forschend auf ihrem Haupte ruhten, bald wieder über den breiten Strom hinschweiften, als hätte er ihn gefragt, ob tief unten auf seinem Boden nicht eine sichere Zufluchtstätte für ihn und eine Beute, ein sicherer Schutz gegen die ihm drohenden Verfolgungen. Zurück sahen weder er noch Lucretia. Sie würden sonst überrascht gewesen sein von der Genauigkeit, mit welcher der Rothkopf seine Bewegungen nach den ihrigen regelte. Er hatte sich eine schwanke Weidengerte geschnitten. Sorglos peitschte er mit derselben den Staub in dem Wege, köpfte er die noch frühlingssaftigen Distelbüsche und Butterblumen, schlug er hier nach einem vorübersegelnden weißen Schmetterlinge, dort wieder nach einer schlanken Libelle oder einem einfältigen Roßkäfer. Wahrhaftig, der Herr Sebaldus Splitter mit seinem belasteten Gewissen hätte ihn um die göttliche Sorglosigkeit beneiden mögen.

Als sie den Pfad erreichten, welcher zum alten Ginster hinabführte, blieb Lucretia stehen.

»Dort unten erwartet er uns,« sprach sie, den Amphibienaugen besorgt ausweichend, und sie deutete auf die gekreuzten Netzreifen und die ihr sichtbare langschirmige Mütze.

»Es dürfte kaum der geeignete Ort zu einem ersten Wiedersehen sein,« versetzte Splitter, welcher die angekündigte Zusammenkunft wenn auch nur noch um Minuten hinauszuschieben wünschte.

»Die Botschaft lautet: Beim alten Ginster,« erklärte Lucretia, die ihren Muth in demselben Maße wachsen fühlte, in welchem Splitter kleinmüthiger und nachgiebiger wurde. Sie wollte etwas hinzufügen, als es sich auf dem Abhänge zwischen den Weiden zu regen begann. Beide spähten erwartungsvoll hinab. Höher und höher kam es. Zunächst gewahrten sie ein schwarz verschleiertes Haupt, und endlich eine schlanke, dunkelgekleidete Gestalt. Der Gedanke an Gertrud, die längst Verschollene, lag Beiden zu fern, als daß sie dieselbe in der veränderten Hülle sogleich erkannt hätten. Doch als diese die letzte Abstufung, wenn auch nicht mit dem wilden Ungestüm des kein Hinderniß kennenden Irrwischs, dagegen mit unnachahmlicher Grazie und Sicherheit überwand, da legte Lucretia enttäuscht die Hand auf's Herz. Sie wußte, wer es war, den sie nach langer Zeit zum ersten Mal wiedersah. Wie Eiseskälte durchrieselte es sie; trotzdem hätte sie an Gertruds Brust Schutz suchen mögen, bei ihr, welche sie noch im letzten Augenblick vor einem Loose bewahrte, dessen sie schon seit Jahren mit Entsetzen gedachte, und in welches sie gewaltsam hineinzutreiben sich Alle vereinigt zu haben schienen. Und dennoch, wer konnte ahnen, errathen, was Gertrud bezweckte, sie, mit der sie am seltensten in Verkehr getreten war, unter deren tollen Irrwischlaunen sie sogar vielfach zu leiden gehabt hatte! Es geschah daher instinctartig, daß sie das Erkennen verheimlichte. Eingeschüchtert durch scharf berechnende Einflüsse im Laufe vieler Monate, kannte sie in diesem Augenblick nur die Empfindung der Furcht, durch irgend ein unbedachtsames Wort, selbst durch eine Bewegung die Schadenfreude, den Zorn des Irrwischs aufzustacheln, die vermeintliche Retterin in eine erbarmungslose Feindin zu verwandeln. Doch was Lucretia auf den ersten Blick sah, Splitter errieth es leicht aus dem Zusammenfallen von Umständen. Argwöhnisch starrte er auf das dichte Gewebe des Schleiers. Durch denselben hindurch fühlte er den Glanz ihm feindselig entgegenfunkelnder Augen. Eine goldblonde Locke, welche sich auf der einen Seite unter dem Schleier hervorstahl, überzeugte ihn, daß er sich in seiner Vermuthung nicht täuschte. Er gedachte eines, in weiter Vergangenheit liegenden Abends, als er die Spottlust des wilden Irrwischs in Haß verwandelte, um demnächst durch schamlose Verleumdungen dessen Rache herauszufordern. Dies Alles durchkreuzte sein Gehirn in dem verschwindend kurzen Zeitraum, welchen Gertrud gebrauchte, über die letzte kurze Strecke des Uferabhanges hinweg in den Leimpfad zu gelangen. Wie aber Lucretia, so scheute auch er, ein Erkennungszeichen von sich zu geben. War es Perennis, wie er ursprünglich vermuthete, der hier ein Wiedersehen herbeizuführen suchte, dann durfte er hoffen, um Lucretia's willen, deren Namen er bereits in so inniger Beziehung zu dem seinigen gebracht hatte, geschont zu werden. In Gertrud dagegen erblickte er eine Gegnerin, die nicht danach fragte, ob sie Lucretia oder irgend einen Anderen schädigte, wenn es ihr nur gelang, ihre Rache zu befriedigen.

Gertrud war vor Lucretia hingetreten. Gleichgültig dagegen, ob sie erkannt wurde oder nicht, forderte sie dieselbe auf, ihr zur Marquise zu folgen.

»Auch Sie, Herr Splitter, werden dort willkommen sein,« fügte sie zu diesem gewendet hinzu, »zugleich erfahren Sie, wie die Frau Marquise über Jemand denkt, der unter falschen Vorspiegelungen – doch das soll mich nicht kümmern.«

Sie nickte dem weiter abwärts stehenden Rothkopf ihren Dank zu, und ohne eine Erwiderung Lucretia's oder des sich heftig räuspernden Splitter abzuwarten, schlug sie die Richtung nach dem Karmeliterhofe ein. In der Entfernung weniger Schritte folgten jene ihr nach: Lucretia beklommenen Herzens, Splitter mit den Empfindungen Jemandes, der auf die Anklagebank geführt werden soll, um einen letzten Urtheilsspruch zu vernehmen. Selbst das Bewußtsein, daß die Marquise bisher seine Beziehung zu Lucretia billigte, gewährte ihm keine Beruhigung mehr. Hinter sich den Rothkopf, vor sich die erbitterte Gertrud, meinte er schon jetzt in Fesseln geschlagen zu sein. An seinem Arme aber die tief geknechtete holde Unschuld, hinderte ihn nur noch die Scheu vor ihr, sich selbst zu entlarven, schon jetzt alle Brücken hinter sich abzubrechen und die Flucht zu ergreifen.

Schweigend verfolgte Gertrud ihren Weg. Nur einmal, als der Hof in ihren Gesichtskreis trat, kehrte sie sich um.

»Der Hof würde sich anders ausnehmen, hätte man tausend Thaler darauf verwendet, ihn herauszuputzen,« sprach sie mit schneidendem Hohn, und hörbar lachend schritt sie weiter. Lucretia fühlte, daß Splitter bebte. Weder er noch sie wagten zu antworten oder irgend eine Bemerkung mit einander auszutauschen. Im Begriff, nach dem Hofe hinaufzubiegen, trat Wegerich, ebenfalls von der Stadt kommend, hinter dem Kelterhause hervor.

»Begleiten Sie uns!« rief Gertrud dem Bestürzten mit ihrer alten muthwilligen Irrwischstimme zu, »es können nicht zu viele Zeugen zugegen sein, wenn wir Abrechnung halten.«

Splitter bebte wieder bis ins Mark hinein. Mechanisch setzt er einen Fuß vor den andern. Anstatt Lucretia zu führen, die, schwankend zwischen Furcht und Hoffnung, wie eine Träumende einherschritt, lehnte er sich auf ihren Arm. Er schien sie als seinen Schild gegen die sich um ihn zusammenziehenden Ungewitter zu betrachten, nur noch von ihrer Person allein Rettung zu hoffen.

So bewegten sie sich über den Hof, so erstiegen sie die Treppe. Gertrud mit fester, sicherer Haltung zwei Schritte voraus. Vor der Thür der Marquise überzeugte sie sich durch einen Blick, daß Alle gefolgt waren, dann zog sie die Glocke. Die Thür wich nach innen und vor ihr stand die Marquise. Beim Anblick Lucretia's und Splitters trat sie zur Seite, um Alle zu sich hereinzulassen. Gertrud schlug unbefangen den Schleier zurück. Auf den Zügen ihrer alten Gönnerin entdeckte sie einen unzweideutigen Ausdruck der Befriedigung, welchen sie nicht zu deuten wußte. Am wenigsten ahnte sie, daß dieselbe als einen glücklichen Zufall pries, Lucretia, und zwar in Splitters Begleitung, zugleich mit ihr eintreffen zu sehen. Das eigenthümliche Funkeln in Gertruds Augen und das Zittern ihrer Nasenflügel schien sie dagegen wieder zu beunruhigen, denn sie hob, wie gebietend, die rechte Hand empor, während sie mit der linken nach dem Wohnzimmer hinüberwies. Doch ebenso leicht hätte sie die Fluthen eines Baches gehemmt, von welchem das Wehr fortgezogen worden, als die Ausbrüche der Entrüstung, die von Gertruds Lippen flossen.

»Ich habe geglaubt, gnädige Frau,« hob sie an, die Zeichen der Marquise durch trotziges Achselzucken beantwortend, »wenn Jemand seine Gewalt über ein schutzloses Mädchen so weit mißbraucht, daß er es unter falschen Vorspiegelungen auf eine Stelle führt, von welcher er es ein wenig später als seine Frau mit fortzunehmen gedenkt, so ist man berechtigt, ihn nach dem Verbleib von Briefen zu fragen, welche, durch seine Hände gehend, niemals ihr Ziel erreichten –«

»Eine Lüge!« brachte Splitter keuchend hervor, und mit festem Griff hielt er Lucretia's Arm, die bestürzt von ihm forttreten wollte.

Und wiederum mahnte die Marquise durch ein Zeichen zur Vorsicht, und wiederum antwortete Gertrud mit ihrem Achselzucken. Dann fuhr sie fort:

»Herr Splitter, ich habe keinen Namen genannt, und doch suchen Sie sich zu entschuldigen? Sie zeihen mich einer Unwahrheit. So beweisen Sie doch, daß das Geld, welches Sie im Namen des armen Mädchens hier erhoben, seine Bestimmung erreichte –«

»Gertrud, meine Wohnung ist kein Gerichtshof,« fiel die Marquise in ihrer Besorgniß ein.

In diesem Augenblick befreite Lucretia sich gewaltsam von dem krampfhaften Griff Splitters, und in lautes Schluchzen ausbrechend floh sie nach der offenen Thür des Wohnzimmers hinüber, wo sie sich an Perennis Brust warf.

»Rette mich,« sprach sie mit erstickter Stimme, »Perennis rette mich! Man will mich verderben – Perennis, warum hast Du mich vergessen? Perennis –« Sie konnte nicht weiter. Ihr Antlitz an seiner Brust bergend, weinte sie krampfhaft. Gerührt küßte Perennis sie auf die Stirn. Für ihn gab es keine Marquise mehr, die sich plötzlich in Stein verwandelt zu haben schien, keine Gertrud, in deren prachtvollen Augen, nach dem ersten Erstaunen über Perennis' Anwesenheit, die wilde Irrwischnatur triumphirend aufloderte, keinen entsetzt in sich zusammenschauernden Splitter, keinen Wegerich, der Letzterem über die Schulter spähte, und dessen graue Borsten sich vor Wonne noch steiler emporrichteten, während seine Augen in hellem Wasser schwammen. Todtenstille war eingetreten. Sogar die Marquise, welche allein um Perennis' Nähe wußte, hatte die Bestürzung gelähmt. Zu himmelweit verschieden war die vor ihren Blicken sich entwickelnde Scene von derjenigen, welche sie erwartete und bis zu einem gewissen Grade vorbereitete. Hatte sie doch nicht vorhersehen können, daß Gertruds Kampfeslust einen Charakter gewinnen würde, welcher Perennis bewog, seinen Sitz zu verlassen und leise in die Thür zu treten. Niemand bemerkte diese Bewegung, alle Blicke hingen an Gertruds Lippen, die entschlossen der Marquise ins Antlitz schaute. Auf Perennis wirkte der Anblick Gertruds förmlich erstarrend ein; doch genügten ihre Worte, ihn einigermaßen über die Sachlage aufzuklären. Ob sie mit zu denjenigen zählte, unter deren heillosem Druck Lucretia sich ohnmächtig wand, erwog er in diesem Augenblick nicht. Er sah nur den Ausdruck namenloser Angst auf der jungen Verwandten bleichem Antlitz, den tiefen Leidenszug um den lieblichen Mund, las aus den blauen Augen das trostlose Bewußtsein gänzlicher Vereinsamung, und das Herz wollte ihm brechen bei dem Gedanken an die unsäglichen Qualen, welche das arme schutzlose Opfer hinterlistiger Berechnungen und vergiftender Einflüsse während seiner langen Abwesenheit erduldete. Als Lucretia aber endlich, rathlos im Kreise schauend, ihn erblickte, als er gewahrte, wie ein Strahl des Entzückens in ihren Augen aufleuchtete, da wußte er, wohin sie gehörte. Und als er seine Arme ausbreitete, da ruhte sie auch schon an seinem Herzen, um nie wieder von demselben losgerissen zu werden.

»Nun beruhige Dich,« brach er nach einer langen Pause das Schweigen, Lucretia's Haupt sanft aufrichtend, »ich bin jetzt bei Dir um Dich zu lieben immerdar, Dich zu beschützen gegen jeden, der auch nur mit einem Blick Deinen Frieden zu stören trachtet, Du mein armes verfolgtes Herz.«

Er sah auf die Marquise, deren Antlitz sich wieder versteinert hatte. Ein von ihr mit weiter Voraussicht gehegter Plan war zerschellt, allein der kaum bemerkbare Hohn, welcher um ihre Lippen zuckte, bewies, daß sie noch immer von dem Bewußtsein getragen wurde, entscheidend in die sich vor ihr verschürzenden Beziehungen eingreifen zu können.

Von der Marquise schweiften seine Blicke zu Gertrud hinüber. Deren Aeußeres überraschte ihn kaum. Aber in ihren Augen las er, daß Lucretia wenigstens in ihr eine Freundin gefunden hatte, wenn er auch nicht ahnte, in wie weit sie deren Retterin geworden.

»Gertrud,« ertönte seine Stimme laut durch das stille Gemach, »das ist der Freude beinah zu viel, daß ich auch Sie hier wiederfinde,« und wie einem alten lieben Freunde reichte er der unbefangen Nähertretenden die Hand.

Gertrud warf einen triumphirenden Blick auf die Marquise, der von dieser allein verstanden wurde.

»Dein Rachewerk hast Du gut vollbracht,« sprach sie anscheinend ruhig, »ich hätte es Dir kaum zugetraut.«

»Ich glaubte einst, die Rache sei süß,« antwortete Gertrud, und eine eigenthümliche Würde umfloß den einst so spottlustigen Irrwisch, »allein seitdem sie in den Bereich meiner Hand gelegt wurde, erscheint sie mir verächtlich. Und gar an ihm sollte ich mich rächen?« fragte sie, indem sie geringschätzig auf Splitter wies, der sich kaum noch aufrecht zu halten vermochte, dagegen Blicke ohnmächtiger Wuth und Angst unter seinen feige gesenkten Lidern hervorsandte, »gegen ihn, der sich einst nicht scheute, eine unbescholtene Person mit Schmach zu beladen? Nein, sicher nicht. Ich habe für Fräulein Lucretia gekämpft, und nicht für meine Rache. Und wenn Herr Rothweil glaubt, mir eine kleine Anerkennung zu schulden, so wird er geschehen sein lassen was nicht zu ändern ist, um des glücklichen Wiedersehens willen von der Verfolgung Jemandes absehen, der freilich eine gerichtliche Vergeltung verdiente.«

Dann zu Splitter, nachdem sie in Perennis' Augen eine zustimmende Antwort gelesen zu haben meinte: »So rächte ich mich, Herr Splitter. Ich denke, hier hält Sie nichts mehr, und wenn ich, der von Ihnen verachtete und verleumdete Irrwisch, Ihnen rathen kann, so gehen Sie mit Ihrem Raube weit genug fort, um nie mehr Gefahr zu laufen, Einem von uns zu begegnen.«

Sie säumte ein Weilchen. Einen spöttischen Blick sandte sie Splitter nach, der sich in der That so geräuschlos, wie möglich, entfernte, dann lachte sie so hell und melodisch, wie nur jemals der Irrwisch, wenn er einen zudringlichen Blick mit seinem lustigsten Spott lohnte. Die Marquise allein mochte errathen, daß der Ausbruch ihrer Heiterkeit erkünstelt, daß hinter derselben geheimes Weh das junge Herz durchzitterte. Den Zweck aber, welchen sie mit dem Lachen verband: das allseitige Erstaunen von sich abzulenken, erreichte sie nicht. Und wer, außer der Marquise, hätte seinen Sinnen gleich getraut, als er das in der Erinnerung noch so frisch lebende barfüßige Fischermädchen in einer solchen Weise auftreten sah und urtheilen hörte?

»Doch auch ich will gehen,« schloß Gertrud an das Lachen an, »morgen sehen wir uns alle noch einmal wieder, und dann gehts fort, so schnell wie Dampfwagen nur rollen können.«

»Dein Urlaub ist noch nicht abgelaufen,« versetzte die Marquise streng.

»Er ist abgelaufen zu jeder Stunde, welche ich wähle,« antwortete Gertrud trotzig; doch wie ihre Worte bereuend, trat sie vor die Marquise hin, ehrerbietig deren Hand küssend.

»Vielleicht gebe ich noch einen Tag zu,« sprach sie gedämpft, »länger aber duldets mich nicht in dieser Gegend.«

Sie reichte Perennis die Hand, küßte Lucretia, und zwar so schnell, daß Niemand Zeit fand, ein neues Gespräch mit ihr anzuknüpfen. Zuletzt trat sie vor Wegerich hin, auch seine Hand drückend.

»Wie sich die Zeiten ändern,« sprach sie munter, augenscheinlich um keinen Anderen mehr zu Worte kommen zu lassen, »entsinnen Sie sich noch des Kindes, welches Sie einst fragte, ob der Teufel Erbsen auf Ihrem Gesicht gedroschen habe? Das ist lange her, und heute erkenne ich an Ihnen nur noch ein liebes, gutes, altes Gesicht,« und aus dem Zimmer glitt sie und die Treppe eilte sie hinunter, eine so lustige Melodie vor sich hinsingend, als wäre sie noch der Irrwisch früherer Jahre gewesen.

»Auch wir wollen uns zurückziehen,« kehrte Perennis sich, Lucretia noch immer im Arm, höflich der Marquise zu, »ich sehe es unserem alten Freunde dort an, wie er sich sehnt, Rechenschaft über seine Verwaltung abzulegen.«

»Und ich darf der gnädigen Frau weiter zu Diensten sein?« fragte Lucretia mit rührender Schüchternheit.

Die Marquise sann einige Sekunden nach; doch wie ergriffen durch das freundliche Bild, welches Lucretia mit den flehenden Augen ihr bot, antwortete sie in ungewöhnlich mildem Tone:

»Wenigstens so lange, bis ich eine geeignete Stellvertreterin gefunden habe – doch heute möchte ich nicht mehr gestört sein. Es sind der Erregungen bereits zu viele für mich gewesen. Außerdem die Briefschaften, welche Sie mir einhändigten,« kehrte sie sich Perennis zu, »sie wollen mit Bedacht gelesen sein. Später darf ich Sie wohl um eine Unterredung bitten. Dieselbe wird rein geschäftlicher Natur sein,« fügte sie mit einem eigenthümlichen Lächeln hinzu, welches man ebenso gut für ein feindseliges, wie für ein theilnahmvolles halten konnte; »es betrifft den Karmeliterhof und seinen künftigen Besitzer, dessen einziger Gläubiger ich bin. Ich erlaubte mir nämlich, die Hypotheken anzukaufen.«

»Die abzulösen ich zu jeder Stunde bereit bin,« erklärte Perennis achtungsvoll, »vorausgesetzt, Sie ziehen nicht vor, mich auch fernerhin als Ihren sichern Schuldner zu betrachten.«

»Wir werden sehen,« versetzte die Marquise, und schärfer gelangte das zweideutige Lächeln zum Ausdruck.

Sie verneigte sich und gleich darauf befand sie sich allein. In ihr Wohnzimmer zurückgekehrt, wo sie keinen Zeugen zu fürchten hatte, offenbarte sich erst, welche Anstrengung es sie gekostet hatte, während der jüngsten sich gewissermaßen überstürzenden Ereignisse ihre Selbstbeherrschung zu bewahren. Hinfälligkeit gelangte in ihrer Haltung zum Ausdruck, ihre Züge erschlafften, indem sie sich in die eine Ecke des Sophas lehnte. Der ihr von Perennis eingehändigte Brief lag auf dem Tisch. Starr betrachtete sie denselben. Es war, als hätte sie gefürchtet, dessen Inhalt kennen zu lernen. Eine Aufwärterin aus der Stadt brachte das Mittagessen und deckte den Tisch. Sie schien es nicht zu bemerken. Nach einer Weile trat jene wieder ein, um abzuräumen. Sie zögerte und blickte fragend auf die Marquise. Die Speisen waren nicht angerührt worden. Durch einen Wink bedeutete die Marquise sie, Alles wieder fortzunehmen, und weiter grübelte und sann sie in der Einsamkeit ihres Zimmers starren Blickes und regungslos. Einen schweren Seelenkampf kostete es sie, bis sie sich endlich entschloß, ihre Vergangenheit, und zwar von einem anderen Standpunkte aus, als von dem ihrigen, vor sich entrollt zu sehen. Mit fester Hand breitete sie das Heft aus. Langsam begann sie zu lesen und mit Bedacht, als hätte sie zwischen den Zeilen noch besondere Aufklärungen zu finden erwartet. Anfänglich behielt ihr Antlitz den gewohnten starren Ausdruck, nur flüchtig unterbrochen durch höhnisches Lächeln. Indem sie sich aber dem Schluß näherte, wurden ihre Züge weicher, und fester hielten die schlanken Finger den Rand der Blätter. Sie wollte ein krampfhaftes Zittern unterdrücken, allein es gelang nicht. Eine Thräne rollte über ihre Wangen und noch eine. Sie entfernte dieselben mit ihrem Tuch. Neue Tropfen folgten den ersten, wieder und immer wieder, bis sie denselben endlich freien Lauf gönnte.

»Und so trennten sich zwei Herzen, die vielleicht für einander bestimmt gewesen, um später eins des anderen nur mit Groll und Haß zu gedenken,« las sie mit halberstickter Stimme. Sie neigte das Antlitz in ihre Hände, wie um sich gegen den Anblick der vertrauten Schriftzüge zu schützen. Lange saß sie regungslos, als sei das Leben dem in sich zusammengesunkenen Körper bereits entflohen gewesen. Als sie endlich wieder emporsah, schien sie um viele Jahre gealtert zu sein. Mit den Thränen hatte sie die Schminke bis auf die letzte Spur von ihrem Antlitz entfernt. Tiefer hatten die Leidensfurchen sich in die bleiche Haut eingegraben. Aber Entschlossenheit thronte wieder auf ihren Zügen, jene verzweiflungsvolle Entschlossenheit, welche der Hand die Sicherheit verleiht, ohne zu zittern, den Giftbecher an die Lippen zu heben. Und weiter las sie Wort für Wort, anfänglich flüsternd, dann aber laut und vernehmlich, als hätten die Augen nicht genügt, sich mit dem Inhalt des Schriftstückes vertraut zu machen.

»Lucile, ernste Todesgedanken beschleichen mich; sie weihen meinen letzten Gruß –« tönte es feierlich durch das stille Gemach, »Lucile, lebe wohl!«

Das Heft entsank ihren Händen, ihre letzte Kraft schien gebrochen zu sein. Und wiederum ermannte sie sich. Eine verschließbare Mappe zog sie zu sich heran, und dieselbe öffnend, nahm sie das Portrait eines Mannes im rüstigsten Alter aus derselben. Das legte sie vor sich hin, das Kopfende etwas erhöht. Um den erschlaffenden Oberkörper zu stützen, lehnte sie sich zurück. Ihre Augen blieben dagegen starr auf das Portrait gerichtet. Was in ihrem Innern vorging, was sie empfand, es offenbarte sich in den Worten, welche hin und wieder sich flüsternd ihren Lippen entwanden:

»So trennten sich zwei Herzen, die für einander bestimmt gewesen, um später eins des andern nur mit Haß und Groll zu gedenken.« –

Die Zeit verrann, die Blicke unbeweglich auf das Portrait gerichtet, saß die Marquise. Wenige Schritte von ihr, in der Wohnung des alten Wegerich, schlugen die Herzen höher beim Rückblick auf die Vergangenheit, höher in freudiger, zuversichtlicher Hoffnung auf die Zukunft. Der alte Wegerich war überglücklich. Er konnte nicht fassen, daß zur Wahrheit werden sollte, was er nicht einmal in seinen Träumen als eine Möglichkeit ins Auge zu fassen gewagt hatte. Wie ein Schneeglöckchen, welches die erwärmenden und belebenden Sonnenstrahlen der es fast erdrückenden Eislast entkleiden, athmete Lucretia auf, indem sie in Perennis' entzückte Augen schaute. Die überstandenen Leiden versanken in Vergessenheit. Mit dem erwachenden Frohsinn früherer Tage ging Hand in Hand die freundliche Fürsorge für Andere. Es gewann neue Lebenskraft ihr altes, heiteres Selbstbewußtsein. An Perennis' Seite kannte sie keine Furcht mehr; die Erinnerung an die Blicke aus den unheimlichen Amphibienaugen hatte jeglichen Schrecken für sie verloren.

»Wann Du willst, wann Du es bestimmst,« beantwortete sie mit holdseligem Erröthen eine ernste Frage Perennis', und sie erstaunte selber über den Muth, mit welchem sie plötzlich des Amtsregisters und des Traualtars gedachte.

Wie den drei glücklichen Menschen doch so schnell die Zeit enteilte! Erst als sie bei der hereinbrechenden Dunkelheit kaum noch Einer des Anderen Züge zu unterscheiden vermochten, wurden sie inne, daß der Nachmittag verstrichen sei. Wenige Schritte von ihnen, da starrte die Marquise noch immer durch die Dunkelheit hindurch auf das vor ihr liegende Portrait. Wer kümmerte sich heute viel um die alte wunderliche Dame? Hatte man doch kaum noch Gedanken für Gertrud, obwohl deren Bild in den Herzen von allen Dreien eine so warme Stätte gefunden hatte.

Und Gertrud selber? Die schloß um diese Zeit einen langen, langen Brief an die Marquise. In heiterem Geplauder versicherte sie dieselbe ihrer unbegrenzten Dankbarkeit und treuen Anhänglichkeit. Nach alter Irrwischweise trug sie ihr lustige Grüße an Perennis, Lucretia, den alten Wegerich, sogar an den gottvergessenen Rothkopf auf. »Wenn Sie dies lesen, bin ich weit von hier,« hieß es am Schluß, »nur meinen alten Großvater besuche ich noch einmal, meine Stiefgeschwister und deren Mutter, welchen Allen ich kleine Ueberraschungen zugedacht habe. Was soll ich noch auf dem Karmeliterhofe? Mir beim Abschied die Augen aus dem Kopf weinen? Oder gar hören, daß ich mir ebenfalls einen guten Mann aussuchen möge? Meine liebe, meine schöne, meine verehrte Frau Marquise! Was sollte ich mit einem Mann? Tänzerin bin ich, Tänzerin will ich bleiben! Und versagen mir endlich die Kräfte und wird mein Gesicht alt und runzelig, so finde ich vielleicht ebenfalls einen lustigen Irrwisch, der mir die Grillen vertreibt und mit derselben Dankbarkeit an mir hängt, wie ich an meiner treuen Wohlthäterin. Bei meinem Freunde Bartel und seiner Kathrin bin ich gestern noch einmal gewesen. Wie die beiden zanksüchtigen Menschen sich jetzt so gut vertragen! Es ist doch merkwürdig mit dem Ehestande. Beim Abschiede weinten alle Drei wie die Kinder, und ihren Jungen konnte ich nicht oft genug küssen. Beide gelobten heilig, daß ihre erste Tochter Gertrud getauft werden solle, sie dieselbe aber nur Irrwisch rufen würden 'von wegen der Erinnerung,' meinte der Bartel, und die Kathrin gab ihm recht. Aber Sie halten Wort, gnädige Frau und besuchen mich. Sie müssen sich durch Augenschein überzeugen, ob ich Ihrem Namen Ehre mache. Immer und ewig Ihr dankbarer Irrwisch, Ihre anhängliche Gertrud Schmitz.«

An Alle hatte Gertrud in ihrem sehr schön geschriebenen Briefe gedacht; nur nicht an den armen Jerichow. Und dennoch, wenn dieser sie beobachtet hätte, wie sie eine Stunde später so ernst, den geschlossenen Brief betrachtete und dabei ihr junges Leben noch einmal vor ihrem Geiste vorüberziehen ließ, wenn er gesehen hätte, wie heiße Thränen ihren Augen entquollen und langsam und schwer über ihre Wangen rollten: Seine Hände hätte er zum Himmel erhoben, inbrünstig von ihm erflehend, daß er einen Engel senden möge, diese Thränen zu trocknen, welchen Einhalt zu gebieten nicht in der Gewalt eines irdisch Geborenen. – –


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