Balduin Möllhausen
Der Schatz von Quivira
Balduin Möllhausen

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Siebentes Kapitel.

Der Schulmeister.

Lachende Gefilde umringen den Karmeliterhof und seine wüsten Gärten in weiterem Umkreise. In der Ferne tauchen langgestreckte Dörfer auf, welche bis in die kleinsten Hütten hinein ein gewisser Charakter ländlicher Betriebsamkeit und Wohlhabenheit auszeichnet. In einem dieser Dörfer, halb versteckt zwischen Weinbergen und Obstgärten, braucht man nur den bescheidenen Kirchthurm zum Wegweiser zu wählen, um vor das mit gediegener Einfachheit errichtete Schulhaus zu gelangen. Freundlich umhüllt von Bäumen lugt es mit dem blumenreichen Vorgarten gleichsam schüchtern in die Welt oder vielmehr auf die einzige breite Dorfstraße hinaus.

Die sich westlich neigende Sonne beleuchtete röthlich das bemooste Schieferdach des Kirchthurms, die strohgedeckten Scheunen und Ställe, und endlich den gewaltigen Hollunderstrauch auf dem Giebel des Schulhauses, welcher sich laubenartig über einen mit dem Erdboden vereinigten Gartentisch und ähnlich hergestellte Bänke wölbte. Auf der einen Bank vor dem Tisch saß der Schulmeister, eine jener aus Mangel und Noth hervorgegangenen achtungswerthen Gestalten, welche, in der Ausübung ihres Berufes kaum über den Neuling hinaus, neben weihevollem Ernst sich durch einen gewissen jugendfreudigen Enthusiasmus auszeichnen, der sie wiederum anspornt, durch eifriges Lesen der Werke hochberühmter Forscher und Denker ihr Wissen auf eigene Hand und heimlich weit über die von strengen Regulativen gezogenen Grenzen hinaus auszudehnen. Von dem Pfarrer wie von den Eingepfarrten bei seinem Antritt herzlich willkommen geheißen, ruhte in seinen klugen hellbraunen Augen reine Ueberzeugungstreue und warmer Eifer, den von ihm gehegten Erwartungen nach jeder Richtung hin zu entsprechen. Noch unverheirathet, fehlte ihm außer dem ihn schützenden Dache, eine eigentliche Häuslichkeit. Er war deshalb darauf angewiesen, abwechselnd bei den vornehmeren Mitgliedern der Gemeinde zu Tische zu sitzen, ein Umstand, welcher des Peinlichen durch die Herzlichkeit entkleidet wurde, mit welcher man ihn überall willkommen hieß. Den Hut hatte er neben sich auf die Bank gelegt, daß der unter dem Holunder hinstreichende sanfte Luftzug mit seinem braunen Haar spielte. Innere Zufriedenheit thronte auf dem redlichen Antlitz, aufrichtiges Wohlwollen tönte aus seiner Stimme hervor, indem er, ein offenes Buch vor sich, einen belehrenden Vortrag hielt, nur zeitweise einen Blick auf die bedruckten Seiten senkte und dann wieder frei in die auf ihn gerichteten großen Augen des unsteten Irrwischs, der graziösen Gertrud, schaute.

Diese saß ihm gegenüber, und wer sie beobachtet hätte, wie ihre Blicke mit gespannter Aufmerksamkeit an den Lippen des jungen Schulmeisters hingen, der würde schwerlich geahnt haben, daß sie selbigen Tages vor der Marquise mit zügelloser Begeisterung die kühnsten und schwierigsten Stellungen ausführte, eine Stunde später vielleicht einen auf sie gerichteten bewundernden Blick mit beißendem Spott lohnte, einen andern, welcher ohne Huldigung über sie hinschweifte, durch diese oder jene trotzige Bemerkung auf sich lenkte.

Vor ihr auf dem Tisch lagen mehrere Hefte mit den Proben einer schönen, wenn auch noch wenig geläufigen Handschrift. Die Tinte war in der benutzten Feder längst getrocknet, so lange hatte Herr Jerichow über eine Stelle in den schriftlichen Arbeiten seiner Schülerin gesprochen.

»Bei Deinem scharfen Verstande wäre es vergebliche Mühe, die mir in meinem Lehrplan vorgeschriebenen Grenzen genau innezuhalten,« erklärte er, während glühender Eifer seinem beinahe mädchenhaft zarten Antlitz eine tiefere Farbe verlieh. »Derselbe ist ohnehin für jüngere Gemüther berechnet, denen es schwerlich zum Heil gereichte, wollte man den Kreis ihres, nur für ländliche Verhältnisse berechneten Wissens in einem Grade erweitern, daß sie, nachdem ihnen das fernere Vordringen abgeschnitten wurde, dadurch in endlose Zweifel gestürzt würden. Solche Zweifel aber könnten nur jene glückliche Ruhe erschüttern, welche einem kindlich einfältigen, ich möchte fast sagen: blinden Glauben entspringt. Mit Dir ist es ein Anderes. Bei Deinem scharf auffassenden Geiste, nebenbei geheimnißvollen, wenigstens für mich geheimnißvollen Einflüssen unterworfen, wäre es ein Frevel, Dich jetzt noch in jene Grenzen zurückzuweisen zu wollen. Es fehlt Dir zwar das Verständniß für manche Dinge, aber Deine Fragen beweisen, daß es nur des Eingehens auf dieselben bedarf, um Dich Schritt für Schritt weiterzuführen auf den Pfaden höherer Gesittung, wie sie im Allgemeinen – und ich erhebe deshalb keinen Vorwurf gegen eine ganze Menschenklasse – in Deinen Kreisen nicht gewöhnlich. Der Abdruck eines Farrenkrautblattes auf einem Schieferstein, von welchem Du weißt, daß er aus tiefem Erdschacht ans Tageslicht gefördert wurde, veranlaßt Dich zu der Frage, wie das Blatt dorthin gekommen, weshalb es, zwischen hartes Gestein gebettet, überhaupt nicht spurlos verschwand, sondern bis in die feinsten Gliederungen hinein seine Form bewahrte. Eine bequeme Antwort wäre, Dich an den Glauben zu mahnen, der Berge versetzt, anstatt Dingen nachzuforschen, welche dem menschlichen Geiste unergründlich. Einfältigen Gemüthern würde diese Anwort genügen, ein Mehr könnte sogar nachtheilig wirken, könnte ihren religiösen Glauben zu einem Schatten herabwürdigen, ihre Furcht vor einer Vergeltung durch göttliche Gerechtigkeit vernichten und damit dem allmäligen Versinken in Verderbniß die Thore öffnen. Dir hingegen darf ich frei offenbaren, sogar ohne Dich, so weit meine eigenen schwachen Kräfte reichen, mit den Grundsätzen dieser oder jener Wissenschaft vertraut gemacht zu haben: Tief unten im verborgensten Schoße der Erde ruhen Wälder, Wiesen und Sümpfe; hoch nach den Gebirgen hinaus verirrten sich Meeresgründe, die heute noch, zu festem Gestein erhärtet, die unzweideutigen Proben eines einstigen organischen Lebens in sich einschließen. Zwischen diesen beiden Grenzlinien aber schiebt sich Alles durcheinander, je nachdem die Erdrinde immer wieder erschüttert und umgestaltet wurde. Ich lese Erstaunen in Deinen Blicken, jedoch ein gläubiges, obwohl Ursachen und Wirkungen Dir wohl für Deine Lebenszeit fremd bleiben werden. Und wie wäre es auch möglich, Dich über Alles aufzuklären, was, in viele besondere Fächer sich abzweigend, ebenso vielen hocherleuchteten Köpfen und Korporationen von Köpfen eine besondere Lebensaufgabe bildet. Ein Segen ist es daher für Dich, wenn Du Jemand fandest, dessen Mittheilungen Du unbedingten Glauben beimißt, Jemand, der in Deinem Gemüth einen dankbaren Boden für seine Lehren findet, freudig die Gelegenheit willkommen heißt, gewissermaßen aus sich herauszugehen, auf kurze Zeit abzulegen die Schnürbrust strenger Verordnungen –« er verstummte, lächelte zweifelnd und sprach dann mit schwermüthigen Ausdruck: »Kannst Du mir folgen auf dem Wege, welchen ich unwillkürlich, sogar unüberlegt einschlug, und bist Du zufrieden mit dem, was Dir erklärlich?«

In Gertruds Augen leuchtete es heller auf. Zu ihrem einfachen, beinahe ärmlichen Aeußern contrastirten wunderbar die anmuthige Haltung und gespannte Aufmerksamkeit. Ihre ungeregelten, in stetem Kampfe unter sich befindlichen Anschauungen hatten auf den Grundlagen des von der Marquise mit peinlicher Sorgfalt ausgebildeten Schönheitssinnes unstreitig eine Veredelung erfahren; ob sie aber für das, was sie vernahm, ein volles Verständniß besaß, wer hätte es errathen? Sie selbst wäre am wenigsten fähig gewesen, Auskunft darüber zu ertheilen. Denn wie Jerichow aus ihrem durch glühenden Eifer noch verschönten Antlitz seine Begeisterung herleitete, durch den Ausdruck desselben bis zu einem gewissen Grade getäuscht, mit seinen Offenbarungen immer weitere Kreise um sie zog, so weite Kreise, daß sie schließlich ihren Blicken entschwanden; wie seine Begeisterung in demselben Maße wuchs, in welchem er sich in Schilderungen vertiefte, die in seiner Stellung ihm selbst als eine verbotene Frucht erschienen, die er nur vorsichtig berühren durfte, denen er sogar ängstlich auswich, um nicht gegen sein besseres Wissen zu lehren, nicht ein Heuchler zu werden: so schöpfte Gertrud ihre Andacht nicht aus den zum größten Theil unverstandenen Darstellungen selbst, sondern aus dem überzeugenden Tone seiner Stimme, aus den eine heilige Wahrheit austrahlenden Augen. Stunden und Stunden hätte sie seinen Worten lauschen können ohne zu ermüden, Stunden auf Stunden zu ihm aufschauen mit jener athemlosen Spannung, welche dem Unterweisenden der erste und schönste Lohn seines Strebens.

»Ich verstehe Alles,« antwortete sie freimüthig, Wirkung und Ursache der empfangenen Eindrücke verwechselnd, »das Farrenkrautblatt grünte einst, die Kohlen, die wir täglich brennen, rühren von Bäumen her, die vor vielen Jahren Blätter trugen.«

»Es grünten die Kräuter, es belaubten sich im Frühling die Bäume,« fuhr Jerichow leuchtenden Auges fort, »sie warfen Schatten rings umher in spärlich belebter Wildniß; sie entfärbten sich zur Herbstzeit, durch ihre kahlen Wipfel strich der winterliche Nordwind, wenn nicht andere Bedingungen, wie noch heute weit unten im Süden, den Winter ganz ausschlossen. Wie aber die Jahreszeiten wechseln, in nie gestörter Ordnung eine Geist und Herz erfrischende, unsern Augen wahrnehmbare Wandlung sich vollzieht, so wechselte im Laufe der Jahrhunderttausende im wüthenden Kampfe unversöhnlicher Elemente die Erdoberfläche, indem das bald durch Feuer, bald durch Wasser aufgelöste Material in neue Formen erstarrte, unberechenbare Kräfte Oceane verlegten, mit Festlanden spielten, wie Kinderhände mit farbigen Bausteinen. Wo bleiben solchen Ereignissen gegenüber die biblischen Zeitrechnungen? Wie erhaben aber erscheint die Alles umfassende Naturkraft gegenüber dem kleinlichen Begriffsvermögen der Sterblichen! Wenn aber unsere Erde, ein Sandkörnlein in dem ewigen Weltenraume, und noch weniger als das, zu solchen Betrachtungen anregt; wenn wir scheu zurückbeben vor den in unserer Phantasie entstehenden Bildern zischender Feuermeere und verdampfender Oceane, aus deren wüsten Feldern immer wieder neues Leben hervorsproß: wie müssen wir uns in Andacht beugen, wenn wir die Blicke emporsenden zum Firmament, wo in ungemessenen Fernen Milliarden anderer Weltkörper –«

Er verstummte. Gertrud hatte über den Tisch hin seine Hand ergriffen. Wie um sich vor einem jähen Sturz zu bewahren, umklammerte sie dieselbe fest. Mit sengender Gluth hingen ihre großen Augen an seinen Lippen, verkürzt entwand der Athem sich ihrer Brust. Und doch waren es nicht die vor sie hingezauberten gewaltigen Naturscenen, was ihre Begeisterung auf den Gipfel trieb – und was galten ihr im Grunde jene Bilder, die nur durcheinander wogten – aber der Mann, der vor ihr saß, der in ihren Augen diese Masse beherrschte, der in jedem Ton, in jedem Schwanken seiner Stimme eine so heilige Ueberzeugung offenbarte, er war es, vor dem sie sich beugte; er war es, der in dem wilden, ungeschulten Gemüth jene hingebende Andacht weckte. In ihren Zügen dagegen suchte Jerichow ängstlich nach einem Zeichen des Verständnisses, ängstlich und besorgt, wie wohl der Gärtner ein junges Bäumchen überwacht, welches er aus einem nur dürftige Nahrung spenden Boden in besseres Erdreich verpflanzen möchte.

Das Rollen eines Wagens, der in geringer Entfernung von dem Schulhause anhielt, gab Beide sich selbst wieder. Gertrud zog, wie beschämt, ihre Hand zurück, und aus ihren Augen lugte wieder verstohlen der Dämon des Muthwillens. Auf Jerichows Antlitz gelangte eine gewisse wehmüthige Entsagung zum Ausdruck. Er mochte erwägen, ob die Wurzeln des Bäumchens nicht zu innig mit dem nahrungslosen Kies verwachsen, um beim Umpflanzen nicht den Todeskeim in sein Mark zu legen.

»Zu weit habe ich mich hinreißen lassen,« bemerkte er schwermüthig. Was er hinzufügen wollte, erstarb auf seinen Lippen, als die Gartenpforte sich öffnete und wieder zuschlug. Wie nach einem begangenen Fehl griff Gertrud zur Feder, während Jerichows Blicke sich auf das vor ihm liegende Buch senkten. Doch die Feder blieb trocken, vor Jerichows Augen verschwammen die Buchstaben in einander. Beide lauschten gespannt auf die sich nähernden ungleichmäßigen Schritte.

Der Eingang der Laube verdunkelte sich. Lehrer wie Schülerin blickten hinüber und erhoben sich ehrerbietig, sobald sie die Marquise erkannten. Diese erwiderte den Gruß durch mattes Neigen ihres Hauptes, und sich schwerfällig einherbewegend, nahm sie neben Gertrud Platz. Auf ein Zeichen von ihr setzten Jerichow und Gertrud sich ebenfalls nieder. Letztere betrachtete starr das Antlitz ihrer Gönnerin. So wie heute, hatte sie dieselbe noch nie gesehen. Und doch waren erst Stunden verronnen, seitdem sie unter deren prüfenden Blicken sich den gewaltigsten, ihre Kräfte fast übersteigenden Anstrengungen unterwarf. Die Farbe ihres Antlitzes war eine andere geworden. Es fehlte demselben nicht allein die verjüngende Schminke, sondern es hatten sich auch die Furchen entschwundener Jahre in einem Maße vertieft, daß man ihr blutleeres Antlitz mit dem einer Gestorbenen hätte vergleichen mögen. Dabei schauten die großen dunkeln Augen so düster, daß Gertrud sich entsetzte. Jerichow bemerkte ebenfalls die Veränderung, wagte indessen nicht, sein schmerzliches Erstaunen zu verrathen.

»Soll ich die gnädige Frau nach Hause begleiten?« brach Gertrud ängstlich das Schweigen.

»Warum meinst Du?« fragte die Marquise scharf.

Bei dieser strengen Zurückweisung schoß das bewegliche Blut in Gertruds Schläfen hinauf, und trotzig warf sie die Lippen empor. Doch so entscheidend war die Gewalt, welche die Marquise über sie besaß, daß ihre Züge sich sofort wieder ebneten.

»Ich fürchtete, die gnädige Frau möchten krank geworden sein,« versetzte sie schnell gefaßt.

Die Marquise lachte bitter.

»Nicht krank,« erwiderte sie, und indem ihre Blicke auf dem Mädchen ruhten, eilte es wie der Abglanz einer sanften Regung über ihr bleiches Antlitz, »nein, ich befand mich nie wohler, als heute; aber es kam mir plötzlich in den Kopf, mich von Deinen Fortschritten zu überzeugen.« Dann zu Jerichow: »ich hoffe, sie zeigt sich dankbar und besucht Sie regelmäßig?«

»Nie kam sie zu spät oder versäumte sie eine Stunde.«

»Sie erfüllt daher den Zweck, zu welchem ich sie hierherschicke?«

»Ich könnte mir keine aufmerksamere Schülerin wünschen.«

»Im Grunde ist es überflüssig ihren Kopf mit Gelehrsamkeit zu überladen,« fuhr die Marquise herbe fort, »was soll sie damit in ihrem Stande? Zu ihrer späteren Zufriedenheit trägt es schwerlich bei. Da indessen der Anfang gemacht ist – und ich bin dem Mädchen eine Entschädigung für die mir geleisteten Dienste schuldig – so wollen wir nicht mitten in dem begonnenen Werk abbrechen. Sie mag sich auch später ein wenig über den Stand ihrer Eltern erheben, und dann ist es gut, wenn sie fähig, einen Brief zu schreiben und eine Rechnung auszufertigen. Ich überlegte mir Alles reiflich. Sie zählt ihre vollen achtzehn Jahre; zur Vermehrung ihrer Kenntnisse bleibt also nur noch sehr kurze Zeit. Ihr Fleiß muß daher gesteigert werden, damit sie einigermaßen fertig ist, wenn ich gezwungen sein sollte, meinen Wohnsitz zu verlegen. Der Besitzer des Karmeliterhofes soll nämlich gestorben sein. Zweimal wöchentlich erhielt sie bisher Stunden; lieb wäre es mir, wollten Sie die Zahl verdoppeln, natürlich gegen eine entsprechende Erhöhung des Honorars.«

Jerichow erröthete. Es lag eine gewisse Geringschätzung seiner Person in dem Tone, mit welchem die Marquise ihn für seine Mühe zu entschädigen versprach. Er faßte sich indessen schnell und antwortete höflich:

»Meine Zeit steht zu Ihrer Verfügung. Abgesehen von der Dankbarkeit der mir anvertrauten Aufgabe an sich, wird mir aus derselben das schöne Bewußtsein erwachsen, mit dazu beigetragen zu haben, wenn Gertruds Zukunft sich freundlicher gestaltet, als unter anderen Verhältnissen zu erwarten gewesen wäre.«

»Du hörst es,« wendete die Marquise sich an Gertrud, in deren frischem Antlitz es wieder aufleuchtete, »an Dir aber ist es, Dich der Opfer würdig zu zeigen, welche Herr Jerichow uns an Zeit und Mühe bringt. Ich für meine Person erwarte keinen Dank. Führe meine Sorge für Dich allein darauf zurück, daß ich Dir eine Anerkennung für geleistete Dienste schulde; außerdem setzte ich mir in den Kopf, Dich dem Sumpf Deiner jetzigen Umgebung zu entreißen.«

Gertrud hatte das bleiche Antlitz der Marquise so lange aufmerksam von der Seite betrachtet. Sie war scharfsinnig genug, zu errathen, daß schwer wiegende Umstände sie bewegten, eine Unterredung mit Jerichow zu suchen. Gern hätte sie die Gründe kennen gelernt, allein nicht durch die leiseste Miene offenbarte sie ihr heimliches Verlangen. Auf die Anrede der Marquise antwortete sie nicht. Sie wußte, daß in der augenblicklichen Lage sie nichts Anderes sein durfte, als das sie bedienende Fischermädchen.

»Wie weit sind Sie mit dem Unterricht?« fragte die Marquise nach einer Pause.

»Beinah zu Ende, eine kleine Besprechung fesselte uns noch,« erwiderte Jerichow mit einem theilnahmvollen Blick auf Gertrud, in welcher er nur ein Spielzeug in den Händen ihrer launischen Gönnerin zu entdecken glaubte.

Die Marquise sann einige Sekunden nach, indem sie durchdringend auf das ihr voll zugekehrte Antlitz Gertruds sah.

»Ich gebrauche Dich heute nicht mehr,« sprach sie darauf eintönig, »begieb Dich auf dem nächsten Wege nach Hause, und morgen stelle Dich zur rechten Zeit ein. Im Vorbeigehen benachrichtige Deinen Großvater, daß ich ihn zu sprechen wünsche.«

Sie erhob sich; als Gertrud sie nach dem Wagen begleiten wollte, wehrte sie ihr durch einen Wink mit der Hand.

»Bleib,« fügte sie kalt hinzu, »Herr Jerichow wird die Güte haben,« und als dieser dienstfertig neben sie hintrat, schlug sie langsam die Richtung nach der Gartenpforte ein.

»In dem Mädchen wohnt ein Dämon,« sprach sie gedämpft zu ihrem Begleiter, sobald sie sich außerhalb der Hörweite Gertruds befanden, »ich lernte noch nie Jemand kennen – hatte freilich auch keine Gelegenheit dazu – der sich vor dem in ihren Augen ruhenden unheimlichen Zauber nicht gebeugt hätte. Leider weiß sie das, und sie macht sich ein Vergnügen daraus, ihre Zauberkünste an arglosen Menschen zu erproben,« und von Jerichow unbemerkt, betrachtete sie seine ernsten Züge argwöhnisch.

»Ich fand nur eine wißbegierige Schülerin in ihr,« versetzte Jerichow nicht ganz frei von Befangenheit, »mit ihrem oft räthselhaften Wesen und der wunderbaren Anmuth, welche in so krassem Widerspruch zu ihrer Herkunft stehen, flößt sie allerdings regere Theilnahme ein, als vielleicht viele Tausende ihres Geschlechtes.«

Die Marquise blieb stehen, wie um ihre lahme Hüfte zu schonen, in der That aber, um einen forschenden Blick in die ruhigen Augen ihres Begleiters zu senken.

»Hüten Sie sich vor dem Mädchen,« warnte sie ernst; »ich wiederhole: Ein Dämon wohnt in der jungen Brust, ein Dämon der Gefallsucht und der Schadenfreude. Haben Sie je von Rheinnixen gehört? Den reizvollen Geschöpfen, welche ihre Opfer, die Opfer der eigenen leichtfertig geschürten wahnsinnigen Leidenschaft mit in das Verderben bringende Element hinabziehen? Eine solche Nixe ist die Gertrud. Hüten Sie sich vor ihr. Ihr Lächeln ist gefährlicher, als Schlangenblicke. Dem Banne einer Schlange können Sie sich durch die Flucht entziehen, nicht aber dem Zauber, welchen sie, gleichviel ob bewußt oder unbewußt, um dasjenige schlingt, was ihre augenblicklich Laune reizt. O, ich kenne das, kenne das! Gerade solche Augen sah ich früher,« – sie lachte herbe vor sich hin – »ha, ich sollte sie wohl kennen gelernt haben, ich warne Sie, ich warne Sie.«

Hastig ergriff sie des jungen Mannes Arm, und sich schwer auf denselben stützend, suchte sie unter großer Anstrengung ihre Eile zu beschleunigen.

»Ein seltsames Wesen,« gab Jerichow träumerisch zu, »oft erscheint es in der That, als ob in dem völlig ungeschulten Gemüth zwei einander feindliche Mächte im Kampfe lägen. Mag das immerhin sein, ich bezweifle nicht, daß die edleren Regungen schließlich den Sieg davontragen. Gleichviel, wie bescheiden das Loos, welchem das schöne und reich begabte Kind entgegengeht, es muß, es kann nur segensreich in dem ihm angewiesenen Kreise wirken.«

»Was abhängig von äußeren Einflüssen,« versetzte die Marquise spöttisch, indem sie auf die Straße hinaustraten, »denn was dem Einen frommt, bringt dem Anderen Verderben. Ich warne Sie ernstlich vor dem Dämon.«

Sie hatten den Wagen erreicht. Vorsichtig half Jerichow der Marquise in denselben hinein. Dann trat er einen Schritt zurück, sich mit einer ehrerbietigen Verneigung empfehlend.

Die Marquise grüßte mit der Hand.

»Vergessen Sie nicht den Dämon,« sprach sie noch einmal, indem der Wagen sich in Bewegung setzte. Sobald sie aber sicher, daß Jerichows Blicke sie nicht mehr erreichten, brach sie in sich zusammen. Tief gebeugt lehnte die sonst so majestätische Gestalt sich in die Wagenecke. Starr waren die unter den gesenkten Lidern hervorlugenden Augen auf einen bestimmten Punkt des Vordersitzes gerichtet. Schärfer gruben sich die Furchen in das bleiche Antlitz ein. Der Wagen polterte und übertönte mit seinem Rollen die Worte, welche gleichsam unbewußt sich den zuckenden Lippen entwanden.

»Alles umsonst, Alles umsonst,« hieß es immer wieder; »wer zeigt mir einen Ausweg aus dem Labyrinth?«

Da löste sich die Starrheit des verschlossenen Antlitzes. Thränen entströmten ihren Augen und ein milder Ausdruck schwebte auf den entstellten Zügen. Doch schon nach einigen Sekunden verschwand er wieder. Mit einer heftigen Bewegung richtete sie sich empor, und eine steinerne Sphinx hätte nicht kälter schauen können, als die großen schwarzen Augen durch die Glasscheiben an dem Kutscher vorbei die flinken Bewegungen der Pferde beobachteten.

Ein Weilchen hatte Jerichow dem davonrollenden Wagen nachgeschaut, und langsam, wie unter einer schweren Bürde, begab er sich in den Garten zurück. In seiner Erinnerung lebten die geheimnißvollen Worte der Marquise. Vergeblich suchte er ihre Warnung seiner Schülerin anzupassen. Wenn er meinte, einen Anhaltepunkt für dieselbe gefunden zu haben, zürnte er sich selbst, sobald das muthwillige Fischerkind in seiner Seele auftauchte, er in den geheimnißvoll glühenden Blicken nur den Ausdruck einer unermüdlichen Lernbegierde entdeckte. Er erschrak förmlich, als er im Eingange der Laube Gertrud plötzlich vor sich stehen sah.

»Sie hat in ihrem Leben gewiß viel gelitten,« sprach er, in die ängstlichen großen Augen schauend.

»Es muß etwas vorgefallen sein,« versetzte Gertrud besorgt, »so sah ich sie nie, so lange ich sie kenne. Ich fürchte mich, zu ihr zu gehen.«

»Morgen hat sich Alles geändert,« ermutigte Jerichow, indem er schmeichelnd das dichte goldblonde Haar von der Stirn des sich wie ein zaghaftes Kind geberdenden schönen Mädchens strich. Sie traten in die Laube ein. »Sehr bekümmert ist sie,« fuhr er fort, »trotzdem sorgt sie getreulich für ihren Schützling, welchem sie gewiß manche freundliche Stunde verdankt.«

»Nur ihre Dienstmagd bin ich,« erwiderte Gertrud trotzig, doch wie ihre Worte bereuend, fügte sie sanfter hinzu: »ich bediene sie wohl, aber ich thu's gern, und daß sie etwas Besseres aus mir machen will, als – nun, als einen verachteten Irrwisch, das danke ich ihr von Herzen.«

Jerichow hatte wieder auf der Bank Platz genommen. Gertrud, anstatt seinem Beispiel zu folgen, rollte ihre beiden Hefte vorsichtig zusammen und schob sie in die Tasche ihres Kleides.

»Ein halbes Stündchen hätte ich gern zugelegt,« bemerkte Jerichow bedauernd, indem er sich wieder erhob.

»Ich habe nicht länger Lust,« antwortete Gertrud rauh; dann, wie über sich selbst erschreckend, beinah unterwürfig: »Ich kann nicht – ich will nach Hause. Ich fürchte mich – ich glaube, ein Unglück steht mir bevor;« sie sah vor sich nieder, die zu dem blonden Haar seltsam contrastirenden starken schwarzen Brauen so nahe zusammenschiebend, daß sie sich fast berührten. Die kleinen gebräunten Hände spielten krampfhaft mit einer Falte ihres Kleides; auf ihrem Antlitz brannte helle Gluth.

Jerichow beobachtete sie gespannt. »Ein Dämon wohnt in ihrer Brust,« summte es in seinen Ohren, »hüten Sie sich vor ihr, sie ist eine Rheinnixe, die Alles mit sich ins Verderben hinabreißt, was sich in ihren Zauberkreis wagt.« Und doch erschien sie ihm in der lieblichen Stellung so kindlich harmlos. Sein Herz blutete bei dem Gedanken an ihre Vereinsamung. Und vereinsamt war sie: Von Eltern und Geschwistern trennte sie ein höherer Grad der Gesittung; in den Händen der Marquise war sie ein Spielzeug finsterer Launen; von Genossinnen und Gespielen wurde sie schon im zartesten Jugendalter durch ihre eigenthümlichen Neigungen geschieden. Niemand besaß sie, an den sie sich enger hätte anschließen können. Auf sich allein angewiesen, suchte und fand sie in den eigenen bizarren Ideen ihre einzige sie ansprechende Unterhaltung. Wer mitleidig, wohl gar spöttisch auf sie niedersah, den haßte sie, weil sie nicht von ihm verstanden wurde. Unter ihr Stehende verachtete sie, weil dieselben sich noch weniger zu ihr empor zu schwingen vermochten. Vertrauen hatte sie zu Niemand, sehnte sich auch nicht nach dem Vertrauen eines Anderen; es sei denn, daß die Quelle ihre Wissens und Lernens, Derjenige, der mit treuem Willen und den uneigennützigsten Absichten ihr zur Seite stand, einen Weg zu dem verschlossenen Gemüth gefunden hätte.

Derartig waren die Betrachtungen, welche Jerichow Angesichts des vor ihm stehenden wilden Kindes bestürmten. Wie unbewußt legte er die Hand auf die dünn bekleidete, warme Schulter. Gertrud sah in seine ruhigen, freundlichen Augen. Aber als hätte ihn jener Blick bis ins Herz hinein getroffen, hämmerte das Blut plötzlich laut in seinen Schläfen. Was er sagen wollte, er hatte es vergessen. Scharf abgegrenzte, brennende Röthe flammte auf seinen mädchenhaften zarten Wangen auf. Seine Lippen öffneten sich, kürzer wurde sein Athem, wie ein Schleier legte es sich vor seine Augen. Befremdet starrte Gertrud ihn an. Dann riß sie die Hand von ihrer Schulter; ungestüm preßte sie einen Kuß auf dieselbe, und mit der ihr eigenthümlichen Gewandtheit schlüpfte sie in den Garten hinaus. Auf dem halben Wege zur Pforte blieb sie stehen, und sich der Laube zukehrend, zeigte sie Jerichow ein Antlitz, welches in Muthwillen gleichsam strahlte.

»Bis auf übermorgen, Herr Jerichow!« rief sie munter, sie knixte nach Kinderart, lachte, daß es hell durch den Garten schallte, und ein Kukukslied anstimmend, wendete sie sich ab. Bald nach rechts, bald nach links sich bückend, brach sie von den am Wege wuchernden, farbenreichen Blumen, sie jedes Mal mit flüchtigem Griff auf ihrem Haupte befestigend. In der Gartenpforte sah sie noch einmal zurück. Wie über Bäume und Sträucher glitten ihre Blicke sorglos über Jerichow hinweg.

»Kukuk – kukuk – kukuk,« tönte es gleich darauf von der Straße herüber, dann verstummte ihr Lied. Hätte Jerichow ihr weiter nachzusehen vermocht, er würde erstaunt gewesen sein über die Scheu, mit welcher sie die Straße aufwärts und abwärts spähte. Leute befanden sich in ihrem Gesichtskreise, jedoch nicht nahe genug, um ihre Bewegungen genau unterscheiden zu können. Schneller, als sie kurz zuvor die Blumen festgenestelt hatte, riß sie dieselben aus dem dichten Haar, und nach rechts und links flogen sie verfolgt von Blicken des Zorns und der Geringschätzung. Nach ihrer gewohnten Art, warf sie die Lippen trotzig empor. Aufrechter war ihre Haltung geworden; schneller und sicherer setzte sie die kleinen, festbeschuhten Füße voreinander. Sie fühlte sich gerüstet, zudringlichen Blicken offenen Auges, spöttischen Grüßen mit scharf zugespitzten Worten zu begegnen.

»Ein Dämon wohnt in dem Mädchen,« wiederholte Jerichow in Gedanken die Warnung der Marquise, indem er in die Laube zurücktrat und sich auf seinen alten Platz niederließ; »Du arme, liebliche Rheinnixe,« spann er seine Betrachtungen träumerisch weiter, »Du räthselhaftes Wesen, in welchem die Mittagsgluth eines heißen Sommertages und die Kühle des Stromes, wo er am tiefsten, sich so wunderbar vereinigen.«

Er stützte den Kopf auf die Hand und senkte die Blicke aufs vor ihm liegende offene Buch.

»Hüte Dich vor der Rheinnixe,« flüsterten seine Lippen. Das waren keine Worte, die er von den bedruckten Blättern ablas.


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