Balduin Möllhausen
Der Schatz von Quivira
Balduin Möllhausen

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Fünfzehntes Kapitel.

Das Lebewohl.

Die Stunde nahte, in welcher Perennis den Stätten seiner sorglosen Kinderspiele, den Stätten nie geahnter Entdeckungen und Eindrücke Lebewohl sagen sollte. Rastlos war er am letzten Tage umhergeeilt, bald zu Diesem, bald zu Jenem, welchen er während seines kurzen Aufenthaltes in der Stadt kennen lernte, um sich von ihnen zu verabschieden. Auch Splitter hatte er Lebewohl gesagt, und zwar freundlicher und herzlicher, als er es vielleicht für möglich gehalten hätte. Sogar Splitter erstaunte. In dem festen Händedruck und in dem offenen Blick des verhaßten Störers seiner Ruhe glaubte er den Beweis zu entdecken, daß derselbe um seine Beziehungen zu Lucretia wisse und sie billige. Und von einem Gefühl der Befriedigung, sogar der Dankbarkeit, seine junge Verwandte auf alle Fälle unter einem Schutz zu wissen, welchen er als treu anerkennen mußte, konnte Perennis sich in der That nicht ganz freisprechen. Gertruds, von unversöhnlichem Haß eingegebene Warnungen hatte er vergessen. Seine letzten Bedenken und Besorgnisse gingen unter in einem seine Sinne umfangenden Traumgebilde; denn als Traumgebilde erschien ihm in der Erinnerung, was er von dem Zimmer seines verstorbenen Onkels aus beobachtete.

»Ich erwarte, Sie nach meiner Heimkehr wiederzusehen;« lauteten seine letzten Worte an Sebaldus Splitter. Dann wählte er seinen Weg durch den Festungsgraben an der Fischerhütte vorbei. Was er dabei wünschte und hoffte, war ihm unklar. Wie mit Zaubergewalt trieb es ihn, in die Hütte einzutreten; doch seines Versprechens eingedenk, beschränkte er sich darauf, der fleißigen Waschfrau einen Gruß zuzurufen, einige freundliche Worte an die sich im Staube wälzenden Kinder zu richten. Die Wäscherin sah kaum nach ihm auf; blöde betrachteten ihn die Kinder. Er zürnte jener wie diesen; denn nirgend entdeckte er ein Merkmal, daß man ahnte, welcher leuchtender Stern mit ihnen unter demselben Dache wohnte, nirgend eine Miene des Wiedererkennens oder der Theilnahme für Denjenigen, der sich bis zu einem gewissen Grade mit ihnen verwachsen fühlte. Rüstigen Schrittes wanderte er dem Stromesufer zu. Mehrfach sah er zurück. Wie verschlafen lag die baufällige Hütte auf dem Abhänge. Niemand spähte ihm nach. Die Frau bückte sich auf dem Kehricht, todt blieb jeder Winkel; und in jeden Winkel sandte Perennis seine Blicke in der dumpfen Hoffnung, hier oder dort zwei großen, geheimnißvollen Augen zu begegnen.

Unzufrieden mit sich selbst, unzufrieden mit der ganzen Welt trat er auf die Uferstraße hinaus. Unverändert wälzte der stolze Strom seine Fluthen nördlich, unverändert, wie vor wenigen Wochen, als er ihn nach langer Trennung zum ersten Mal begrüßte; unverändert, wie in jenen Tagen, als er sich als Knabe zum letzten Mal in demselben spiegelte. Auf der breiten Wasserfläche lagerte die Nachmittagssonne. Vereinzelte Windstöße trübten dieselbe bald hier bald dort. Doch für nichts hatte er Sinn. Theilnamslos schritt er an der Stelle vorüber, von welcher aus er Splitters und Lucretia's Abschied belauschte. Mechanisch suchten seine Blicke den Rand des Wassers. Es hätte ihn kaum überrascht, wären den lustig über den Sand rieselnden Wellen meergrün gekleidete Nixen entstiegen, ihm die Arme entgegenstreckend, ihn mit jenem bezaubernden Lächeln zu sich niederwinkend, welches er an Gertrud in der Wohnung der Marquise beobachtete.

Seine Zeit war kurz bemessen, doch stieg er zu dem alten Fischer hinab. In der Hoffnung, daselbst mit Gertrud zusammenzutreffen, fand er sich getäuscht. Düster überwachte Ginster die kreuzweise vereinigten Netzreifen; einsam lag die dörrende Laube, lagen die an Rasenbänke erinnernden Ausspühlungen des Ufers.

»Ich komme, um Lebewohl zu sagen,« redete Perennis den Fischer an; »Ihre Enkelin hat Ihnen wohl das Nähere mitgetheilt, vor Allem, daß Ihr Verhältniß zu dem Karmeliterhofe keine Wandlung erleidet.«

Ginster erhob sich und trat von seinem Damm vor Perennis hin. Die Mütze lüftend, legte er die schwielige Hand in die ihm gebotene des jungen Mannes.

»Ich weiß Alles,« sprach er, und Perennis meinte, daß der alte Mann absichtlich vermied, Gertruds Namen auszusprechen. »Sie reisen, um die Erbschaft Ihres Vaterbruders in Empfang zu nehmen. Ich gehöre mit zu der Erbschaft,« und die trüben Augen funkelten flüchtig auf, als hätte er sich an der Zweideutigkeit seiner Worte ergötzt, »und daß Sie meine Fischergerechtigkeit achten, ist dankenswerth genug.«

»Wir werden uns recht lange nicht sehen,« spann Perennis das Gespräch weiter, »doch ich hoffe, Sie gesund und rüstig wiederzufinden.«

»Meine Knochen sind alt und steif genug, um solchen Wunsch zu verdienen,« versetzte Ginster, und aufmerksam betrachtete er den vor ihm Stehenden, »und Ihnen wünsch' ich, daß Sie's auf der ändern Seite des großen Wassers besser finden, als hier auf dem Karmeliterhofe. Ich sagte immer, an dem Hofe klebt nichts Gutes; wer mit ihm zu thun hat, mag die Augen offen halten.«

»So will ich versuchen, den bösen Zauber zu brechen. Aber wie steht es? Geben Sie mir nicht einen guten Rath mit auf den Weg?«

»Ein alter, stumpfer Fischer dem Herrn Rothweil? Aber wenn Sie meinen: Betrachten Sie nichts als Ihr Eigenthum, was Sie nicht zwischen den Händen halten, und hüten Sie sich vor Weiberaugen; es hat schon eher Jemand den Tod d'rin gefunden.«

»Worauf soll sich das beziehen?« frage Perennis peinlich berührt, und er bereute herabgekommen zu sein, um gewissermaßen den Unglücksruf eines Raben zu hören.

»'s ist nur ein Rath, wie Sie ihn von mir verlangen,« antwortete Ginster, »Sie sind jung und wollen in die Welt hinaus. Ich hätte eben so gut sagen können, gehen Sie 'nem wilden Stier und 'nem Betrunkenen aus dem Wege.«

»Wie den ersten, nehme ich auch diesen Rath dankbar hin,« versetzte Perennis wieder sorglos, »doch nun leben Sie wohl, meine Zeit eilt, noch einige Stunden, und ich bin weit von hier. Noch einmal: Auf Wiedersehen,« und kräftig schüttelte er des alten Mannes Hand.

»Will's Ihnen mehr wünschen, als mir,« entgegnete Ginster, »denn kehren Sie glücklich heim, haben auch Andere ihren Profit davon.«

Perennis drängte sich durch das Weidendickicht nach dem Uferabhange hinauf. Ein Weilchen betrachtete Ginster grübelnd das sich hinter ihm regende Strauchwerk, und kopfschüttelnd begab er sich auf seinen Damm zurück.

Zehn Minuten später trat Perennis bei der Marquise ein, bei welcher er sich brieflich angemeldet hatte. Vor ihr auf dem Tisch lag aufgezählt die Summe, welche ihm als Reisegeld zugedacht war. Neben derselben bemerkte er den Empfangschein, welcher nur noch unterschrieben zu werden brauchte. Auf seinen höflichen Gruß neigte die Marquise leicht ihr Haupt. Ihr Antlitz blieb dabei kalt und theilnahmslos; aber unter den halb gesenkten Lidern hervor prüfte sie mit scharfem Blick Perennis' Züge. Eine gewisse Erregung in denselben entging ihr nicht; denn so hatte er nicht geschaut, als sie ihn zum erstenmal sah. Die Empfangnahme des Geldes aber konnte am wenigsten Ursache sein, ihn zu beunruhigen.

»Ich ordnete bereits Alles,« redete sie ihn an, »zählen Sie gefälligst das Geld und unterzeichnen Sie die Quittung. Sie erfüllen damit nur eine äußere Form. Ihr Wort gilt mehr, als ein todter Buchstabe. Hindern unberechenbare Umstände Sie, diese Summe zurückzuerstatten, so hilft das Papier mir am wenigsten.«

»Nur der Tod könnte mich hindern, meine Verpflichtungen auszugleichen,« versetzte Perennis ernst, »und gerade dieser Gedanke beunruhigt mich am meisten.«

»Deshalb machen Sie sich keine Sorgen,« erwiderte die Marquise gleichmüthig, »und welcher Art die Erfahrungen sein mögen, welche Sie auf dem fremden Erdtheil sammeln: lassen Sie sich durch nichts abhalten, in Ihre Heimat zurückzukehren. Ihre Person ist zu innig verwachsen mit dem Karmeliterhofe, als daß Sie dem Gedanken Raum geben dürften, nach Ordnen der Erbschaftsangelegenheiten, auf dem Wege des brieflichen Verkehrs die hiesigen Verhältnisse von sich abzustreifen.«

»Ich wiederhole, nur der Tod kann mich hindern, das Haus, in welchem ich meine Kinderjahre verlebte, wieder aufzusuchen,« betheuerte Perennis lebhaft, »hafte ich doch mit meiner Person für die Ansprüche, welche fremde Leute an den Hof haben.«

Auf ein einladendes Zeichen der Marquise nahm er ihr gegenüber Platz. Achtlos schob er das Geld in einen Haufen zusammen, und ohne sie zuvor gelesen zu haben, unterschrieb er die Quittung.

»Sie sind kein vorsichtiger Geschäftsmann,« bemerkte die Marquise mit leichtem Spott, »freilich, zwischen uns Beiden ist Alles Vertrauenssache. Hören Sie indessen auf Jemand, der durch seine Erfahrung wohl berechtigt ist, Ihnen zu rathen. Zügeln Sie Ihre leichtlebige Künstlernatur; beargwöhnen Sie jeden Menschen; seien Sie behutsam in der Wahl Ihrer Freunde. Ich weiß, was es bedeutet, blindlings zu vertrauen,« und aus ihren dunklen Augen schoß ein Blitz unversöhnlichen Hasses. »Gebrauchen Sie Ihre eigenen Sinne, begegnen Sie mit Hohn jeglichen Betheuerungen, und Sie zwingen die Menschen, sich in ihrem wahren Lichte zu zeigen.« Sie sann ein Weilchen nach, wie sich fragend, ob sie mit ihren Mittheilungen noch weiter gehen dürfe, so daß Perennis zögerte, das Schweigen zu brechen. Dann hob sie wieder mit ihrem metallenen Organ an: »Das Alter macht redselig; was habe ich Ihnen meinen Rath aufzudrängen? Sie sind ein Mann und wissen, was Sie zu thun haben, und vergessen ist bald genug, was eine alter Person unberufener Weise zu Ihnen sprach.«

»Ich kenne nur Dankbarkeit für die Beweise wohlwollender Theilnahme, und wie Andere vor mir –« unterbrach Perennis die Marquise in der dumpfen Absicht, das Gespräch auf Gertrud hinüberzuspielen, als sie mit der Hand ein abwehrendes Zeichen gab.

»Ich verlange keinen Dank, verdiene keinen,« sprach sie eisig, »noch weniger lieferte ich irgend Jemand Beweise von übergroßem Wohlwollen,« und unheimlich wetterleuchtete es wieder unter den gesenkten Lidern hervor, »was zwischen uns Beiden schwebt, ist Geschäftssache. Ihre Rückkehr auf diesem alten Sitz ungestört erwarten zu dürfen, habe ich mit dem kleinen Vorschluß nicht zu theuer erkauft.« Sie lächelte eigenthümlich, gewissermaßen triumphirend, »Eine Verwandte von Ihnen lebt hier im Hause, wie ich vernahm; eine gewisse Sicherheit der Zukunft wäre ihr ebenfalls zu wünschen,« sprang sie wie beiläufig ab, doch suchte sie wieder verstohlen Perennis Augen.

»Sie befindet sich unter dem Schütze des ehrlichen alten Wegerich,« gab Perennis ebenso beiläufig zu, nur daß es bei ihm nicht erheuchelt, »ich glaube, sie hat keine Ursache unzufrieden zu sein.«

»Eine freundliche Erscheinung; ich begegnete ihr mehrfach.«

»Recht freundlich,« bestätigte Perennis ahnungslos, daß die Marquise, und zwar erfolgreicher, als er selbst kurz zuvor bei ihr versuchte, nur einen Blick in sein Inneres zu werfen trachtete, »außerdem ein herzensguter Charakter, so recht dazu angelegt, der Mittelpunkt eines glücklichen Familienkreises zu werden.«

Er erröthete leicht, und eine ihm augenblicklich wenig willkommene Deutung seiner Worte befürchtend, fügte er schnell hinzu:

»Doch ich glaube, sie wählte schon; bei meiner Heimkehr werde ich wohl das Nähere erfahren.«

Die Marquise neigte ihr Haupt ein wenig. Es war ein unbewußtes Zeichen innerer Befriedigung; darauf begann sie von neuem:

»Sie können also beruhigt reisen. Mag das Glück Sie auf Ihren Wegen begleiten, der beste Erfolg Ihre Mühen krönen.«

Perennis erhob sich und reichte der Marquise die Hand.

»Alles ist geordnet, wie es unter den obwaltenden Umständen möglich gewesen,« sprach er bis zu einem gewissen Grade enttäuscht, »und ich scheide in der Zuversicht, daß ich bei meiner Heimkehr nichts, gar nichts, selbst in Ihrer nächsten Umgebung nichts verändert finde.«

Und wiederum blieb die vorsichtige Anspielung auf Gertrud erfolglos. Die Marquise lächelte kaum merklich, jedoch seltsam bezeichnend, verneigte sich leicht, und gleich darauf lag das Schlafzimmer zwischen ihnen.

Die Uhr in der Hand, trat Perennis bei Wegerich ein. Eine Entschuldigung, keine Zeit mehr verlieren zu dürfen, schwebte auf seinen Lippen. Sobald er aber in Lucretia's kindlich schönes Antlitz schaute, dessen herzinniges Lächeln heimliche Trauer verdeckte, vermochte er nur, ihr die Uhr zu zeigen. Es fehlte ihm der Muth, die jüngste Vernachlässigung dringenden Geschäften zuzuschreiben.

»Ich war darauf vorbereitet,« redete Lucretia ihn alsbald in ihrer gewinnenden Weise an, und sie reichte ihm zutraulich beide Hände, »wußte ich doch vorher, daß Ihnen kaum Muße zu einem flüchtigen Lebewohl bleiben würde. Bei jedem Aufbruch, ich weiß es an mir selber, giebt es doch gerade im letzten Augenblick noch immer etwas zu ordnen, und wie viel mehr, wenn man im Begriff steht, eine Weltfahrt anzutreten.«

So entschuldigte sie selber ihn mit warmem Eifer, als hätte sie aus seinen Augen gelesen, wie schwer es ihm wurde, sein Fortbleiben zu erklären. Ihr letzten Worte klangen leise. Sie verheimlichte nicht die Thränen, die unaufhaltsam in ihre Augen drangen; denn ihm, dem einzigen Verwandten, welchen sie besaß, durfte sie offen die ganze herzliche Anhänglichkeit entgegentragen, welche sie in einer glücklicheren Lage zwischen Eltern und Geschwistern getheilt hätte. So waren wenigstens ihre eigenen Empfindungen, und Perennis hatte keinen Grund, es anders zu deuten, daß sie seine Hände hielt, als hätte sie ihn nicht von sich lassen wollen.

»Unendlich schmerzlich ist es mir, von Dir scheiden zu müssen,« sprach Perennis nunmehr ebenfalls gerührt, »aber ich werde Dir schreiben, oft schreiben, Dich erinnern, daß Du nicht vereinsamt in der Welt dastehst, noch jemand lebt, der zu Dir gehört. Durch Deine Hände sollen alle meine Berichte gehen; Du allein sollst mich vertreten, wirst mich getreulich von Allem unterrichten, was hier vorgeht und vor allen Dingen Beziehung zu Deiner eigenen Zufriedenheit haben kann.«

Bei dem Klange des ersten traulichen, verwandtschaftlichen ,Du' glaubte Lucretia sich verhört zu haben. Als Perennis aber, wie unbewußt, dieselbe Anrede fortgesetzt wiederholte, vergrößerten sich ihre Augen wie in kindlichem Erstaunen. Einige Sekunden schwankte sie; dann breitete sie ihre Arme weit aus, und seinen Hals umschlingend und ihr Antlitz an seiner Brust bergend, weinte sie bitterlich.

»Wie schwer wird mir die Trennung,« schluchzte sie, während Perennis ihr Antlitz sanft aufrichtete und sie auf die Stirn küßte, »und doch bin ich ruhiger jetzt. Im Geiste werde ich Dich auf allen Deinen Wegen begleiten, Dich in Deinen Träumen besuchen, damit auch Dir das Gefühl einer traurigen Vereinsamung fern bleibe, Du nicht vergißt, daß ich in Freud und Leid getreulich zu Dir stehe.«

Förmlich verwirrt sah Perennis in die liebevoll zu ihm aufgeschlagenen Augen, welche Thräne auf Thräne über die mild angehauchten Wangen niedersandten. Dann zog es wie wohlthuende Wärme in seine Brust ein; ihm war, als ob eine Hand sich mit frommem Segenspruch auf sein Herz gelegt habe, die Hand einer Verstorbenen, mit Mutterangst ihn beschwörend, das freundliche, zutrauliche Wesen zu beschützen und zu beschirmen; es zu lieben immerdar, ihm Alles zu ersetzen, was es schon im zarten Kindesalter verloren hatte, von ihm aber dafür, wie ein Himmelsgeschenk, ein ganzes Herz voll Anhänglichkeit und Dankbarkeit entgegenzunehmen.

»Wir stehen Beide allein auf Erden,« sprach er mit bebender Stimme, und er konnte nicht anders, auf jedes der beiden redlichen blauen Augen drückte er einen Kuß, »wir sind die Letzten zweier zusammengehörigen, fast ausgestorbenen Familien, und so wollen wir denn auch zusammenhalten, wie es unsere beiderseitige Lage und unsere Neigung es uns gebieten. Lebewohl, Lucretia, mein Herzenskind. Nun aber erschwere mir nicht den Abschied. Laß Dein Lächeln das Letzte sein, was ich von Dir sehe. Ich will es meinem Gedächtniß fest einprägen, damit in der Erinnerung Du mir so erscheinst, wie ich jetzt Dich vor mir sehe: Ein Bild freudigen Hoffens auf glückliches Wiedersehen.«

Und Lucretia lächelte. Sie lächelte zwischen Thränen hindurch und unter der äußersten Anstrengung. Hätte Perennis ihr geboten zu sterben, sie würde nicht gesäumt haben, seinen Willen zu befolgen. Sie lächelte, daß es Perennis durch die Seele schnitt und der alte Wegerich sich abwendete, um zu verheimlichen, daß ihm die Augen übergingen.

»Gott segne Dich,« sprach Perennis, und küßte den lieblichen Mund.

»Der Himmel beschütze Dich,« flüsterte Lucretia, sich noch einmal fest an ihn anschmiegend.

Sanft löste Perennis die Arme von seinem Nacken. Lucretia richtete sich auf und trat einen Schritt zurück. Und wiederum lächelte sie unter Aufbietung ihrer ganzen Kraft. Es war ein Lächeln, so schmerzlich, daß Perennis den Anblick nicht ertragen konnte.

»Auf frohes Wiedersehen!« rief er dem verzweiflungsvoll dareinschauenden Wegerich zu, und in der nächsten Minute schlugen die Hunde auf dem Hofe an, wie um dem Scheidenden ebenfalls ein Lebewohl zuzurufen.

Weit abwärts befand sich um diese Zeit Gertrud. Stromabwärts war sie gewandelt, hart am Rande des Wassers hin, als hätte zwischen dem Strom und ihr eine Beziehung bestanden, welche zu lösen ihre Macht nicht ausreichte. Weiter und weiter wandelte sie, langsam und das Haupt träumerisch geneigt, die schwarzen Brauen zusammengezogen, daß sie sich fast berührten. Die Oberlippe kräuselte sie empor, wie Alles ringsumher verspottend: den abendlichen Himmel, die sich dem Untergange zuneigende Sonne, den wirbelreichen Strom, die glattgespülten Kiesel, das Weidendickicht auf dem Uferabhange, sich selbst, Alles, Alles. Zuweilen glitt es wohl wie Trauer über das charakteristisch schöne Antlitz, jedoch um alsbald wieder einem um so finstereren Ausdruck zu weichen.

Als sie das Dorf erreichte, in welchem sie auf dem Kirchweihfest bewundert und zugleich geschmäht wurde, war es bereits dunkel. Diese Stunde schien sie mit Bedacht abgewartet zu haben; denn schneller und entschiedener wurden ihre Bewegungen, indem sie sich ihren Weg auf der Rückseite des Dorfes hin suchte. Auf dem nördlichen Ende blieb sie vor einem Garten stehen, in welchen der Giebel eines kleinen Wohnhauses hineinragte. Scharf sah sie hinüber. Die beiden Fenster des Erdgeschosses waren erleuchtet; aber erst nach langem Harren, als das Fensterchen der Bodenkammer sich ebenfalls erhellte, trat sie in den Garten ein. Schnellen Schrittes näherte sie sich dem Hause. Vor dem Giebel blieb sie wieder stehen, aufmerksam beobachtend, wie in der Kammer sich Jemand ab und zu bewegte. Als aber eine Gestalt an das Fenster trat, wie um einen Blick über den in nächtliches Dunkel gehüllten Garten hinzusehen, rief sie kurz und durchdringend den Namen »Kathrin«, hinauf.

Alsbald öffnete sich das Fenster.

»Rief mich Jemand?« fragte Kathrin nieder.

»Kathrin, ich bin es, die Gertrud,« antwortete diese, ihre Stimme vorsichtig dämpfend, »wenn Dir darum zu thun ist, schweres Unrecht an einem ehrlichen Menschen zu sühnen, so komme zu mir in den Garten.«

Kathrin zögerte. Sie ging offenbar mit sich zu Rathe, ob sie dem Rufe Folge leisten sollte, oder nicht.

»Ich komme!« rief sie endlich ebenfalls gedämpft hinunter. Das Fenster schloß sich, das Licht erlosch, und behutsam trat Gertrud in den nach dem Gehöft hinaufführenden Hauptweg.

Nach kurzer Zeit unterschied sie, daß die Hofpforte leise geöffnet wurde, und gleich darauf traf Kathrin vor ihr ein.

»Guten Abend, Kathrin,« redete sie dieselbe an, indem sie aus dem Schatten einiger hochgewachsenen Georginen ins Freie trat, »Du kannst Dir's an den Fingern abzählen, daß ich nicht um Kleinigkeiten den weiten Weg gekommen bin; und ich dank' Dir's, daß Du mich nicht abgewiesen hast. Des Lohns dafür wirst Du froh werden, wenn ich wieder gegangen bin.«

»Wer schickte Dich?« fragte Kathrin rauh.

»Mich schickt mein guter Wille. Dächt' ich nicht weiter, dann möcht' ich auf Deine Frage am liebsten gleich wieder gehen und Dir's anheimstellen, selbst eine Wunde zu heilen, welche Du in der Uebereilung geschlagen hast.«

»Bleib«, Gertrud,« versetzte Kathrin um vieles milder, »Du sollst nicht glauben, daß ich muthwillig Jemand kränkte, der Alles aufbot, meine Geduld zu Ende zu bringen.«

»Komm, Kathrin,« erwiderte Gertrud ernst, »laß uns um's Dorf herumgehen. Hier möchte uns Jemand bemerken; und was wir zu besprechen haben, kümmert uns Beide allein.«

Dann, nachdem sie sich in Bewegung gesetzt hatten:

»Was scherst Du mich, oder der Bartel? Was schert's mich, ob Ihr Euch zusammengebt? Dieser Tage ziehe ich fort aus der Gegend, um meinen Fuß nie wieder auf einen Dorftanzplatz zu stellen. Aber ich ertrag's nicht, die unschuldige Ursache gewesen zu sein, daß zwei Menschen, die zusammen gehören, sich bis auf den Tod verfeindeten.«

»Wem redest Du's Wort? Ihm oder mir?«

»Euch Beiden, denn Ihr Beide seid blind gewesen, oder es wäre nie so weit gediehen.«

»Blind? Ja, Nacht war's, aber hell genug, daß ich Dich vor ihm auf dem Gaul und in seinen Armen sah; oder möchtest Du auch das leugnen?«

»Das leugnet Niemand. Brachte der Bartel mich auf den Weg, um nicht neuen Streit ausbrechen zu lassen – denn mit Allen zugleich könnt' ich nicht tanzen – so war's eine Ehre für Dich, weil's sein Vertrauen zu Dir kund gab. Er konnte nicht glauben, daß Du anders dachtest; er achtete Dich zu hoch. Wie Du über mich urtheilst, grämt mich wenig, und mit meinem unsteten Wesen mag ich's verschuldet haben, daß die Leute mir Undinge nachsagen. Doch auch das grämt mich nicht, so lange ich selber weiß, was ich werth bin. Der Bartel dagegen, soll der nicht rasend werden, wenn Diejenige, die ihm über Alles geht, schlecht von ihm denkt? Daher hast Du Schuld, Kathrin; brauchtest ihm nur ein kleines Wort zu geben, und Alles war vergessen.«

»Du scheinst den Bartel genau zu kennen?«

»So genau wie Dich und Jeden, mit dem ich drei Worte wechselte.«

»Warum kam er nicht zu mir? Warum ging er auf den Tanzboden, nachdem er Dich begleitet hatte? Warum geberdete er sich wie ein Besessener, und jubilirte und lachte er bis zum hellen Morgen, und jauchzte er dazu, wenn Jemand ihn fragte, wie weit er den Irrwisch gebracht habe? Seitdem sind Wochen verstrichen; geht er bei mir vorüber, dann schaut er, als ob wir einander fremd wären, soll ich da nicht glauben, daß Du es ihm angethan hast, und daß es besser, Euch nicht zu hindern?«

»Ich hab's ihm so wenig angethan, wie er mir; und stellte er sich trotzig, so hast Du's selber mit Deinem harten Kopf verschuldet. Ich hab's wohl gehört, als er mich auf den Weg brachte und sein Pferd antrieb, als hätte er ihm das Genick brechen wollen, wie er mit den Zähnen knirschte. Und als ich vom Pferde glitt und er mir einen Kuß mit auf den Weg gab – Du siehst, wir brauchen nichts zu verheimlichen – und als er meinte, ich sollte mit umkehren und seine Tänzerin für die ganze Nacht sein, da galt ich ihm nicht mehr, als die Absätze seiner Stiefel, mit welchen er den Gaul unbarmherzig antrieb. Ich sollte sein Werkzeug sein, um Dich bis aufs Blut zu kränken; dabei schlug sein Herz, daß ich's durch die Rippen hindurch hörte. Aber Deine bösen Worte hatten ihn wild gemacht, weil er sie nicht verdiente. Eine Andere durfte ihm Schlimmeres sagen, und er hätte dazu gelacht. Dagegen die Kathrin, nein, das war zu viel für ihn, mußte ihn zu Raserei treiben.«

»Geküßt hat er Dich?«

»Ja, und Keinem gereicht das zur Schande; nicht mir, die ich auf dem Rücken des Gauls in seiner Gewalt war, nicht ihm, der mit den Zähnen knirschte, daß ich mich vor ihm entsetzte. Traf er Dich auf dem Tanzboden und Du gabst ihm die Hand, so war Alles vergessen. Die Leute hätten gesprochen: die Beiden haben's mit der Gertrud verabredet, und der Irrwisch ist ein ehrliches Mädchen.«

Eine Weile schritten sie jetzt schweigend zwischen den Gärten einher; Kathrin hatte das Haupt geneigt, Gertrud ihre Begleiterin aufmerksam beobachtend.

Plötzlich richtete Kathrin sich empor.

»Hast Du schon einmal Dein Herz an einen Mann gehangen?« fragte sie gespannt.

»Nein – ich glaub's wenigstens nicht; aber gram bin ich schon manchem gewesen, daß ich ihn mit den Augen hätte umbringen mögen.«

»So kannst Du nicht wissen, wie mir zu Muthe ist. Den Bartel hab' ich immer gern, und hat man Einem Treue zugesagt, so vergißt sich's nicht. Aber vor ihm im Staube kriechen – nein, ich hab' meinen Willen so gut wie er; und gab's alle Tage Zank und Streit, so war's besser, wir bleiben auseinander.«

»So denkst Du nicht, Kathrin, nein, und käme Alles wieder ins Geleise, so lachtet Ihr Beide d'rüber, daß Ihr so verblendet gewesen.«

»Du willst fort aus der Gegend?«

»In den nächsten Tagen. Ich hab's satt, zu hören, wenn die Menschen mir nachschreien: Da geht der Irrwisch! Und genug hab' ich gelernt, um mir mein Brot anderweitig zu verdienen; wo Niemand mich als Kind kennen lernte, schweigt man von selber.«

»Sie schreien hinter Dir her, weil Du nicht bist wie andere Menschen. Sie sagen, du seist vom Tanzteufel besessen und wohntest auf dem Boden des Rheins, weil Du's ihnen selber in den Mund legst.«

»Sind sie einfältig genug, so mögen sie glauben, was sie wollen. Ich brauch' ihnen die Augen nicht zu öffnen; und könnt' ich's mit einem Wort thun, so geschah's nicht. Ich habe meine Lust am Tanzen und weiß auch warum.«

»Sie reden schlechter von Dir, als sie selber glauben, weil Du so viel klüger bist, als Andere. Die Einen verdrießt's, die Anderen beneiden Dich. Und gescheiter bist Du, als Mancher, der 'ne hohe Schule besuchte; doch nun sage, wenn ich dem Bartel nichts Arges zutraue, was kann ich thun – ich meine –«

»Nichts ist leichter,« versetzte Gertrud schnell, »geh zu ihm – da liegt seines Vaters Hof; sage ihm, er möge herauskommen, oder ich selber will ihn rufen, und dann reich' ihm die Hand. Sprich zu ihm, wie in alten Zeiten, erzähle ihm, ich wolle fort aus der Gegend, und sieh zu, ob er es bedauert. Dann sage ihm, ich wolle heimlich fort, um nicht Anlaß zu bösen Nachreden zu geben, und dazu bedürfe ich eines Wagens. Er möchte daher übermorgen Abend um zehn Uhr nach dem Karmeliterhofe kommen mit seinem Fuhrwerk und mich und meine Sachen aufladen. Er müsse mich die ganze Nacht hindurch stromabwärts fahren bis dahin, wo Niemand mich kenne, Niemand seinen Spott mit mir treibe. Seine Mühe solle ihm nach Gebühr bezahlt werden, und wenn er heim komme, möge er es für sich behalten, wohin er mich brachte. Es wird eine Zeit kommen, in welcher ich keines Menschen Urtheil mehr zu scheuen brauche und Ihr Beide von mir sprechen mögt.«

»Mit Dir soll er fahren?« fragte Kathrin erstaunt, und in einer neuen Anwandlung von Eifersucht fügte sie hastig hinzu: »Warum sagst Du ihm Dein Anliegen nicht selber?«

»Ich könnt's ihm sagen, und er wäre gewiß der Mann, jemand gefällig zu sein, der's verdient; aber ich will nicht mit traurigen Gedanken an Euch Beide von dannen ziehen. Sagst Du's ihm und er sieht, daß Dir's recht, wenn er mir einen Gefallen erweist, so ehrt's ihn, und ich weiß, was folgt.«

Kathrin antwortete nicht. Eine Strecke schritten sie wieder schweigend nebeneinander her. Endlich blieb Gertrud stehen.

»Da liegt des Bartel's Haus,« sprach sie, und sie wies auf ein zwischen den Bäumen hindurch schimmerndes Licht, »willst Du hin, oder soll ich ihn rufen?«

»Sage selber, was am besten.«

»Gut, Kathrin; so überwinde Dich und gehe. Es braucht Niemand unter die Leute zu bringen, daß ich des Bartels Grund und Boden betreten hab.«

»Was soll ich ihm sagen?«

»Er möge hierher gehen.«

Einige Sekunden schwankte Kathrin in ihrem Entschluß, dann schritt sie hastig auf das Haus zu. Sie befürchtete, bei langsamerer Bewegung anderen Sinnes zu werden.

Gertrud blickte ihr nach, so lange sie ihre Gestalt zu unterscheiden vermochte; dann setzte sie sich auf einen Prellstein, das Haupt auf ihre Kniee neigend.

Kurze Zeit verrann, als in dem zu Bartels Hofstelle gehörenden Garten flüchtige Schritte laut wurden. Gertrud hörte es nicht. Die in der Dornenhecke angebrachte Pforte öffnete sich und fiel zu, doch Gertrud blieb regungslos.

»Gertrud! Gertrud!« rief Kathrin mit gedämpfter Stimme.

Gertrud erhob sich doch bevor sie antworten konnte, fuhr Kathrin, dicht vor sie hintretend, fort:

»Er kommt, ich hab' ihn gerufen – höre, er kommt.«

Und er kam in der That, der Bartel. Er hatte nicht sobald Kathrins Stimme erkannt, als er aus dem Hause stürzte und der Fliehenden nacheilte. Indem er durch die Pforte stürmte, ergriff Kathrin Gertruds Arm, wie um Schutz bei ihr zu suchen.

»Kathrin – Du selber riefst mich!« sprach Bartel fast athemlos zu den beiden in der Dunkelheit verschwimmenden Gestalten, »hier bin ich, und nun sage, ob ich's zum Besten auslegen darf.«

»Zum Besten,« antwortete Gertrud an Kathrins Stelle, »ich habe eine Gefälligkeit von Ihnen zu erbitten, und da wählte ich, um keinen Abschlag zu erhalten, die Kathrin als Mittelsperson. Ihr werden Sie gern zu Willen sein.«

»So sprich's denn aus, meine Herzallerliebste!« rief Bartel jubelnd, »sage, wie ich der Gertrud zu Diensten sein kann, und verlangst Du, ich soll für sie durch den Rhein schwimmen, Dir zu Liebe thu' ich's in dieser Nacht.«

»So böse ist's nicht gemeint,« versetzte Gertrud, als Kathrin immer noch keine Worte fand, »doch die Kathrin weiß Alles; die wird's Ihnen anvertrauen und ausführlicher, als ich es könnte. Ich hab' noch einen weiten Weg vor mir – lebe wohl, Kathrin; sollten wir uns nicht wiedersehen, so denke deshalb nicht schlechter von dem Irrwisch.«

Sie lachte. Es klang halb wie Lust, halb wie spöttische Klage. Im nächsten Augenblick war sie zwischen den Hecken verschwunden. In geringer Entfernung blieb sie stehen. Sich niederkauernd brachte sie die beiden Liebesleute zwischen ihre Augen und den gestirnten Himmel. Sie verstand sogar einzelne der gewechselten Worte. An sie dachte Keiner. Niemand fragte, wie sie dorthin gekommen, Niemand, wo sie geblieben sei. Nach einigen Minuten entfernten sie sich Arm in Arm. Sie schlugen den Weg ein, welchen Kathrin in Gertruds Begleitung gekommen war. Sie hatten sich zu viel zu erzählen.

Nicht weit waren sie gegangen, als Gertrud wirklich den Heimweg antrat. So flink und leicht schritt sie einher, wie nur je zuvor, wenn geräuschvolle Musik sie zum lustigen Reigen lockte. Ob ihre Augen düster schauten oder der alte Muthwille wieder um ihren lieblichen Mund spielte, das verhüllte die Nacht. Die Betrachtungen aber, welche durch die gegenseitigen Betheuerungen der beiden Liebesleute in ihr wachgerufen worden waren, die ruhten verborgen in ihrem jungen Herzen.

Wie war sie doch gealtert in den letzten wenigen Tagen. Was gestern noch sie empörte, daß sie meinte das Leben nicht ertragen zu können: heute reizte es nur noch ihr spöttisches Bedauern. Der getreue Jerichow mit seinem harten Urtheil, der sie hämisch verfolgende Sebaldus Splitter und die sie der öffentlichen Schmach preisgebende Behörde – was galten sie ihr länger?

Des jungen Rothweil gedachte sie kaum. Er war fort, und wohin sie sich wendete, da brauchte sie nicht zu fürchten, ihm zu begegnen. Traf sie aber nach langer Zeit mit ihm zusammen, dann waren sie Beide Andere geworden. Wie solche Betrachtungen ihr Blut so leicht kreisen machten! Erst als sie spät die heimatliche Hütte erreichte, wo ihre Stiefgeschwister längst schliefen, deren Mutter dagegen noch eifrig Nadel und Scheere handhabte, beschlich es sie wie Trauer.

Wehmüthig gedachte sie das Großvaters, und wer demselben das Essen zutragen würde; wehmüthig auch der Marquise und endlich Lucretia's, welche dazu auserkoren war, sie bei ihrer alten Gönnerin zu ersetzen. Wer aber von allen Denen, die jemals in mittelbarer oder unmittelbarer Beziehung zu dem verstorbenen Rothweil oder dem Karmeliterhofe gestanden hatte, wäre in dieser Nacht dem Schlafe leicht in die Arme gesunken? Wer hätte nicht Dieses oder Jenes gehabt, was sein Gemüth schmerzlich bewegte?

Nur Bartel und Kathrin, die sich einander wiedergefunden hatten, die waren so glücklich, daß sie keine Worte dafür wußten. Die wilde Gertrud segneten sie wohl hundertmal, und heilig gelobten sie, getreulich zu halten, was Kathrin ihr im eigenen und Bartels Namen versprochen hatte.

Nach drei Tagen kehrte Bartel von einer Geschäftsreise heim. Zwei Nächte und einen Tag war er unterwegs gewesen. Manche wollten wissen, daß er aus Gefälligkeit die Gertrud eine Strecke über Land mitgenommen habe, und lobten ihn, daß er als unbescholtener Mann sich nicht um die Reden gottvergessener Mäuler kümmere. Nach längerer Zeit wunderte man sich, daß die Gertrud sich nicht mehr blicken lasse. Viele erklärten, daß sie vielleicht häuslicher geworden sei und es aufgegeben habe, hier und da aufzutauchen, wo man es gerade am wenigsten erwartete.

Wiederum nach längerer Zeit, da hieß es, wo der Irrwisch wohl sein Ende genommen habe. Fragten zufällig Vorübergehende den alten Ginster oder die Wäscherin in dem Festungsgraben, dann zuckte Ersterer die Achseln, wogegen Letztere meinte, daß es endlich Zeit für die Gertrud gewesen sei, unter die Leute zu gehen und sich ihr Brot anderweitig zu verdienen.

Dann war sie vergessen, die lustige Rheinnixe, der muthwillige Kobold, der unstete, schadenfrohe Irrwisch; kaum daß Jemand noch den Namen Gertrud in den Mund nahm.


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