Balduin Möllhausen
Der Schatz von Quivira
Balduin Möllhausen

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Vierzehntes Kapitel.

Des Räthsels Lösung.

Nur noch vierundzwanzig Stunden, und Perennis eilte einem fernen Ziele zu. Die Bewohner des Karmeliterhofes hatte er vernachlässigt. Zu viel Zeit nahmen seine Vorbereitungen in Anspruch und die Erfüllung einzelner gerichtlicher Formen, laut deren er die Erbschaft seines verstorbenen Onkels antrat, und sich für den Schuldner von dessen Gläubigern erklärte. Die Beschleunigung seiner Abreise hatte er in mancher Beziehung den Gefälligkeiten Splitters zu verdanken. Wo nur immer möglich, ging derselbe ihm mit Rath und That zur Hand; selbst nächtliche Arbeiten scheute er nicht, um ihm die Beobachtung der vorgeschriebenen Formen zu erleichtern. Auch jetzt blieben Splitters Beziehungen zu Lucretia, gemäß des abgelegten Versprechens, zwischen ihnen unberührt. Bereits günstiger für jenen gestimmt, trug es nicht wenig zu Perennis' Beruhigung über seiner jungen Verwandten Zukunft bei, daß Splitter niemals den Versuch unternahm, sich ihr zu nähern. Der Plan, Lucretia Gertruds Stelle bei der Marquise einzuräumen, sollte erst dann zur Ausführung gelangen, wenn Gertrud ebenfalls abgereist sein würde, bis dahin aber wurde er von dieser und ihrer Beschützerin als strenges Geheimniß betrachtet.

Nur noch vierundzwanzig Stunden! Perennis' geringe Habseligkeiten waren gepackt. Ein kleiner Koffer enthielt seine ganze irdische Habe. Er brauchte nur noch folgenden Tages sich auf dem Karmeliterhofe zu verabschieden und die ihm von der Marquise zugesicherte Geldsumme in Empfang zu nehmen.

Der Abend war hereingebrochen. Auf dem Tisch lagen einige versiegelte Briefe an Schwestern und Freunde. Grübelnd und nicht ohne Besorgniß sich mit der Zukunft beschäftigend, schritt Perennis in dem kleinen Gastzimmer auf und ab, als die Thür leise geöffnet wurde. Einen Aufwärter vermuthend, kehrte er sich um, und vor ihm stand Gertrud.

»Endlich einmal ein Beweis, daß Du meinen Auftrag nicht ganz vergessen hast!« redete Perennis sie unverweilt freundlich an.

»Es mag wohl nichts zu hinterbringen gewesen sein,« antwortete Gertrud gleichmüthig, »Sie reisen morgen, und da wollte ich Ihnen Lebewohl sagen.«

Perennis betrachtete die vor ihm Stehende aufmerksam. Er meinte sie nie schöner gesehen zu haben, nie jungfräulicher und sittiger, als jetzt in der ruhigen, zuversichtlichen Haltung und indem sie die großen geheimnißvollen Augen mit undurchdringlichem Ernst auf ihn richtete. Trotz der noch unveränderten einfachen Bekleidung umgab sie eine eigenthümliche Würde, bei Perennis den Eindruck erzeugend, als ob sie in den Tagen, seit welchen er sie nicht sah, um ebenso viele Jahre gealtert wäre.

»Und eine große Freude bereitest Du mir dadurch,« versetzte Perennis, »denn wer weiß, ob ich morgen Zeit zu einem Besuch im Festungsgraben gefunden hätte. Und ohne ein Lebewohl von Dir wäre ich ungern geschieden. Gehörst Du doch gewissermaßen mit zu dem Karmeliterhofe, als dessen Besitzer ich nunmehr anerkannt worden bin.«

»Ich erwartete nicht, daß Sie den armseligen Bau meines Großvaters noch einmal betreten würden,« erwiderte Gertrud herbe, »und was wollten Sie dort? Ich stehe Ihnen nicht nah genug, daß Sie sich um mich zu kümmern brauchten.«

»Nahe genug, um Deiner, so lange ich lebe, mit herzlicher Theilnahme zu gedenken,« betheuerte Perennis, unbewußt dem Einfluß von Gertruds ernster Zurückhaltung nachgebend.

Diese sah ihn fest an. Sie schien über etwas nachzusinnen, dann zuckte sie leicht die Achseln.

»Wollen Sie mich begleiten?« fragte sie mit einer Kälte, welche sie der Marquise abgelauscht zu haben schien.

»Mit Freuden,« antwortete Perennis immer mehr befremdet, »und wenn ich nach Deinem Ziel frage, so geschieht es nicht etwa, weil von der Wahl desselben meine Bereitwilligkeit abhinge.«

»Nach dem Karmeliterhofe.«

»Um so besser. Wann brechen wir auf?«

»Auf der Stelle.«

»Ich bin bereit,« erklärte Perennis, indem er nach seinem Hut griff, »es erschien mir zu einem Plauderstündchen zu spät, ich wäre sonst schon hinausgegangen.«

Gertrud antwortete nicht. Erst als sie auf die dunkle Straße hinaustraten, nahm sie das Gespräch wieder auf.

»Sie werden nicht viel Gelegenheit finden, mit ihren Freunden zu plaudern,« bemerkte sie wie beiläufig.

Anstatt zu antworten, bot Perennis ihr den Arm. Gertrud trat einen Schritt von ihm fort.

»Sie wissen nicht, was Sie thun,« sprach sie mit bitterem Spott, »es würde sich für den Herrn vom Karmeliterhofe schicken, mit einer Bewohnerin des Festungsgrabens Arm in Arm über die Straße zu gehen.«

»Ich gehe, mit wem ich will, ohne Jemand danach zu fragen.«

»Und ich reiche meinen Arm Demjenigen, dem ich will, und das ist Niemand;« und nach einer Pause: »Ich hätte Sie nicht aufgesucht, wäre es mir nicht anbefohlen worden.«

»Kein freundliches Kompliment. Aber auch dem Dritten, wer es auch sei, weiß ich es Dank, daß er mir Deine Gesellschaft zuführte.«

»Die Marquise.«

»Ich ahnte es. Sie will mich sprechen?«

»Nein. Sie hat andere Zwecke. Sie ist meine Wohlthäterin und wünscht, daß, bevor Sie abreisen, Sie ein anderes Urtheil über mich gewinnen. Die Menschen reden Arges von mir. Sie möchte nicht, daß Sie Alles glauben.«

»Ueberflüssige Mühe; denn erstens hörte ich nichts Nachtheiliges über Dich, und ferner würde ich nimmermehr Nachtheiliges glauben.«

»Sie besuchen die Frau Marquise morgen?«

»Um mich von ihr zu verabschieden.«

»Sie verrathen nicht, was ich Ihnen anvertraue?«

»Nicht eine Silbe kommt über meine Lippen.«

»Ich soll mir nämlich den Anschein geben, als läge mir selber an Ihrer Meinung und Sie daher aufzuklären suchen. Sonst war's mir nie eingefallen; ich kümmere mich um keines Menschen Meinung.«

»Wie sollte ich ein besseres Urtheil gewinnen, als dasjenige, welches sich bereits bei mir bildete? Vielleicht nur ein anderes, und doch wüßte ich nicht, wie das zu bewirken wäre.«

»Sie werden sehen. Darüber reden darf ich nicht. Nur sehen. Die Frau Marquise befahl mir – natürlich als ging's von mir allein aus – Ihnen das Versprechen abzunehmen, daß Sie Alles, was Sie erfahren, als unverbrüchliches Geheimniß betrachten; wenigstens morgen noch. Sind Sie erst fort, hat's keine Gefahr mehr.«

»Du spannst mich auf die Folter. Doch zuvor leiste ich das geforderte Versprechen.«

Eine längere Strecke legten sie schweigend zurück, Gertrud das Haupt geneigt, Perennis immer wieder die schattenhafte Gestalt an seiner Seite betrachtend, um welche die Schleier des Räthselhaften sich dichter und dichter zusammenzogen.

Außerhalb der Stadt brach Gertrud das Schweigen, welches Perennis aus freundlicher Rücksicht so lange währen ließ.

»Wenn Sie auf dem Karmeliterhofe wohnen, werden Sie dem Großvater die Fischgerechtigkeit nicht verkümmern?« fragte sie eintönig.

»Sollte ich so glücklich sein, das alte Gehöft über kurz oder lang zu beziehen, so bleibt Dein Großvater so ungestört, wie er selber nur wünschen kann. Gerathe ich dagegen in die Lage, mich meines Besitzthums entäußern zu müssen, so trage ich Sorge, daß seine Ansprüche kontraktlich geschützt werden.«

»Das ist dankenswerth. Der alte Mann wird wohl nicht viele Jahr mehr sein Netz auswerfen, und auf wen dann die Gerechtigkeit übergeht, ist gleichgültig.«

»So mögen seine Erben ihre Ansprüche verkaufen.«

»Das brauchen sie nicht, – ich meine, die Verhältnisse können sich ändern,« verbesserte sich Gertrud, wie befürchtend, zu viel gesagt zu haben, und um Perennis keine Zeit zu gönnen, ihre Bemerkung zu erwägen, fügte sie hinzu: »Kennen Sie einen Herrn Sebaldus Splitter?«

»Wohl kenne ich ihn. Er ist recht gefällig und aufmerksam gegen mich.«

»Bis Sie fort sind. Ich hasse den Mann. Ihre Verwandte darf ihn nicht heirathen.«

»Weshalb nicht?« fragte Perennis überrascht.

»Er hat schleichende Bewegungen und einen falschen Blick. Haßt er Jemand, so bereitet er ihm Schlimmeres, als den Tod.«

»Du selbst hast Dich über ihn zu beklagen?«

»Ich kenne ihn kaum. Aber das Mädchen sollte auf der Hut sein; es ist zu gut für ihn. Ich wüßte einen bessern Mann.«

»Zu einem bessern gehört nicht viel,« versetzte Perennis lachend, obwohl Gertruds Mittheilungen ihn tief bewegten. »Ich möchte indessen wissen, wen Du für geeigneter hältst.«

»Den Herrn vom Karmeliterhofe.«

»Mich?« fragte Perennis erstaunt.

»Keinen Anderen.«

Perennis antwortete nicht gleich, und nach wenigen Minuten hatte er den Faden des Gesprächs verloren. Wäre er gefragt worden, so hätte er keine Rechenschaft über das abzulegen vermocht, was in wirren Bildern seine Phantasie durchkreuzte. Ein Gedanke, wie Gertrud ihn anregte, hatte ihm bisher zu fern gelegen. Er kannte nur seine schwer besiegbare Abneigung gegen Splitter, und sein inniges Bedauern, Lucretia bis zu einem gewissen Grade als sein Opfer betrachten zu müssen. »Sie ist zu gut für ihn,« meinte er noch immer Gertruds überzeugungsvolle Stimme zu hören. Gertrud selber schien er vergessen zu haben; und doch schritt diese so dicht neben ihm einher, daß die Falten ihres Kleides ihn zuweilen streiften, sie durch die Dunkelheit hindurch deutlich unterschied, daß er das Haupt auf die Brust gesenkt hatte, wie Jemand, der vergeblich trachtet, eine Räthselfrage zu lösen.

In geringer Entfernung vor ihnen schlugen die Hunde des Karmeliterhofes an.

»Mich?« fragte Perennis wiederum, einen Zeitraum von beinah zehn Minuten gleichsam überspringend und da anknüpfend, wo das Gespräch abgebrochen worden war.

Erstaunt sah er um sich. Er begriff nicht, daß es die schwarzen Umrisse des Karmeliterhofes, was vor ihm aus der Dunkelheit emportauchte.

»Keinen Anderen,« wiederholte Gertrud ebenfalls wie zuvor.

»Nein, nein,« versetzte Perennis zweifelnd, »Fräulein Lucretia hat ihre Hand bereits versagt, und findet sie selbst keinen Grund, das Verhältniß abzubrechen, so sind Fremde am wenigsten berufen, störend dazwischen zu treten. Sie ist noch jung, sie bedarf der Zeit zum Ueberlegen,« er zögerte, dann fuhr er mit einer gewissen Innigkeit fort: »Freilich, wenn ich wüßte, daß es ihr nicht zum Segen gereichte, sollte Nichts mich hindern – doch morgen reise ich ab; hoffentlich bin ich innerhalb Jahresfrist zurück, und bis dahin ändert sich Nichts. Auch Du wirst bei der Marquise nach alter Weise verkehren.«

»Wer kann weit in die Zukunft sehen?«

»Wenigstens so lange, wie Du dort aus und eingehst, wirst Du meiner jungen Verwandten mit freundlicher Theilnahme begegnen, nicht vergessen, daß im Grunde das Geschick sie weniger begünstigte, als Dich. Du besitzest eine Heimstätte, Geschwister, Mutter und noch einen Großvater –«

»Und sie einen Verwandten, der nicht durch zehn Splitter aufgewogen wird,« fiel Gertrud ein, und mit bezeichnendem geräuschlosem Lachen fügte sie hinzu: »so lange ich auf dem Hofe aus- und eingehe, will ich ihr indessen zu Diensten sein. Ziehe ich fort, so findet sich ein Anderer, der sie im Auge behält.«

Sie hatten sich dem Kelterhause bis auf etwa hundert Schritte genähert. Gertrud blieb stehen und maß die Entfernung mit den Augen.

»Herr Rothweil, wir sind zur Stelle,« begann sie, und wäre dieser ihr zum ersten Mal begegnet, so hätte er sie in der Dunkelheit für eine Person in den reiferen Jahren halten müssen, so entschieden und überlegend klang ihre Stimme, »ich selbst habe Nichts zu erbitten. Was ich jetzt von Ihnen fordere, ist mir von der Frau Marquise vorgeschrieben worden. Offenbare ich ihnen deren versteckten Willen, so habe ich meine Gründe dazu. Wollen Sie mir zu Gefallen so handeln, wie ich Ihnen rathe?«

»Mit Freuden, Gertud, und ich wünsche nichts sehnlicher, als daß es mir gelingen möge, Dir die alte Heiterkeit zurückzugeben, welche Dir plötzlich untreu geworden zu sein scheint.«

»Alle Stunden sind nicht gleich. Auf Regen folgt Sonnenschein, und umgekehrt. Gehen Sie zu dem Wegerich. Sie sind der Besitzer des Hofes; Sie brauchen nur zu befehlen, und er öffnet Ihnen das Zimmer des todten Herrn Rothweil. Da hinein gehen Sie und schließen Sie die Thür hinter sich ab. Wenn Sie den Vorhang vor der anderen Thür zur Seite schieben, werden Sie ein rundes Loch in dem Holzwerk entdecken. Ich selbst habe es auf der Frau Marquise Befehl gebohrt. Auf der anderen Seite ist der Vorhang ebenfalls entfernt worden, so daß Sie das Zimmer der Frau Marquise, wenn Sie Ihr Auge an die Oeffnung legen, übersehen können. Blicken Sie also hinein. So hat's die Frau Marquise angeordnet, und ich muß gehorchen. Sie sollen glauben, es sei allein mein Werk, und gerade das will ich nicht. Denn mir ist's gleichgültig, wie Sie über mich denken; was meine Wohlthäterin bezweckt, kümmert mich noch weniger. Und nun eine Bedingung: Wenn Sie morgen von der Frau Marquise Abschied nehmen, verrathen Sie mich nicht, oder es ist mein Unglück. Auch suchen Sie mich nicht mehr auf. Auf keinen Fall würden Sie mich finden, nicht im Festungsgraben, nicht bei meinem Großvater am Wasser, nicht hier. Ebenso wenig fragen Sie Jemand nach mir, die Menschen sind neidisch und hängen Anderen zu gern Böses an. Wollen Sie das befolgen?«

»Pünktlich, Gertrud, so pünktlich, wie Du nur wünschen kannst. Ich leugne allerdings nicht, Deine Mittheilungen erregen mich im höchsten Grade. Etwas Unheimliches liegt in allen diesen Räthseln.«

»Wenn Sie nach der Stadt zurückkehren, giebt es für Sie kein Räthsel mehr. Andere dürfen dagegen Nichts ahnen. Schweigen Sie nur einen Tag, dann sind Sie ja fort.«

»Bliebe ich noch Monate, so wäre mein Wort ebenso sichere Bürgschaft, wie meine Abwesenheit.«

»Dann brauche ich Ihnen nur noch Lebewohl zu sagen.«

»Wir werden uns wiedersehen, Gertrud, ich rechne zuversichtlich darauf, wenn auch erst in Jahr und Tag,« versetzte Perennis, indem er die gebotene Hand herzlich drückte, ja, Gertrud, gerade durch das Geheinißvolle in Deinem Wesen hast Du mir so viel aufrichtige Theilnahme eingeflößt, daß ich um jeden Preis über Dein ferneres Ergehen unterrichtet sein möchte.«

»Wiedersehen werden Sie mich wohl, meine Zukunft wird Ihnen dagegen keine Sorge machen. Ich stehe auf eigenen Füßen. Doch ich muß zur Marquise und ihr verkünden, daß mein Plan mit Ihnen glückte und Sie die Wahrheit nicht ahnten – was schadet der kleine Betrug, wenn Jemand dadurch zufriedengestellt wird? Noch einmal, Herr Rothweil, leben Sie wohl,« und fester drückte sie seine Hand.

»Lebe wohl, Du liebes, schönes, räthselhaftes Kind,« antwortete Perennis, »als ich Dich das erste Mal sah, hätte ich nicht geglaubt, daß ich Dich so lieb gewinnen würde. Lebe wohl, Gertrud, und auf ein fröhliches Wiedersehen.«

Er legte den Arm um ihren Hals und küßte sie auf die warmen Lippen. Ohne den leisesten Widerstand duldete Gertrud die zärtliche Berührung. Eine Bildsäule hätte nicht regungsloser verharren können.

»Wäre ich eine vornehme Dame, würden Sie dann sich ebenfalls die Freiheit genommen haben?« fragte sie spöttisch, jedoch nicht zürnend, als Perennis von ihr abließ.

»Sicher, Gertrud, und die vornehme Dame würde schwerlich vor dem harmlosen Beweise aufrichtiger Theilnahme und der Trauer um das Scheiden zurückgebebt sein.«

Gertrud sann ein Weilchen nach, wie um die vernommenen Worte zu prüfen.

»Ich glaube, Sie haben Recht,« sprach sie darauf freundlich, »ich hätte Sie auch dann nicht zurückgestoßen. Denn Sie sind der einzige Mensch in der Welt, welcher den verrufenen Irrwisch nicht mit Worten und Blicken strafte, der mir glaubte, nicht zweifelte, wenn ich ihm sagte oder zu verstehen gab, daß ich keinen ernsten Vorwurf über meinen Lebenswandel verdiene.« Sie lachte beinah klanglos und fuhr fort: »Was sollen mir Menschen, die mich tadeln, strafen und mit Vorwürfen überhäufen, weil böse Zungen ihnen die Ohren vollgeblasen haben? Die nicht einmal fragen, ob ich schuldig oder unschuldig; die glauben, daß man nur auf der Straße aufgewachsen zu sein braucht, um Alles Schreckliche, den schlimmsten Argwohn über sich ergehen lassen zu müssen? Zu solchen Menschen gehören Sie nicht, und darum habe ich Vertrauen zu Ihnen. Ich werde viel an Sie denken. Was Sie aber über mich hören mögen: Ich habe Nichts begangen, daß ich Ihre Freundschaft nicht verdiente. Leben Sie wohl, Herr Rothweil; wenn wir wieder zusammentreffen, hat sich Manches geändert – heute bin ich noch der verrufene Irrwisch, kann ich machen, was ich will,« sie richtete sich an ihm empor, küßte ihn, und gleich darauf war sie im Schatten des Gehöftes verschwunden.

Perennis stand wie betäubt. Die Eindrücke, welche er auf dem Wege von der Stadt in seinem Verkehr mit Gertrud, namentlich während der letzten Erklärung empfangen hatte, wirkten so überwältigend auf ihn ein, daß er sich in eine Märchenwelt versetzt wähnte. Er konnte es nicht fassen, daß die von so viel ernster Würde umflossene, schattige Gestalt, deren warme Lippen er noch auf den seinigen fühlte, dieselbe schadenfrohe Gertrud, derselbe koboldartige Irrwisch, welchen er früher seiner Gewandtheit und Schlagfertigkeit im muthwilligen Wortwechsel halber bewunderte. Die Hunde, welche wieder anschlugen, weckten ihn aus seinem träumerischen Sinnen. Sich bewußt, wenigstens vor einer theilweisen Lösung des Räthsels zu stehen, eilte er mit beschleunigten Schritten nach dem Hofe hinauf. –

Lucretia befand sich bei dem alten Wegerich. Mit ungeheuchelter Freude begrüßten Beide den Eintretenden; zugleich aber machte sich ein Zug von Trauer bemerkbar, erzeugt durch die Vermuthung, daß er gekommen, um Lebewohl zu sagen.

»Morgen spreche ich noch einmal vor,« beantwortete er die in Lucretia's redlichen Augen sich offenbarende Frage, »Ihr Glückwunsch soll das Letzte sein, was ich mit mir von hier fortnehme. Kein anderer Scheidegruß soll mir die wehmüthige Freude verkümmern, gerade Ihren Wunsch als letztes und theuerstes Angedenken an meine alte Heimstätte zu betrachten.«

Lucretia erröthete lieblich; aber trauervoll blickten ihre Augen, indem sie zaghaft antwortete:

»Dürfte ich doch die Erste sein, Sie nach der langen Trennung hier willkommen zu heißen.« Sie verstummte befangen. Gewann sie doch den Eindruck, als überhöre Perennis ihre Worte, als sei seine Theilnahme eine mehr mechanische, während seine Gedanken sich mit anderen, ihr fremden Dingen beschäftigten.

»Ich hoffe es, ja, ich hoffe es zuversichtlich,« entgegnete er, die ihm gebotene Hand kräftig drückend, wie wohl geschieht, wenn ein guter Freund dem anderen eine Gefälligkeit zusagt; dann zu Wegerich, der ihn fortgesetzt ängstlich beobachtete, während Lucretia still zur Seite trat: »Den Schreibtisch meines Onkels möchte ich noch einmal einer eingehenden Prüfung unterwerfen, das unscheinbarste Papierstreifchen kann eine Notiz tragen, welche von unschätzbarem Werthe für mich – ich will indessen unsere junge Freundin nicht Ihrer Gesellschaft berauben,« fügte er hinzu, als Wegerich ein Licht anzündete, um ihn zu begleiten, »schließen Sie auf, das ist Alles, was ich wünsche; ich möchte ungestört bleiben – thun Sie, als ob ich gar nicht hier wäre.«

Er nickte Lucretia freundlich zu und nahm das Licht aus Wegerichs Händen, der mit fieberhafter Geschäftigkeit die Thür vor ihm aufschloß.

Nachdem Perennis in das Arbeitszimmer eingetreten war, und die Thür hinter sich verriegelt hatte, schien er die Zurückbleibenden vergessen zu haben. Am wenigsten ahnte er, daß bei seinem ungewohnten hastigen Wesen heimliche Besorgniß sich ihrer bemächtigte, sie nur noch in flüsterndem Tone zu sprechen wagten. Die Stille, welche in dem Zimmer herrschte, wurde daher nur durch das Geräusch der eigenen Bewegungen unterbrochen, indem er das Licht hinter den Schreibtisch in einen Winkel stellte und sich nach der verhangenen Thür hinüber begab. Vorsichtig löste er die Friesdecke von den sie mit dem Fußboden vereinigenden Nägeln. Als er sie zur Seite schob, entdeckte er in der That einen Lichtstreifen, welcher von der anderen Seite her durch eine etwa einen halben Zoll breite Oeffnung zu ihm hereindrang. Leise kniete er nieder. Sein Antlitz gelangte dadurch in gleiche Höhe mit der Oeffnung, und indem er sein Auge derselben näherte, gewann er, wie in einem Zauberspiegel, einen wenn auch eng begrenzten Ueberblick des Nebenzimmers. Dasselbe war hell erleuchtet durch mehrere Lampen, welche indessen außerhalb seines Gesichtskreises standen. Dabei erschien der Raum leer, als seien die Möbel mit Bedacht ringsum an den Wänden vertheilt worden. Von der Marquise bemerkte er in der Richtung nach dem Giebelfenster hinüber nur deren Schuhe und den Besatz ihres Kleides. Die beinah krankhafte Spannung, in welcher er lebte, die tiefe Stille auf der anderen Seite der Thür ließen ihn das Entrinnen der Zeit kaum merken. Endlich ertönte der Marquise Stimme.

»Gertrud, bist Du bereit?«

»Im Augenblick,« lautete die Antwort aus dem Schlafzimmer.

»Passen Dir die Schuhe?«

»Als ob sie für mich angefertigt wären; sie sehen aus, wie neu.«

»Gut, mein Kind; vergiß nicht, das Haar ganz aufzulösen.«

»Es ist geschehen.«

Wiederum verrannen mehrere Minuten in tiefer Stille. Perennis' Erregung wuchs in dem Maße, daß er das Blut in seinen Schläfen hämmern fühlte.

»Ah, sehr gut,« vernahm er plötzlich wieder die Stimme der Marquise, »in der That, wie angegossen; und dabei so wohl erhalten, besser als ich erwartete. Dem Stoff sieht man die langjährige Rast kaum an; das leichte Verblassen gereicht der meergrünen Farbe nicht zum Nachtheil. Doch jetzt nimm Deine ganze Kraft zusammen. Bilde Dir ein, statt der einzelnen Person säßen hier deren tausend, die mit größter Aufmerksamkeit Deine Bewegungen verfolgten und prüften. Bringe mir Deinen Gruß dar – halt – langsam – nicht übereilt.«

Perennis hörte nichts; aber als sei sie von der Luft getragen worden, schritt Gertrud bis in die Mitte des Zimmers vor, und sich tief verneigend, verharrte sie in dieser Stellung. Perennis lehnte die Stirn fest an die Thür. Das namenlose Erstaunen erzeugte in ihm die Empfindung, als ob seine Sehnen sich verlängerten und erschlafften, ein Rausch seine Sinne in Fesseln lege. Und doch genügte der erste Anblick, wie mit einem Schlage alle bisherigen Räthsel zu lösen, ihm eine volle Erklärung alles dessen zu verschaffen, was ihn schon bei seiner ersten Begegnung mit Gertrud, mit welcher er vor einer halben Stunde erst von der Stadt kam, dieselbe Gertrud, die er sorglos mit nackten Füßen durch den Straßenstaub hatte wandern sehen, die mit ihrem koboldartigen Wesen die Menschen verspottete, um gleich darauf wieder durch anmuthige Bewegungen gleichsam Zauberkreise um sie zu ziehen, sie zu versöhnen und wieder abzustoßen. Ja, da stand sie, die liebliche Rheinnixe, als ob sie eben erst den grünen Fluthen des Stromes entstiegen wäre. Ihre schönen Glieder umspannte fleischfarbiges Seidengewebe und ließ deren edle Formen bis in die kleinsten Linien hinein scharf hervortreten. Die in weiße Atlasschuhe eingeschnürten Füße erschienen fast zu klein, um die Last des lieblich abgerundeten Körpers in der gezwungenen und doch wieder natürlichen Stellung zu erhalten. Die vollen Arme waren nackt bis zu den Schultern. Zwei breite, goldig schimmernde Bänder umschlossen dieselben oberhalb der Handgelenke. An den jungfräulichen Oberkörper schmiegte sich ein Leibchen von blaßgrüner Seide an. Von diesem fiel ein bauschiger Rock von demselben Stoff knapp bis auf die Kniee nieder. Nur durch eine frische Weinranke um die Schläfen befestigt, strömte das prachtvolle blonde Haar in dichten Wellen über Schultern und Rücken, daß Perennis bei der charakteristischen Verkleidung meinte, nie ein holdseligeres Bild gesehen zu haben.

Als Gertrud zuerst in seinen Gesichtskreis trat, war ihr Antlitz bleich; doppelt scharf zeichneten sich daher auf demselben die schwarzen Brauen, die dunkelblauen Augen und die rothen Lippen aus. Schöner aber noch und liebreizender erschien es, als es in Folge der Anstrengung, auch wohl in dem Bewußtsein, von ihm beobachtet zu werden, allmälig zu erglühen begann. Ein unbeschreiblich süßes Lächeln der Befangenheit schmückte die gleichsam kindlichen Züge. Und doch glaubte Perennis zu entdecken, daß dasselbe ein erkünsteltes. Denn die dunkeln Brauen hatten sich einander genähert und verliehen ihrem Blick jene Düsterheit, die mehr im Einklänge mit der Stimmung, welche sie in ihrem jüngsten Verkehr mit ihm offenbarte.

»Sehr gut,« sprach die Marquise nach einer kurzen Pause, »sehr gut, mein Kind; nun die zweite Stellung.«

Sie hatte kaum ausgesprochen, da stand Gertrud auf den äußersten Zehenspitzen, den Oberkörper zurückgebeugt, die gefalteten Hände hoch über ihrem Haupte, wie um sich mit einem heftigen Schwünge in einen gähnenden Abgrund hinabzustürzen.

»Beinah tadellos,« erklärte die Marquise wiederum; »doch fahre fort. Zuvor aber erfülle Deine Phantasie mit Bildern, wie ich solche andeute. Es ist nicht genug, daß der Körper arbeitet; Deine ganze Seele muß ihm helfen, muß ihn tragen, oder eine bewegliche Holzfigur leistete dasselbe. Bringe mir also Deine Huldigungen dar; stelle Dir vor, ich sei eine einsam erschlossene Lotosblume, nach welcher Du Dich sehntest, oder Jemand, den Du zu Dir hinabziehen möchtest. Vergiß keinen Augenblick, daß Du eine Nixe. Trägst Du doch dasselbe Kleid, in welchem eine Andere, überschüttet von rauschendem Beifall ihre künstlerische Laufbahn zum Abschluß brachte.«

Perennis schaute und schaute. Es war, als hätte er dem Leben nicht mehr angehört, so regungslos kniete er da, so fest ruhte seine Stirn auf dem Holz der Thür, so krampfhaft stützten sich seine Hände auf die gekehlten Einfassungen der Pfosten. Hätte die Marquise ihn beobachten können, sie würde befriedigt, sogar erstaunt gewesen sein über die Genauigkeit des Zusammentreffens ihrer Berechnungen. Denn bei der Wechselwirkung der bedachtsam vertheilten Beleuchtung und der rund und scharf begrenzten Aussicht, welche gewissermaßen der Rahmen des Gemäldes, war es kein Gebilde von Fleisch und Bein, was vor Perennis' Blicken sich in den kühnsten und graziösesten Schwingungen wiegte, sondern ein Blumengeist, der seine liebsten Kinder umspielte, sie gleichsam segnete. Und dann wieder die sprechende Sehnsucht, indem Gertrud sich nach vorn neigte, dieses süße Flehen, indem sie die Arme ausbreitete, dieses liebliche Schmollen, indem sie sich blitzschnell um sich selbst drehte und zur Flucht anschickte, um gleich darauf das Spiel von vorne zu beginnen.

Was die Marquise sprach, was sie lobte, was sie tadelte: Perennis hörte es nicht. Er sah nur, fühlte nur, konnte nicht fassen, daß die frischen lächelnden Lippen ihn geküßt hatten, daß er durch das wilde, spottlustige Wesen hindurch nicht längst errieth, was dahinter verborgen.

»War ich denn blind?« fragte er sich immer wieder, während das berauschende Bild nach den Anweisungen der Marquise durch jede neue Bewegung die vorhergegangenen zu übertreffen suchte. Denn die Gertrud, das durch Splitters Hinterlist tief beleidigte Mädchen war es jetzt nicht mehr, nicht mehr die mit einem verehrten Lehrer zerfallene Schülerin, nicht mehr die von der Marquise streng beherrschte Automate, nicht mehr der sorglose Schmetterling, welcher Perennis neckisch umflatterte, sich im lustigen Dorfreigen drehte, nicht mehr das eigenwillige Kind, welches mit Widerstreben und den Zweck dumpf ahnend, sich dazu hergab, von ihm belauscht zu werden! Nur noch Künstlerin war sie mit Leib und Seele, und durchdrungen von dem Wunsche, nicht allein den Anforderungen ihrer Lehrerin zu genügen, sondern auch Perennis zu gefallen. Indem aber die Lobsprüche und Ermuthigungen der Marquise ihre Bewegungen begleiteten, erhielten ihre Augen erhöhten Glanz, lebte sie sich in die ihr zuerkannte Rolle hinein, verkörperte sie gleichsam die lieblichste aller freundlichen Märchengestalten.

Ob er eine Stunde oder der Minuten zehn vor der wunderbaren Scene geweilt hatte, wonach hätte er es berechnen sollen? Als Gertrud sich aber endlich in das Schlafgemach zurückzog, so geräuschlos, wie sie erschienen war aus seinem Gesichtskreise verschwand, da war ihm, als ob ein undurchdringlicher Schleier vor seinen Augen niedergesunken wäre. Und doch brannten die ihm unsichtbaren Lampen noch ebenso hell wie zuvor, erinnerte die Stimme der Marquise ihn fortgesetzt daran, daß es kein Traum gewesen, was sein Gehirn in Flammen setzte und ihn noch immer an die Thür bannte.

»Wir wollen es heute dabei bewenden lassen,« sprach die Marquise nach dem Schlafzimmer hinüber, und so gleichmüthig, als hätte sie wirklich nichts von Perennis' Nähe gewußt, und noch weniger die Wirkung des unerwarteten Anblicks auf ihn berechnet gehabt, »es bedarf nur noch der Uebung nach guter Musik, und mit Leichtigkeit wirst Du Dich mit den verwickeltesten Gruppirungen vertraut machen.«

Gertrud antwortete nicht und nach einer Pause fuhr die Marquise fort:

»An den Karmeliterhof knüpfen sich für uns Beide reiche Erinnerungen, zu reich, als daß ich mich entschließen könnte, von hier fort zu ziehen. Auf ein Jahr sind wir freilich noch gesichert, aber dann – was sollen wir beginnen, wenn der junge Rothweil sich selber hier einrichtet? Und daß ihm nach Jahresfrist die Mittel dazu zur Verfügung stehen, wer möchte das bezweifeln?«

Wiederum eine Pause tiefer Stille. Plötzlich trat Gertrud in Perennis' Gesichtskreis. Sie war wieder das Fischermädchen im dürftigen Kattunkleide. Nachlässig aufgesteckt fiel das Haar nur bis auf ihren Nacken nieder. Das Scheitelhaar war etwas tiefer über die Stirn gesunken. Es rief den Eindruck hervor, als sei es absichtlich geschehen, um gemeinschaftlich mit den gerunzelten Brauen dem Antlitz einen um so düstreren Ausdruck zu verleihen.

»Haben die gnädige Frau noch Befehle?« fragte sie, unzufrieden nach der Thür hinüberschauend, als hätte sie Perennis' Blicke durch die Bretter hindurch gefühlt.

»Heute nichts mehr«, hieß es eintönig zurück.

Mit ehrerbietigem, aber kurzem Gruß trat Gertrud aus dem Zimmer; gleich darauf hörte Perennis die nach dem Flur sich öffnende Thür des Schlafgemachs gehen. Hastig sprang er empor. Wie einem mächtigen Zauber nachgebend, wollte er hinausstürmen, aber er entsann sich seines Versprechens, bevor er die Thür erreichte. Erschöpft warf er sich auf das alte, wurmstichige Ledersopha, auf welchem sein verstorbener Onkel so manche Stunde grübelnd gesessen hatte. Doch anstatt sich zu beruhigen, drängte Gertrud sich immer wieder in seine Gedanken ein, und nicht als diejenige, als welche er sie zuerst kennen lernte, sondern in ihrer vollsten, durch die charakteristische Bekleidung noch gehobenen, sinnverwirrenden Anmuth, von welcher sie selbst kaum einen klaren Begriff zu haben schien. Neue Räthsel entstanden, Räthsel, schwerer lösbar, als alle bisherigen. Denn was bezweckte die Marquise, indem sie das hochbegabte Kind im zarten Jugendalter an sich zog, die lieblich erblühende Jungfrau durch das zwischen ihnen schwebende Geheimniß noch inniger an sich kettete? Was bezweckte sie, indem sie dieselbe zwang, in Ausführung einer an sich harmlos erscheinenden Intrigue, einen Lauscher an die Thür zu stellen? Und was war sie endlich selbst, daß sie in ihrem freudelosen Dasein keinen ändern Genuß suchte, als sich vielleicht beim Anblick ihres holden Schützlings in die Erinnerung der Tage der eigenen Triumphe zu versenken? Denn in dem Auftreten ihrer Schülerin offenbarte sich ihre Vergangenheit ja unzweifelhaft. Und viel, sehr viel mußte sie erfahren, wohl auch gelitten haben, daß sie gewissermaßen zur Menschenfeindin wurde, sich in dumpfe Abgeschiedenheit vergrub, das Lachen verlernte und nur ihren düsteren Grübeleien nachhing.

Gern hätte er einen freieren Blick in ihre Lebensgeschichte geworfen, allein die Abreise war unwiderruflich auf den folgenden Tag festgesetzt worden, und kehrte er wirklich nach Jahresfrist heim, wen fand er dann noch auf dem Karmeliterhofe? Anstatt sich in der Einsamkeit des stillen Zimmers zu beruhigen, schuf seine erhitzte Phantasie neue, ihn tief ergreifende Bilder. In dem Kuß, welchen Gertrud auf seine Lippen drückte, mußte sie ihm unfehlbar wirkendes Gift eingeflößt haben, daß sie immer wieder vor ihm auftauchte, die Arme sehnsüchtig nach ihm ausbreitend, wie um ihn mit Gewalt nach sich zu ziehen. Endlich ertrug er es nicht länger. Das Licht, welches noch in dem schattigen Winkel stand, ergreifend, trat er bei Wegerich ein. Die besorgten Blicke, welchen er begegnete, mahnten ihn, daß er eine Erklärung schulde.

»Ein Glück, daß ich das alte Möbel durchsuchte,« beantwortete er Lucretia's stumme Frage, doch wich er ihren Blicken aus, wie sich schämend, sie zu hintergehen, »da fand ich zwischen den Heften mehrere unscheinbare Notizen, denen ich manche ungeahnte Aufschlüsse verdanke.«

Erzwungen sorglos sah er auf Wegerich, erzwungen sorglos auf Lucretia, deren Augen erwartungsvoll an seinen Lippen hingen. Da Niemand antwortete, hob er wieder an.

»Ein glücklicher Gedanke, den alten Schreibtisch noch einmal zu durchsuchen,« er stockte, »aber ich muß fort,« fügte er erregter hinzu, »heute noch muß ich den Notar sprechen; auf Wiedersehen morgen, Lucretia, auf Wiedersehen, Wegerich,« und Beiden flüchtig die Hand drückend, eilte er ins Freie hinaus.

»Auf Wiedersehen, morgen,« wiederholte Lucretia traurig Perennis' Worte, als sie ihn über den Hof schreiten hörte, »auf Wiedersehen, um vielleicht auf Ewig Abschied zu nehmen.«

Sie fühlte sich so bedrückt, und der alte Wegerich war nicht der Mann, sie zu beruhigen und aufzuheitern.


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