Balduin Möllhausen
Der Schatz von Quivira
Balduin Möllhausen

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Dreizehntes Kapitel.

Eine neue Lebensbahn.

Die letzte Entscheidung war gefallen und Perennis rüstete sich zur Reise. Das Anerbieten der Marquise hatte ihn in die Lage versetzt, die Beihülfe des Notars ablehnen zu dürfen Bei seinen Berathungen mit demselben begegnete er mehrfach Splitter; allein den ausdrücklichen Wünschen Lucretia's Rechnung tragend, vermied er, ein Gespräch über die zwischen ihnen schwebenden Beziehungen anzuknüpfen. Sein Vorurtheil gegen ihn erfuhr sogar eine Abschwächung durch die uneigennützige Zuvorkommenheit, mit welcher derselbe ihm die vor seinem Aufbruch zu erledigenden Geschäfte erleichterte. Splitter hielt sich dem Karmeliterhofe anscheinend rücksichtsvoll fern. Nur Gertrud gegenüber, die er in der That fürchtete, vermochte er seine Ungeduld nicht zu zügeln. Gegen sie setzte er eine Rache ins Werk, von welcher er überzeugt war, daß sie ihr jede Glaubwürdigkeit in demselben Maße abschnitt, in welchem er selbst sich auf eine höhere sittliche Stufe erhob. Durch eine kraß gefärbte Schilderung seines Zusammentreffens mit ihr an jenem Abend, lenkte er die Aufmerksamkeit der Polizei auf sie hin, in Folge dessen ihr eine ernste Verwarnung ertheilt wurde.

Mit Thränen der Wuth in ihren schönen Augen vernahm Gertrud das harte Urtheil. Sie versuchte keine Entschuldigung, keine Erklärung. Aber selbst der mit dem Verfahren gegen sie beauftragte Beamte konnte sich einer Empfindung des Bedauerns, sogar der Achtung nicht erwehren, als sie ihm ankündigte, daß sie entschlossen sei, eine Gegend auf immer zu verlassen, in welcher sie eine derartige schmachvolle Behandlung erfahren habe.

Eine Stunde später befand sie sich bei ihrem Großvater.

»Ich gehe,« sprach sie mit düsterer Ruhe, als der alte Mann seiner Bitterkeit über die ungerechte Verfolgung Ausdruck verlieh, »nicht länger bleibe ich da, wo man mit Fingern auf mich zeigen würde, wo die mir aufgebürdete Schmach zugleich mein elterliches Haus trifft. Er aber, der es verschuldet, soll bereuen, meinen Haß herausgefordert zu haben. Ich kenne seine Absichten, kenne seine Hoffnungen, und ich bin es, die darüber wacht, daß sie zu Schanden werden, für ihn eine größere Schmach, als er glaubt, mir bereitet zu haben.«

»Du hast der Frau Marquise viel zu danken,« warnte der alte Mann, »und kann ich selbst Dich nicht halten, denn meine Gewalt über Dich verlor ich längst, so stelle ihr die Sache wenigstens vor, und laß gelten, was sie Dir räth.«

»Was ich ihr schulde, weiß ich selbst am besten,« erwiderte Gertrud trotzig, »und kein Anderer als sie soll mir den Weg zeigen, welchen ich zu wandeln habe. Ich kenne Jemand, die junge Fremde beim Wegerich ist's, die soll sie fortan bedienen, wenn sie Lust hat, damit ich ihr nicht fehle; aber fort ziehe ich, Großvater, und müßte Dein Herz darüber brechen.« Sie küßte den alten Mann, der so finster schaute, als wäre mit dem Scheiden der Enkelin das Schwinden seiner letzten Kräfte verbunden gewesen. Finster schaute er ihr auch nach, als sie am Rande des Wassers hin dem Karmeliterhofe zueilte.

Wohl eine Stunde länger blieb Gertrud bei der Marquise, derselben ihre bittere Erfahrung klagend, leidenschaftlich ihren Willen offenbarend. Die Marquise war unter den obwaltenden Verhältnissen damit einverstanden, daß sie die Gegend verlassen müsse. Nur die Bedingung stellte sie, daß sie nicht in der Uebereilung ihren Entschluß ausführe. Mindestens eine Woche sollte sie warten, um zu prüfen, ob sie stark genug sei, noch einige Monate mit Geduld und Verachtung das ihr zugefügte Leid und dessen Folgen zu ertragen.

»Ich will es versuchen,« antwortete Gertrud trockenen Auges, aber ihre Lippen zuckten, als hätte sie in lautes Weinen ausbrechen mögen, »ich will es versuchen, obwohl ich weiß, daß auch dann – ja, ich will es versuchen,« und ihre Stimme klang milder, wie unter dem Einfluß eines ihr vorschwebenden versöhnlichen Bildes, »ich möchte noch lernen, zu Herrn Jerichow will ich gehen, als sei nichts vorgefallen. Es wäre doch möglich, daß seine freundliche Art – aber nein, ich glaube nicht daran.«

Sie sah vor sich nieder. Die Marquise beobachtete sie aufmerksam. Sie schien in der Seele des unbändigen Kindes zu lesen. Herzliche Theilnahme leuchtete in ihren großen schwarzen Augen auf; doch wie sich zürnend wegen der sanfteren Regungen, blickte sie schon nach einigen Sekunden wieder kalt und gehässig.

»Nach dem Vorgefallenen ist es in der That rathsam, daß Du baldigst von hier scheidest,« bemerkte sie nach einer Pause.

Gertrud schrak empor, Schüchtern, wie im Traume fragte sie:

»Ich muß also fort?«

Die beiden seltsamen Charaktere schienen plötzlich ihre Rollen vertauscht zu haben.

»Je länger ich darüber nachdenke, um so mehr schwinden meine letzten Bedenken, daß Deines Bleibens hier nicht länger ist.« antwortete die Marquise; »das peinliche Ereigniß mit der Polizei schädigt an sich schon Deinen Ruf; außerdem wird Dein heimlicher Feind es entstellen, immer weiter verbreiten und nicht rasten, bis man sich mit Abscheu von Dir wendet. Vergiß nicht, Du bist einem Stande entsprossen, welcher kein Anrecht auf Theilnahme oder Nachsicht besitzt, und Deine tollen Manieren sind Ursache, daß nachtheilige Gerüchte über Dich nur zu leicht festen Boden gewinnen. Ich wiederhole, Du mußt fort, fort, sobald wie möglich.«

»Acht Tage möchte ich's dennoch mit ansehen,« erwiderte Gertrud beinah flehentlich.

»Thu's, wenn Du nicht umhin kannst,« sprach die Marquise mit jener eisigen Kälte, von welcher sie wußte, daß sie auf Gertrud von entscheidender Wirkung, »allein ich weiß, es ist vergeblich.«

Gertrud sah wieder grübelnd vor sich nieder. Plötzlich schoß es blutroth in ihr Antlitz; indem sie die Marquise fest ansah, schienen ihre Augen Funken zu sprühen.

»Und der mich von hier vertrieb,« stieß sie leidenschaftlich hervor, »dieser elende Splitter, soll er ungestraft bleiben?«

»Geduld, mein Kind, die Zeit, in welcher Du ihn nach Belieben strafen magst, ist nicht fern, wenn bis dahin Dein Wunsch nach Rache nicht dem Gefühl wich, daß er Deiner Aufmerksamkeit nicht würdig.«

»Ich kann ihn jetzt strafen,« wendete Gertrud gehässig ein, »ich kann ihn da verwunden, wo es ihm am empfindlichsten. Er ist ein hinterlistiger Bösewicht, ich will ihm das Opfer entreißen, welches er unglücklich machen würde.«

Die Marquise sah forschend in das schöne, fieberhaft glühende Antlitz. Etwas wie Reue mochte sich regen, die eigenthümlichen Anlagen und Neigungen des ungestümen Charakters in einer Weise gelenkt, gehegt und gepflegt zu haben, welche das scharf auffassende Kind weit über seine ursprüngliche Sphäre erhob, zugleich aber eine unübersteigliche Scheidewand zwischen der heranreifenden Jungfrau und einem anspruchslosen, zufriedenen Leben errichtete. Angesichts des sich plötzlich mit ungeahnter, gleichsam drohender Heftigkeit Bahn brechenden Unabhängigkeitssinnes erstaunte die Marquise selber über ihr Werk. Gertrud dagegen, ihr Schweigen als eine stumme Frage deutend, fuhr fort:

»Das Mädchen bei dem Wegerich, Lucretia heißt's, nennt er seine Verlobte. Er ist aber kein Mann für sie; sie darf ihn nicht heirathen; er verdient sie nicht.«

»Wie willst Du es hindern?«

»Wenn ich erst gegangen bin, soll sie meine Stelle bei der gnädigen Frau versehen. Sie sorgen dann dafür, daß er den Karmeliterhof nicht mehr betritt.«

»Ich setze voraus, sie ist einig mit ihm?«

»Alles Schein, sie sind nicht einig, nein, das ist kein Mann für sie; da ist ein Anderer.«

»Ein Anderer?« fragte die Marquise zweifelnd, als hätte sie Gertrud mit ihren schnellen und sicheren Entscheidungen nicht wieder erkannt.

»Ja, und ein Mann, der zu ihr paßt, ein Mann, dem die Leute Gutes wünschen. Die gnädige Frau kennen ihn, hier in diesem Zimmer ist er gewesen.«

»Der junge Rothweil?« rief die Marquise enttäuscht aus, »nein, der ist nicht für sie bestimmt! O, ich wüßte wohl eine andere Frau für ihn,« fügte sie, die Blicke senkend, leise für sich hinzu; doch wie sich eines Besseren besinnend, sah sie wieder in Gertruds eigenthümlich scharf spähende Augen, und eintönig fuhr sie fort: »Was verstehst Du von solchen Dingen? Dein Vorschlag verdient indessen Erwägung; vielleicht ist jene Lucretia wirklich bereit, an Deine Stelle zu treten; für gröbere Arbeiten fände sich wohl ein Anderer auf dem Hofe, und dann könnte ich sie beobachten und prüfen, ob Dein Scharfblick Dich nicht täuschte. Paßt sie nicht für Deinen Feind, so nehme ich mich ihrer an. In meinen Händen ist Deine Rache sicher genug aufbewahrt; doch nun beruhige Dich. Ziehst Du von hier fort, so muß es leichten Herzens geschehen, oder zur entscheidenden Zeit versagen Dir die Kräfte. Was Du mir anvertrautest, verschließe in Deine Brust; und Du hast ja früh genug gelernt, Deine Zunge zu überwachen. Zu Niemand sprich ein Wort darüber. Du mußt von hier verschwinden, ohne daß Jemand ahnt, wo Du Dein Ende genommen hast. Zu mir aber komme noch so oft Du willst und kannst. In den letzten Tagen unseres Verkehrs binde ich mich nicht mehr an bestimmte Stunden, und beunruhigt Dich irgend etwas, so vertraue es mir ohne Scheu an. Ich habe Dich aus der Hütte Deiner Eltern an mich gezogen; ich war die Veranlassung, daß im Kreise Deiner Geschwister Du Dich nicht mehr heimisch fühltest; ich bin daher auch verpflichtet, Dir weiter zu helfen.«

Gertrud schien zu träumen. Auf dem glühenden Antlitz prägte es sich wie Reue aus, durch ihre Leidenschaftlichkeit zu weit hingerissen worden zu sein. Zagen bemächtigte sich ihrer bei der ersten Ankündigung, nunmehr in die Welt hinaustreten zu müssen. Noch einmal, zum letzten Mal bäumte sich ihre sorglose Kindlichkeit auf, bevor sie dieselbe auf ewig von sich abstreifte. Freundlicher denn je zuvor, erstanden vor ihrem Geiste die heimatliche Hütte, diejenige, welche Mutter zu nennen sie so viele Jahre gewohnt gewesen, die Stiefgeschwister und der alte schweigsame Großvater. Und weiter wanderten ihre Gedanken unter den sie gespannt beobachtenden Blicken der Marquise: Wie war es doch so schön, frei von jedem Zwange, den nach Sonnenschein jagenden Faltern vergleichbar, ihren Flug bald hierhin, bald dorthin zu lenken; nach dem Karmeliterhofe, um die Geschmeidigkeit ihrer Glieder zu erhöhen, nach dem Dorf, um sich im lustigen Reigen zu drehen, nach der Hollunderstaude – ihre Betrachtungen stockten. Wie durch die tiefe Stille ringsum erschreckt, sah sie auf die Marquise. Sie erhaschte einen milden, sogar zärtlichen Blick; und doch meinte sie sich getäuscht zu haben. Denn schärfer hinüberschauend, erkannte sie jenen kalt berechnenden Ausdruck, welcher sonst die ebenso kalt ertheilten Unterweisungen zu begleiten pflegte, sie mit schwer besiegbarer Scheu erfüllte.

»Haben die gnädige Frau noch Befehle für mich?« paßte sie unbewußt ihre Worte deren strengem Blicke an.

»Vorläufig nicht. Wohl möchte ich Manches mit Dir besprechen, allein Alles will zuvor überlegt sein. Deine Haltung, Gertrud, und die Fußstellung – achte mehr auf Dich. Du trittst jetzt in die Welt hinaus, vorläufig noch um zu lernen. Aber mit derselben unerschütterlichen, für ein Kind sogar erstaunlichen Willenskraft, mit welcher Du bisher unser Geheimniß bewahrtest, mußt Du, erst fern von hier, jeden Anklang an Deine Kindheit, an Deine ganze Herkunft vermeiden. Nun gehe. Das Weitere bespreche ich mit Deinem Großvater. Giebt der seine Zustimmung, so brauchen wir keinen Andern mehr zu fragen. Und fort mußt Du.«

Wie im Traume erfaßte Gertrud mit den Fingerspitzen zierlich ihren Kattunrock; dann verneigte sie sich tief und mit einer Grazie, daß der Marquise Augen mit sichtbarer Bewunderung auf ihr ruhten. Der ersten Verneigung folgte eine zweite, und in der nächsten Sekunde schwebte sie gleichsam durch das Schlafgemach auf den in Halbdunkel gehüllten Flur hinaus. Auf den Zehen schlich sie an Wegerichs Thür vorüber. Weder von ihm, noch von Lucretia wollte sie bemerkt werden. Sie fühlte, daß ihr nicht jene lachenden Blicke und spitzen Worte zu Gebote standen, mit welchen sie zugleich zu bezaubern und zu peinigen verstand. Zwei Stunden später trat sie in die bekannte Hollunderlaube, in welcher sie bereits erwartet wurde. Der Ernst, welchen sie nicht ganz aus ihrem Wesen zu bannen vermochte, erhielt neue Nahrung beim Anblick Jerichows. Denn nicht mit heiterem Gruß, wie sie es bisher an ihm gewohnt gewesen, trat er ihr entgegen, sondern sich schwerfällig erhebend, offenbarte sich in seiner Haltung wie in dem bleichen Antlitz eine Niedergeschlagenheit, wie sie eine solche nur körperlichen Leiden glaubte zuschreiben zu dürfen.

»Sie sind krank, Herr Jerichow,« redete sie ihn befangen und noch unter dem vollen Eindruck der jüngsten Erlebnisse an. Sie wollte fortfahren, als Jerichow ein abwehrendes Zeichen gab, aber ihre Hand ergriff.

»Krank nicht,« antwortete er, »aber schmerzlich bewegt findest Du mich. Und sollte ich nicht trauern, wenn ich erlebe, daß eine meiner Lieblingsblumen, welche ich, so weit es in meinen schwachen Kräften stand, mit herzlicher Liebe pflegte, plötzlich die unzweideutigen Merkmale zeigt, daß ein giftiger Wurm ihr Mark zernagt?«

»Es giebt neuen Samen, ich will ihn verschaffen,« versetzte Gertrud beklommen, »vielleicht kann die kranke Stelle ausgeschnitten werden.«

Jerichow hatte wieder Platz genommen. Mechanisch ließ Gertrud sich ihm gegenüber nieder.

»Wenn das glückte,« spann er das Gespräch schwermüthig weiter, »allein ich fürchte, es ist zu spät. Doch warum zu Bildern greifen, welche Dir vielleicht weniger verständlich, daher auch nicht den Werth haben können, den ich ihnen so gern beilegte? Höre mir also aufmerksam zu, Gertrud, blicke mir in die Augen, damit ich in denselben lese, ob Du meine Worte so würdigst, wie sie es verdienen.«

Er zögerte. Ihm entging nicht, daß Gertrud tödtlich erbleichte. Gleichzeitig erwachte der wilde Trotzeszug um den lieblichen Mund.

»Ich sehe es Dir an, Du hast es errathen,« fuhr er fort, nachdem er ein Weilchen vergeblich auf eine Entgegnung gewartet hatte, »unter meinen Lieblingsblumen nimmst Du die erste Stelle ein, Du mit Deinen schönen Anlagen und der ungewöhnlich reichen Begabung; Du, die ich so herzlich gern, so weit es in meinen bescheidenen Fähigkeiten gelegt worden, zu einer holden Blüthe hätte entwickelt sehen mögen, zu einer Zierde Deines Geschlechtes, unbekümmert darum, in welche Sphäre Dein späterer Wirkungskreis gefallen wäre.«

»In meinem Mark soll ein giftiger Wurm nagen?« fragte Gertrud bestürzt, während es wie düstere Blitze in ihren prachtvollen Augen aufflackerte.

»Bildlich ja,« antwortete Jerichow sanft, »es ist mir wenigstens hinterbracht worden, und von glaubwürdiger Seite, daß Dein Verkehr mit anderen Menschen nicht immer tadelfrei.«

»Wer hat ein Recht, mich zu tadeln oder mir Handlungen vorzuwerfen, deren ich mich schämen müßte?« fuhr Gertrud auf, und ihr eben noch bleiches Antlitz färbte sich dunkel.

»Als ein Recht betrachte ich es nicht, wenn ich überhaupt einen Tadel ausspreche,« erwiderte Jerichow, sichtbar betroffen durch das ihm bisher fremde leidenschaftliche Aufbrausen, »nein, nicht als ein Recht, dagegen als eine Pflicht, seitdem ich von Deiner Gönnerin dazu berufen wurde, nicht nur Dein Wissen zu bereichern, sondern auch Deine Anschauungen zu überwachen, gewissermaßen zu veredeln. Gern übernahm ich diese Aufgabe, gern und mit ganzer Seele, weil ich hoffen durfte, daß Du mir auf der von mir gewählten Bahn folgen würdest.«

»Ich soll fortbleiben,« hob Gertrud heftig an, verstummte indessen sogleich wieder.

»Weit entfernt bin ich davon, nach der ersten Enttäuschung den Muth sinken zu lassen,« versetzte Jerichow, »im Gegentheil; so lange mir nur eine leise Hoffnung bleibt, will ich nicht müde werden –«

»Was wollen Sie? Was habe ich verbrochen?« fragte Gertrud rauh, und Kampfeslust sprühte aus ihren Augen.

Jerichow, durch die heftige Frage erschreckt, sah durchdringend in das leidenschaftlich erregte Antlitz. Er schien die Wirklichkeit des Vernommenen zu bezweifeln; doch in dem glühenden Blick eine Bestätigung der gegen sie erhobenen Anklagen lesend, versetzte er in herbem vorwurfsvollen Tone:

»Du besuchtest vor kurzem das Kirchweihfest in unserem Nachbardorf?«

»Ich war dort und habe getanzt nach Herzenslust,« gab Gertrud bereitwillig zu, »dergleichen wird mir zu selten geboten, als daß ich die Gelegenheit versäumen möchte.«

»Eine unschuldige Freude,« erklärte Jerichow milder, »und ich bin der Letzte, welcher sie Dir oder einem Anderen mißgönnte. Allein bei solchen Gelegenheiten Veranlassung zu ernsten Zerwürfnissen zu geben, und zwar nicht allein zwischen sonst befreundeten jungen Männern, ohne zugleich den ganzen Einfluß aufzubieten, eine Versöhnung herbeizuführen – soll ich fortfahren?« schaltete er beinah schüchtern ein, als er bemerkte, wie Gertruds Brauen sich dichter zusammenschoben und die zierlich geschnittenen Nasenflügel sich dehnten.

»Mir ist Alles recht,« antwortete Gertrud, »was nachkommt, er rathe ich leicht genug. Ich fürchte weder Sie noch einen Andern. Das Geschwätz der Leute kümmert mich wenig.«

Ueber Jerichows Antlitz verbreitete sich ein Ausdruck schmerzlicher Entsagung. Vergeblich suchte er nach einem Merkmal sanfterer Regungen in den Zügen seiner schönen Gegnerin. Er konnte nicht fassen, daß zu dem Fehl, zu welchem sie nach seiner Ueberzeugung hingerissen worden, auch noch Verstocktheit sich gesellte.

»Ich könnte das Gespräch hier abbrechen,« begann er wieder, »doch ich muß dem Selbstvorwurf ausweichen, daß ich ein hartes Urtheil über Dich fällte, ohne Dir Gelegenheit zu einer Erklärung, wenn nicht zu einer Entschuldigung und dem Vorsatz zur Sühne gegeben zu haben. Ich wiederhole daher, bei den Zwistigkeiten unter den Männern blieb es an jenem Tage nicht; Du bist sogar störend zwischen zwei junge Leute getreten, welche, zur Freude ihrer Eltern, sich ewige Liebe und Treue gelobt hatten. Wie es zugegangen ist, weiß ich nicht; allein von mehr, als einer Seite, wirft man Dir vor, daß Du einen jungen Mann von dem Tanzplatz entführtest, ihn dadurch dem Herzen seiner Braut entfremdetest und unheilbaren Hader zwischen Beiden schürtest.«

»Das behaupten die Menschen von mir?« fragte Gertrud ruhig.

»Es wurde mir von Jemand anvertraut, der Glauben verdient. Wenn aber das traurige Ereigniß nicht abgeleugnet werden kann, so weißt Du ihm vielleicht eine Deutung zu geben, daß ein weniger schwerer Vorwurf Dich trifft und zugleich die Versöhnung zwischen zwei Herzen angebahnt wird, die vom Geschick für einander bestimmt wurden.«

Ein spöttisches Lächeln trat auf Gertruds Züge. Sie schien zu schwanken. Dabei wich sie den Blicken Jerichows aus. Endlich zuckte sie geringschätzig die Achseln.

»Ich habe nichts zu sagen,« sprach sie finster, »wenn Sie glauben, was die Menschen über mich in die Welt schreien, so ist's gut. Meine Sache ist es nicht, zu schlichten, wenn Zwei sich überworfen haben.«

Jerichow neigte wie ermüdet das Haupt. Er bemerkte nicht, wie Gertruds Blicke mit einer eigenthümlichen Mischung von Trotz und Bangigkeit auf ihm ruhten. Mehrfach öffnete sie die Lippen, wie um gewissenhaft den ganzen Hergang zu schildern, welcher eine so böswillige, sogar feindselige Deutung erfahren hatte, und jedesmal schloß sie dieselben wieder krampfhaft. Als Jerichow dann aufschaute, sah er in ein Antlitz, hinter welchem die letzte weiblich zarte Empfindung gestorben zu sein schien.

»Du weisest meine Vermittlung zurück,« begann er schwermüthig, »und ich Thor glaubte, noch Alles zum Besten lenken zu können. Aber Dein Herz ist hart wie Krystall; alle meine Vorstellungen würden an demselben abprallen. Wie bitter, wenn man sich in einem solchen Grade täuschte! Ich ahne nicht, welche Empfindungen Dich beseelten, welche Hoffnungen Du an den Zwiespalt zwischen den Brautleuten knüpftest. Wähntest Du indessen, an die Stelle des tiefgekränkten Mädchens treten zu können, so hättest Du –«

»An Niemandes Stelle will ich treten,« fiel Gertrud entrüstet ein, »auf Niemand hoffe ich, weder auf den Bartel noch auf einen anderen Menschen.«

»Aber auch dann, und wenn nicht Deinetwegen, so doch aus Rücksicht für Dein elterliches Haus und Deine hochherzige Gönnerin hättest Du vermeiden müssen, gleichviel, ob verdient oder unverdient, Dir von Seiten der Polizei eine Rüge –«

»Wer – wer hat's Ihnen hinterbracht?« fuhr Gertrud wieder leidenschaftlich auf, und ihr Antlitz erhielt den äußeren Charakter einer unversöhnlichen Rachegöttin.

»Es schrieb mir Jemand, dem ich ebenfalls Glauben schenken durfte. Dadurch aber nicht überzeugt und in der schmerzlichen Theilnahme für meine theure Schülerin, begab ich mich dahin, wo die sicherste Auskunft zu erwarten stand, und leider bestätigten sich die traurigen Gerüchte. Armes Kind, Du ahnst nicht, wie ein einziges derartiges Ereigniß zum Makel wird, welchen auszulöschen oft ein langes Leben nicht ausreicht; ein Makel, welcher, nachdem das Gemüth an das Tragen desselben sich gewöhnte, nur zu leicht der erste Schritt zum gänzlichen Versinken in Schmach und Schande wird. Du bestreitest nicht, daß jene Verwarnung stattgefunden hat?«

»Ja, ich räume es ein,« erklärte Gertrud mit unbeschreiblichem Hohn, und wäre jedes Wort ein zweischneidiges Messer gewesen, sie hätte es nicht schärfer von sich stoßen können, »ein Polizist suchte mich in der Wohnung meines Großvaters auf, und in Gegenwart meiner Stiefmutter und ihrer Kinder drohte er, daß wenn die nächsten Klagen über mich einliefen, ich auf einige Tage eingesperrt werden würde. Ich dagegen hielt es für überflüssig, etwas darauf zu erwidern, was hätte ich ihm sagen sollen? Leute meines Standes haben keine Ansprüche auf Nachsicht oder Theilnahme, noch weniger an Gerechtigkeit. Ihm antwortete ich nicht, und auch Ihnen habe ich nichts zu antworten. Ich entschuldige mich nicht, brauche mich nicht zu entschuldigen. Ich bin mit Schande beladen worden, und das ist genug. Bewiese ich meine Unschuld sonnenklar, so würde dadurch die Schande nicht von mir genommen.«

Bei den letzten Worten zitterte sie heftig; die Farbe wich von ihren Wangen. Flüchtig senkte sie einen durchdringenden Blick in Jerichows Augen, dann sah sie vor sich nieder.

Mit schmerzlicher Theilnahme beobachtete Jerichow das schöne Mädchen, welches wie gebrochen dasaß. Ihre Haltung konnte er nur als Schuldbewußtsein deuten. Er hätte mit der Vorsehung hadern mögen, die ein allmäliges Untergehen eines ihrer holdesten Meisterwerke gestattete. Und wie hatte er diejenige, die er seine theuerste Blume nannte, liebevoll gehegt und gepflegt; wie ängstlich sie durch seine Lehren vor erstarrenden Nachtfrösten und schädlichem Odem zu bewahren gesucht!

Da richtete Gertud sich wieder auf. Ihr Antlitz war noch bleich, aber ruhiger blickten die Augen. Ihre Hände lagen auf einem Lesebuch; zwischen denselben befand sich ein Schreibeheft.

»Herr Jerichow,« sprach sie mit gänzlich veränderter Stimme, und die Worte schienen sich mit Widerstreben ihrer Brust zu entwinden, »an meinem Namen klebt jetzt Schande; Sie selber sagten es, und wer mit mir verkehrt, den trifft diese Schande eben so schwer wie mich. Bin ich da Jemand aufrichtig zugethan, so ist es meine Pflicht, ihm aus dem Wege zu gehen, zu verheimlichen, daß ich ihn jemals kannte, jemals von ihm gekannt wurde.«

Sie neigte das Haupt wieder. Jerichow begriff, daß ein gewaltiger Kampf in ihrer Brust tobte, nach seiner Ueberzeugung ein Kampf zwischen Reue, Scham und Trotz.

»Der erste Schritt zum Guten liegt in Deinem offenen Bekenntniß,« ermahnte er mit vertrauenerweckendem Ernst, »und wer möchte noch einen Stein auf Dich werfen? Du stehst im Begriff, den Sieg über den unedleren Theil Deiner Gemüthsregungen davonzutragen, und dazu möge Gott Dir die erforderliche Kraft verleihen.«

Gertrud schwieg. Regungslos sah sie auf das zwischen ihren Händen befindliche Heft nieder. Auf ihrem Antlitz wechselten flammende Gluth und Todtenblässe. Die langen Wimpern schienen auf den sammetweichen Wangen zu ruhen; fast berührten sich die schwarzen Brauen. Jerichow überwachte sie mit athemloser Spannung. Furcht und Hoffnung gingen bei ihm Hand in Hand. Die nächsten Minuten mußten über Gertruds ganze Zukunft entscheiden.

Endlich schlug sie die Augen zu ihm auf. Sie blickte nicht feindselig, aber eisig, wie ein künstliches Gebilde aus Stein. Ihre Hände zitterten. Diese Anwandlung von Schwäche gewaltsam unterdrückend, schloß sie die Finger um das zusammengerollte Heft, daß es in unzählige Falten zerknitterte.

»Wenn Andere aus Barmherzigkeit fernerhin mit mir verkehren wollen,« sprach sie mit bebenden Lippen, »so habe ich keine Lust, es anzunehmen. Ich will Niemandes Schaden, und Schaden war's für Jeden, der ein gutes Wort an mich richtete.«

Wiederum starrte sie auf das zusammengeknitterte Heft. Plötzlich sprang sie empor. Helle Gluth brannte auf ihren Wangen, ihre Augen funkelten wie die einer, ihrer Jungen beraubten, Pantherkatze.

»Nein, ich will nicht!« rief sie laut aus, »giebt man mir nicht freiwillig Gerechtigkeit, verurtheilt man mich blindlings, so mag ich nicht um Mitleid und Erbarmen betteln!«

Sie rollte das Heft auseinander, und es an beiden Enden ergreifend, zerriß sie es in zwei Theile, worauf sie es von sich warf, daß die Papierstreifen sich nach allen Richtungen in der Laube zerstreuten. Das vor ihr auf dem Tisch liegende Buch schleuderte sie mit einer Geberde der Verachtung zur Erde, und den einen Fuß auf dasselbe stellend, lachte sie laut, daß es den keines Wortes mächtigen Jerichow unheimlich durchschauerte.

»Ich habe schon zu viel gelernt!« rief sie ihm zu, »so viel, daß es mein Unglück geworden. Lieber gehe ich so weit, wie der Himmel blau, bevor ich fernerhin auf Belehrungen höre, die mir den Verstand verwirren!«

Sie kehrte sich ab und mit unsicheren Bewegungen trat sie aus der Laube. Draußen wurde ihr Schritt fester, und aufrecht trug sie wieder ihr schönes Haupt. Sie hatte den Garten durchmessen und vor ihr lag die Pforte, als Jerichows Stimme sie erreichte. Nachdem Gertruds ungestümes Wesen und ihr glühender Blick ihn gleichsam versteinerten, hatte er jetzt erst seine Sprache wiedergefunden.

»Gertrud!« rief er ihr nach, »Gertrud, um Deiner selbst willen gehe nicht so von dannen. Gertrud! Ich bin nicht Dein Richter, ich bin Dein Freund.«

Gertrud zuckte die Achseln. Geräuschvoll fiel die Pforte hinter ihr ins Schloß. Beim Hinaustreten hatte sie sorgfältig vermieden, sich der Laube noch einmal zuzukehren. Fühlte sie, daß Leichenfarbe ihr jugendschönes Antlitz bedeckte? Fürchtete sie den Einfluß der redlichen blauen Augen, welche sie so oft in edlem Eifer aufleuchten sah? Wer hätte es errathen? Wirkte der Ton der vertrauten Stimme doch allein schon so wunderbar ergreifend auf sie ein, daß sie ihre Bewegungen beschleunigte, um so bald als möglich aus Hörweite zu treten. Auf der Straße beruhigte sie sich. Eine wunderbare Willenskraft mußte sie besitzen, daß sie in so hohem Grade sich zu beherrschen verstand. Denn wer sie beobachtet hätte, wie sie leichtfüßig durchs Dorf eilte, lächelnd hierhin und dorthin schaute, auch wohl Kindern einen neckischen Gruß zusandte, der hätte nicht geahnt, daß es hinter diesem jugendschönen Antlitz kochte und gährte, das arme Herz sich zuckend wand vor wildem Haß und tiefem Weh. Erst als das Dorf weit hinter ihr lag, keiner der auf den Feldern beschäftigen Arbeiter sich nahe genug befand, um sie genauer zu unterscheiden, setzte sie sich am Wege nieder. Einen ängstlich forschenden Blick sandte sie um sich, dann neigte sie das Haupt auf die emporgezogenen Kniee, und so bitterlich weinte sie, als wäre ihr Herz nunmehr gänzlich gebrochen gewesen. Sie weinte, wie seit vielen Jahren nicht, wie nicht seit jenen Zeiten, in welchen sie unter den erbarmungslosen Händen und berechnenden Blicken der Marquise noch nicht gelernt hatte, körperlichen Schmerz stumm zu ertragen.

Jerichow saß noch immer in der Hollunderlaube. Das zerrissene Heft, die zerstreuten Blatttheile hatte er sorgfältig gesammelt und mit dem verächtlich fortgeworfenen Buch vor sich hingelegt. Sein beinahe mädchenhaft zartes Antlitz erschien unendlich kummervoll. Trübe schauten seine Augen, indem er hin und wieder durch Zusammenschieben der getrennten Theile ein Blatt ergänzte und die demselben aufgetragenen regelmäßigen Schriftzüge betrachtete. Sollte er die Hand, von welcher sie herrührten, jemals wieder drücken? Jemals wieder in die schönen wilden Augen schauen, die so aufmerksam, wißbegierig an seinen Lippen hingen? Tief auf seufzte er; es klang wie das Entsagen freundlichen Lebensbildern, wie das Zerschellen mit Vorliebe gehegter Hoffnungen. Es klang wie herzzerreißender Jammer, so viel Jugend und Schönheit, so viel Geist und Willenskraft, der wachsam lenkenden Hand bar, einem Abgrunde zutaumeln zu sehen.

»Arme Gertrud,« lispelte er unbewußt über die zerrissenen Blätter hin. Eine Thräne sank auf das Papier nieder. Mechanisch überwachte er den Tropfen. »Friede« lautete das Wort, welches er getroffen hatte. »Friede,« sprach Jerichow träumerisch. Die Dinte löste sich auf, die Feuchtigkeit verdunstete; ein bläulicher Flecken bezeichnete die Stelle, aufweicher das Wort eben noch gestanden hatte.

»Ist es ihr Friede, der zerstört wurde? Ist es der meinige?« folgten Jerichows Gedanken aufeinander. Behutsam ordnete er die Blätter und zusammen mit dem Buch trug er sie ins Haus hinein, um sie als Reliquien aufzubewahren. Er wußte, daß Gertrud gegangen war, um nicht mehr zurückzukehren.

Die Dunkelheit war hereingebrochen, als Gertrud sich dem Karmeliterhofe näherte. Schweigend und nicht achtend der Zurufe von Alt und Jung, welche einer spitzen Antwort des kampfeslustigen Irrwischs entgegensahen, schritt sie an dem Kelterhause vorbei. Gleich darauf trat sie bei der Marquise ein. Dieselbe saß bei einer grünverschleierten Lampe vor geöffneten Papieren und Briefschaften. Bei Gertruds Erscheinen entfernte sie den Schirm, daß das volle Licht das Antlitz der vor ihr Stehenden traf. Sie mochte in den finsteren Zügen die Ursache des späten Besuchs lesen, denn wie ein Ausdruck der Zufriedenheit glitt es über ihr Antlitz indem sie fragte:

»Was führt Dich heute noch hierher?«

»Ich habe mir Alles überlegt,« antwortete Gertrud, »ich gebrauche keine acht Tage, um mich zu besinnen. Ich möchte morgen fort.«

»Du warst bei Herrn Jerichow?« forschte die Marquise wie beiläufig, aber gespannt überwachte sie Gertruds gesenkte Augen.

»Ich war dort« bestätigte diese eintönig, »ich erklärte ihm, daß ich nicht mehr kommen würde.«

»Gut,« versetzte die Marquise billigend, »morgen kann Dein Aufbruch indessen noch nicht erfolgen; denn da, wohin ich Dich schicke, darfst Du nicht als barfüßiges Fischermädchen, nicht als tolle Rheinnixe oder sorgloser Irrwisch auftreten, der mit allen Menschen auf dem Kriegsfuße lebt. Und mehr noch, einen anderen Namen sollst Du führen, damit Du selbst nicht beständig an das erinnert wirst, was Du hier gewesen, was Du hier erfuhrst. Acht Tage dauert es mindestens, bis ich Alles geordnet habe. Komme so lange unverändert und nach alter Gewohnheit. Niemand darf ahnen, was hier vorgeht. Ich selbst will zur Stadt und mit Rücksicht auf Deine äußere Ausstattung die entsprechenden Vorkehrungen treffen, damit es keinen Verdacht gegen Dich wachruft. Deine Verwandlung bewerkstelligen wir hier zwischen diesen vier Wänden. Und wenn die Stunde gekommen, dann sollst Du von hier aus unter dem Schutze der Nacht Deine Reise antreten. Du ahnst nicht, wohin ich Dich schicke?«

»Nein, mir ist's einerlei; jeder Ort ist mir recht – nur fort von hier.«

»Fort von hier,« wiederholte die Marquise träumerisch, und indem sie das Mädchen betrachtete, breitete es sich wie Wehmuth über das sonst so verschlossene Antlitz aus, »Ja, fort von hier, aber in einer Weise, daß man glaubt, der unstät flackernde Irrwisch sei erloschen, die muthwillige Rheinnixe sei in ihr heimisches Element zurückgekehrt. Bis zur nächsten Stadt fährst Du wenig auffällig mittels eines heimlich beschafften sicheren Fuhrwerks. Dort magst Du dann Deine Schwingen ausspannen und mit eigener Kraft Deinen Weg Dir offen weiter bahnen.«

Gertrud schaute noch immer düster. Was sie vor einigen Tagen mit namenlosem Entzücken begrüßt hätte, heute ließ es sie kalt.

»Eine Fahrgelegenheit mach' ich ausfindig,« bemerkte sie anscheinend gleichmüthig, »ich kenne Jemand, ich tanzte mit ihm und er bot mir an, mir zu Diensten zu sein. Er wird mir den Gefallen erweisen.«

Ein flüchtiger Blick überzeugte die Marquise, daß die Erinnerung an jenen Tänzer sich nur auf eine sich schnell verflüchtigende Freundschaft begründete, wie solche im lustigen Reigen geschlossen werden.

»Wenn Du meinst, daß wir ihm vertrauen dürfen, so leite es immerhin ein,« bemerkte sie nach kurzem Sinnen, »Du selbst weißt am besten, daß Du Ursache hast, vorsichtig zu sein. Die von der Polizei verwarnte Gertrud muß sterben,« fügte sie mit Nachdruck hinzu, »und aus ihrer Asche ersteht Lucile Graniotti. Es ist ein bedeutungsvoller Name, unter welchem ich Dich entlasse, Dich so warm an meine alten Freunde empfehle, daß sie mit offenen Armen Dich empfangen. In Deiner Hand aber liegt es, Dich ihnen unentbehrlich zu machen. Glück auf, Lucile Graniotti,« sprach sie lauter, wie um den düsteren Ausdruck von Gertruds Antlitz zu verscheuchen, »Du bist nicht die Erste dieses Namens, Du wirst ihm Ehre machen. Vergiß Alles, was hier Dich jemals kränkte und verdroß. Spanne Deine Schmetterlingsflügel weit aus, ziehe hin, um die Menschen durch Deinen Farbenschiller zu blenden, zu berauschen! Sammle Blumen der Bewunderung, Kränze des Triumphes! Vor gefährlichen Banden wird Dein Scharfsinn Dich bewahren – und die Erfahrung der letzten Stunden,« fügte sie leise für sich hinzu.

Gertrud hatte sich emporgerichtet. Zuversichtlich, stolz war ihre Haltung geworden. Begeisterung leuchtete aus ihren Augen, liebliches Roth lagerte auf ihren Wangen; vor den tiefen erregten Athemzügen waren die üppigen Rosenlippen etwas von den weißen Vorderzähnen zurückgewichen. Sie war schon jetzt nicht mehr das wilde Fischermädchen. Die jüngsten Ereignisse hatten bereits von ihr abgestreift, was sie mit den Angehörigen und der baufälligen Hütte in dem Festungsgraben einte, ihre Spottlust zur Zügellosigkeit steigerte. Bis ins Fleisch und Blut hinein war sie das, wozu die Marquise mit endloser Geduld und nie ermüdender Umsicht sie hatte erziehen wollen. Doch nicht nur die Unterweisungen ihrer Gönnerin, sondern auch Jerichows Lehren traten in ihre vollen Rechte ein. Denn als sie nach kurzem Zögern sich tief vor der Marquise verneigte, deren Hand an ihre Lippen hob und innig küßte, dann aber mit feuchtschimmernden Augen emporsah, da waren es nur die Empfindungen einer tiefen, ungeheuchelten Dankbarkeit, was sie beseelte, ihre unvergleichliche Anmuth hervorhob. Nichts war erkünstelt, Alles lautere, reine Wahrheit, der unverfälschte Ausdruck eines verzogenen, bizarren, aber noch unverdorbenen Gemüths. Selbst die Marquise blieb nicht ungerührt bei diesem Anblick. Zögernd legte sich die Hand auf das liebliche Haupt, dann neigte sie sich demselben zu, es sanft auf die Stirn küssend.

»Glück auf, Lucile Graniotti,« flüsterte sie, »nur noch eine Woche bist Du meine dienstwillige Gertrud, und in dieser letzten kurzen Zeit habe ich Dir noch Mancherlei ans Herz zu legen, was Dir den Eintritt in die Welt erleichtert. Versäume also nicht, jede freie Stunde hier zuzubringen.«

Sie lehnte sich in ihren Sessel zurück. Gertruds Hand noch immer haltend, senkte sie einen Blick auf dieselbe.

»Noch zu gebräunt und zu rauh,« bemerkte sie nachdenklich, »beschränke die gröberen Arbeiten auf das geringste Maß, und vernachlässige von jetzt ab nicht den regelmäßgen Gebrauch von Mandelkleie. Die Form der Hände thut es nicht allein, es bedarf der sichtbaren Beweise einer peinlichen Pflege. Doch es ist spät. Gehe nach Hause, morgen sehen wir uns wieder.«

Ihr Antlitz erstarrte gleichsam, doch machte sich eine größere Erschlaffung der Züge bemerklich.

Nachdem Gertrud sich entfernt hatte, neigte die Marquise sich über den Tisch. Das Haupt stützte sie schwer auf den einen Arm. Ihre Blicke ruhten auf den Briefschaften. Sie las nicht, denn eine Stunde verrann, ohne daß sie die Papiere angerührt hatte. Sie schien zu schlafen, aber regsam arbeitete es hinter den gesenkten Lidern, indem die Bilder weit zurückliegender Jahre vor ihrem Geist vorüberzogen.


 << zurück weiter >>