Johannes Richard zur Megede
Unter Zigeunern
Johannes Richard zur Megede

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Einundzwanzigstes Kapitel.

Warum ging er? Ihr alle, die ihr tieftraurig um dieses Grab versammelt steht, werdet auch das oft gefragt haben. – Ich sage euch: er ging in eine bessere Welt. Und dir, treuer Gattin des Verblichenen, die du mit männlichem Mute unentwegt bis zum letzten Moment deine schwere Pflicht gethan hast, rufe ich es tröstend zu, auf daß du nicht allzu schmerzlich die ungeheure Lücke empfindest: Es giebt ein Wiedersehen!«

Die hübsche Lo stand in Gedanken da, den Kopf leicht gesenkt. Sie hatte die Leichenrede des jungen Priesters kaum gehört, erst bei dem letzten Worte schoß ihr eine Befürchtung durchs Gehirn. ›Vielleicht hat er recht? Ein Wiedersehen!‹ Wenn ihr da oben Fritz Rinow wirklich entgegenträte und in seiner unbeholfenen Gutmütigkeit sagte: »Na, na, Lo, du hast mich tüchtig angeführt!« Und dann ginge ihre Ehe im Himmel ganz gemütlich weiter. Doch sofort kam ihr das Unlogische solches Glaubens zum Bewußtsein. »Giebt es eine Vorsehung, so 373 durfte sie eine Ehe wie unsre gar nicht zulassen. Thut sie es doch, läßt uns ruhig sündigen, hat sie kein Recht, uns zur Rechenschaft zu ziehen.«

Sie hob das Auge ein wenig und blickte über den Friedhof, der dem Schienenstrang der Wannseebahn ganz allmählich zu seiner baumgekrönten Höhe emporsteigt. Unten sausten unaufhörlich die Züge vorüber, einige pfeilschnell, daß man noch lange die nachzitternden Wellen spürte, andre langsamer, schwer, als wenn der Boden unter ihrer Last schwankte. Die kalte Wintersonne machte die Geleise hell glitzern wie Silber. Die Toten waren hier in einer unaufhörlich bewegten Erde gebettet. Kein Platz zum Ausruhen! Und doch war es der kindische Ehrgeiz der Reichen, in diesem teuren Boden zu ruhen, hier mitten im Weltstadtlärm, auf den die weißen Grabmäler zur Sommerzeit gar fremd aus dem dunkeln Cypressengebüsch hinabstarrten. Heute schaute der unbewegte Stein mißmutig, frostig drein; und wie lustig das Sonnenlicht auch auf diesen prahlerischen Denkmälern spielte, auf den schwebenden Engeln, den Urnen, den trauernd herabgebeugten Frauen – auf diesen prunkenden Goldinschriften der Grabsteine mit ihrem aufdringlichen Glauben, ihrer aufdringlichen Trauer – es schauspielerte nur und wärmte nicht. Wie viel da unten nebeneinander liegen mögen, Betrüger und Betrogene? – Ein kräftig Grabsprüchlein, 374 eine große Reuethräne und der Ueberlebende hat mehr wie genug gethan, um fröhlich weiter sündigen zu können. Die hübsche Lo empfand keinen Augenblick eine schwachherzige Reue, weinte keine Thräne. Wie ein guter Feldherr hatte sie in der Schlacht gestanden, dann einen geordneten Rückzug angetreten – auch besiegt noch Siegerin! »Ich bin euch allen über!« Aber war es diese durchdringende Winterkühle, war es dieser friedlose Friedhof selbst – ganz leise beschlich sie ein Gefühl von Verlassenheit, Leere, trostlos, erstarrend, so daß sie sich vorkam wie die steinerne Witwe auf dem Grabe des Millionenbauern gegenüber, die so entsetzlich starr und unbeweglich aus leeren Augen auf den Schnee blickte.

»Die Liebe höret nimmer auf!« Daß der ungelenke Deklamator das so laut sprach, beleidigte ihr feines Ohr. Sie war erwacht. Das scharfe Auge des Weltkindes überflog jetzt kritisierend die Versammlung. »Wie im Theater!« Dieses fanatische Priestergesicht mit der gedrungenen Stirn und der starken Nase, das vom eignen Worte wie berauscht schien, und diese da . . . der ganze »Salon« war gekommen. Hier am Grabe waren sie ganz am Platze, diese Helden der Phrase; die Schäbigen finster-traurig, in ihren dünnen Röcken vom Froste geschüttelt; Jäger gemütvoll, die Fäuste in den Havelocktaschen begraben, mit dem Kopf nickend wie 375 ein zerknirschter Sünder; neben ihm Schellagg, dick, gerührt. Frau Klara Linker stand allein, ohne sich zu rühren, die Augen wasserhell, während ihre wie ein Messerrücken schmale Nase sich bläulich zu färben begann; sie hielt tapfer aus, zur großen Freude des Possendichters, der, von ihr gedeckt, immer von einem Bein aufs andre trat und sich die Hände mit den zu engen Glacéhandschuhen rieb.

Lo hätte laut auflachen mögen. »Aber Kinder, ihr glaubt ja von dem allem nichts. . . . Und wie es mit der ehelichen Liebe bestellt war? – Ihr habt mich ja mit euren Klatschereien erst ordentlich hereingeritten . . .« Unwillkürlich suchten ihre Augen nach jenem andern, der schon in die kühle Erde gebettet war. »Feiger Narr!« In der Wahrheit erschien ihr der tote Silowstrem in einem andern Lichte. Er hatte ihr Respekt eingeflößt, Respekt vor etwas, was sie stets verachtet hatte, weil sie es ihrer ganzen Natur nach nicht begreifen konnte. Es gab also doch ein Gefühl, welches stärker war wie alle Verhältnisse. »Dummheit!« In ihrem Herzen aber barg sich ein geheimer Neid, weil sie ahnte, daß nur ein großes Gefühl das Leben lebenswert mache, daß der Geist nie das Herz ersetzen könne. – Und sie hatte kein Herz!

Der Sarg war herabgelassen; die gefrorenen Erdstücke klappten dumpf auf das Eichenholz. Der 376 Geistliche sprach das Gebet und ging. Sie zögerte, wie es der Anstand gebietet, noch ein wenig an der Grabstätte, mit gefalteten Händen, in jenem »stummen Schmerze«, der durch den wallenden Witwenschleier, die ehrfurchtsvoll zurücktretenden Leidtragenden, hauptsächlich aber durch die empörende Nüchternheit des engen, kalten Loches, in dem der »geliebte Tote« nun ruhen soll, etwas so Ergreifendes erhält. Die hübsche Lo empfand als echte Komödiantin die teuflische Ironie gerade dieses letzten Moments sehr klar und murmelte wie zur Abwehr zwischen ihren blassen, frostzitternden Lippen: »Jetzt bin ich endlich frei, ganz frei!«

»Nu mal los! – Sie haben uns schon vorhin den Mund wässerig gemacht. – Was hat Lerden denn vorgehabt?« Ein kleiner Teil des »Salons« stand abseits und suchte stampfend und die Hände reibend die halberstarrten Glieder zu beleben.

›Lerden? – Ja, warum war er eigentlich nicht zum Begräbnis gekommen?‹ Merkwürdig, daß die hübsche Lo erst jetzt an den Freund dachte. Neugierig horchte sie auf das Gespräch. Der alte Jäger erhob auch nicht umsonst seine Stimme zu ziemlicher Höhe. Jetzt kam seine Revanche.

»Was einem so alles im ›Salon‹ aufgetischt wird . . . dieser Graf . . . dieser Lerden! Pfui Teufel! Sie wissen, meine Herren, daß ich nie in die Vergötterung dieses Protzen eingestimmt habe.«

377 Die Herren nickten, ohne viel nachzudenken, begierig auf die Pointe.

»Ich habe ihm noch ganz zuletzt im Hause des teuren Toten meine Meinung gesagt,« fuhr Jäger fort. »Die Worte will ich nicht wiederholen – doch nur ein feiger Bursche läßt sich solche Wahrheiten gefallen!«

Lo mußte wider Willen lächeln. »Alter Aufschneider! Ich habe doch selbst gehört . . .«

»Lerden ist ja bekanntlich mit Vorliebe bei allen ›Vons‹ aus und ein gekrochen – Schindluder natürlich! In letzter Zeit wurde sogar den Offizieren eines sehr vornehmen Regimentes ›dienstlich‹ untersagt, mit ihm zu verkehren. Er hatte nämlich noch die Gentlemansgewohnheit, den jungen Leuten ihr Geld in ›Tempel‹ abzunehmen. Im eignen Hause hat er einen Leutnant v. Sandow ganz unglaublich gerupft – Hunderttausend oder mehr!«

»Bar schwerlich! Sandow hat nur Schulden« – unterbrach der Possendichter, der sich etwas auf aristokratische Bekanntschaften zu gute that.

»Dann unbar; was noch gemeiner ist. Uebrigens ließen sich die guten Leute nicht raten und waren neulich im Klub wieder mit ihm zusammen. Er spielte nicht. Wahrscheinlich, weil nicht mehr viel zu holen war.«

»Aber gehen wir doch!« drängte der 378 Possendichter. »Man friert noch an.« Widerwillig fügte sich Jäger, war aber dann ganz befriedigt, als Lo scheinbar absichtslos ihnen folgte. »Was da vorgegangen, ist nicht sicher festzustellen. Ich glaube fast, daß Lerden mit zwei berüchtigten Falschspielern – Offizieren a. D. – die durch ihn ganz eingeführt worden sind, Compagnie gemacht, aber als schlauer Fuchs an diesem Abend Unrat witterte und, während die beiden andern an die Luft gesetzt wurden, sich die Hände in Unschuld waschen konnte. – Der Mann konnte ja sein Lebtag nicht genug Geld zusammenraffen!«

»Unsinn! Das glaubt Ihnen kein Mensch!« entgegnete Schellagg empört.

»Sie wissen ja alles besser! – Jedenfalls hat die andre Lesart, daß Lerden den ganzen Abend spionierend zwischen den Spieltischen herumgeschlichen sei, einem Kapitän plötzlich die gezeichnete Karte aus der Hand geschlagen und Herrn v. Elarn zugerufen habe: ›Ihr Schufte betrügt!‹ – gar nichts für sich. Der vorsichtige Geldmensch sticht in kein Wespennest! Das ist auch nebensächlich. Die Hauptgeschichte spielte sich erst nach Schluß in der Thorfahrt ab. Lerdens Diener – er kann nicht allein in den Wagen steigen! – hat zum Empfang einen schrecklichen Fixköter mitgebracht, eine wahre Mißgeburt – auf Befehl natürlich . . . es soll so etwas 379 heißen . . . Als wenn der Kerl Herz hätte . . . nicht einmal für Menschen! – Der Hund sieht den Leutnant v. Sandow, knurrt; der Leutnant hetzt und schlenkert mit der Fußspitze nach ihm. Darauf Lerden mit seinem infamen Ton: ›Lassen Sie den Hund zufrieden!‹ – ›Ich thue, was mir beliebt!‹ – Lerden zuckt provozierend die Achsel. Die andern Herren mahnen zur Ruhe. Man hätte heute gerade genug Unannehmlichkeiten gehabt. Doch dieser Sandow – ein wirklicher Aristokrat – läßt sich natürlich nicht ins Bockshorn jagen und sagt ganz laut: ›Kerl und Köter dasselbe Kaliber – Parvenus!‹ Sehr wahr! – Was thut nun der feine Lerden? Springt hinterlistig wie eine Katze vor und schlägt dem Leutnant mit der verkehrten Hand ins Gesicht, daß das Monocle auf die Fliesen klirrt. – Und jetzt geschieht etwas Unglaubliches! Sandow, halb sinnlos vor Wut, tritt einen Schritt zurück, reißt den Pallasch halb aus der Scheide – Sehr richtig! Wozu trägt er die Waffe? – Die andern fühlten, daß die unerhörte Beleidigung dem ganzen Stande galt und nur mit Blut und auf der Stelle abgewaschen werden könne. – Keiner rührte sich. Doch einer – der eigne Eskadronchef wirft sich dazwischen. ›Den Degen in die Scheide, Herr Leutnant; ich befehle es!‹ Und weil der andre als Antwort die Klinge ganz herausreißt, fällt er ihm 380 in den schon erhobenen Arm. So sind die Verhältnisse im Offiziercorps!«

Jäger hatte sich in Eifer geredet und machte, bald sich hoch aufrichtend, bald ein paar Schritte vorwärts stürzend, alle die Stellungen und Bewegungen durch, welche seiner Ansicht nach für die Hauptbeteiligten eines solchen Rencontres unerläßlich gewesen sein mußten. Es war ein Hauptspaß für den »Salon«, wie der dicke Saufbruder in Havelock und Kalabreser den Gardeleutnant kopierte, selbst in der Sprache, in den wütenden Verzerrungen des graubärtigen Gesichtes – ein toll gewordener Falstaff von überwältigender Komik. Und das alles im Haupteingange des Friedhofes inmitten der feierlichen schwarzen Trauerhüte, die noch unschlüssig hin und her wackelten. Sollte man in das: »Und ein Offizier, ein Mann von Ehre, soll sich ungestraft von diesem aus der Rolle gefallenen Halunken züchtigen lassen?« einstimmen?! Der Fußtritt des Esels hat für den Durchschnitt seine schwer widerstehlichen Reize. Aber dann kam die Geschichte Lerden zu Ohren, und er sagte eines Tages ganz eisig: »In vier Wochen möchte ich das geliehene Geld von Ihnen . . . Ihnen . . . Ihnen.« Eine nette Reihe, die sich da verzweifelt angeblickt hätte! Es war also nur natürlich, daß man zur Gewißheit, zum Schluß drängte.

»Was weiter? Haben sie sich geschossen?«

381 »Also noch in der Nacht überbrachte ein Graf von den Dragonern Sandows Forderung: Zehn Schritt Barriere . . . dreimaliger Kugelwechsel . . . etwaige Anordnungen durch das Ehrengericht nicht ausgeschlossen. Lerden nimmt an, erklärt aber am andern Mittag durch seinen Sekundanten – derselbe Tag, wo der Graf und sein Frauenzimmer in der Morgue ausgestellt waren – daß er sich übereilt habe, die Bedingungen verschärfen müsse: Fünf Schritte Barriere, Kugelwechsel bis zur tödlichen Verwundung eines Kombattanten. Schneidig? Das Jungchen hatte nämlich Angst bekommen und kalkulierte: ›Die Proposition ist so blödsinnig scharf, daß kein Ehrengericht darauf eingehen kann. Um so besser! Ich gebe nicht nach und komme vielleicht ganz ungeschossen davon.‹ – Die Sache kam aber anders. Erst war das Ehrengericht zweifelhaft, ob solch ein brutaler Patron überhaupt noch satisfaktionsfähig sei. Da aber der Leutnant durchaus Blut sehen wollte, gab man nach und fixierte ungefähr Lerdensche Bedingungen. Mag eine nette Nacht gehabt haben, der Millionär! Ein halbes hundert Goldrollen konnte er sich doch nicht vor den Leib binden? Und so hatte denn sein Freund, der Eskadronchef, das Vergnügen, ihm mittels Cognac so ins Gewissen zu reden, daß er mit nicht allzu auffällig schlotternden Beinen am Morgen in den Wagen 382 steigen konnte. Dieser Rittmeister überhaupt . . . der Name? . . .«

In dem Eifer des Gefechtes und dem gutherzigen Bestreben, der hübschen Lo kein Wort zu unterschlagen, hatte er einen Offizier nicht bemerkt, der mit dem Totengräber in einem Seitengang stand, eine elende Hündin an der Strippe, die, den häßlichen Kopf gesenkt, fröstelnd dasaß und zuweilen klagende Laute ausstieß. »Sei ruhig, mein armer Kerl! Er hat mir dein Wohlergehen auf die Seele gebunden, und wir werden uns schon befreunden,« tröstete sein Herr. Er hatte dann erstaunt einige Augenblicke auf Jäger gehorcht und war rasch auf ihn zugetreten.

»v. Fabrest . . . wenn Ihnen so viel an dem Namen gelegen ist . . . und zwar bin ich das! – Ich bin eben unfreiwilliger Zuhörer Ihrer lauten Reden gewesen – Reden, die geeignet sind, das Andenken eines teuern Freundes auf das schändlichste zu verunglimpfen.«

Der Doktor versuchte eine erhabene Miene anzunehmen, aber der Offizier fuhr in scharfem Tone fort. »Ich will annehmen, daß Sie nur schlecht unterrichtet waren, obgleich die im allgemeinen richtigen Thatsachen hier in einer Weise zusammengestellt sind, daß man an eine niederträchtige Absicht glauben könnte.«

383 »Das ist doch . . .!« Jäger faßte den Knotenstock fester.

»Sie werden die Liebenswürdigkeit haben, mich zu hören!« unterbrach der Rittmeister befehlend. »Nachdem die Sache sehr gegen die Verabredung durch irgend ein Klatschmaul in die Oeffentlichkeit gelangt ist, halte ich es für meine Pflicht, das Falsche zu korrigieren. – Ich habe in letzter Zeit Herrn Doktor Lerden näher kennen gelernt, was mir stets zur besonderen Ehre gereichen wird – und spreche nur die Ansicht unsrer gegenseitigen Bekannten aus, wenn ich Ihnen versichere, daß dieser Herr vom ersten bis zum letzten Moment als Aristokrat im besten Sinne gehandelt hat. An jenem Abend speziell hatte er uns alle durch sein ebenso rechtzeitiges wie energisches Eingreifen in einer heiklen Angelegenheit zu Dank verpflichtet. Es ist nicht seine Schuld, daß Leutnant v. Sandow ihn gerade darauf in einer Weise provoziert hat, die ich unqualifizierbar nennen würde, wenn sie nicht vor allem kindisch wäre. Ich habe meinen Leutnant zu sehr als Kavalier taxiert. Er war sogar das Gegenteil davon. Doktor Lerden that in jenem Falle, was wohl jeder – ich unbedingt – gethan haben würde. Auf solche Pöbelhaftigkeit gehört ein Faustschlag. Lerden war nichts weniger als Parvenu; außerdem haben wir seine Gesellschaft gesucht, er 384 nicht die unsre. Daß kein andrer als ich Herrn v. Sandow in die Klinge fiel, erklärt sich einfach: Ich war der Aelteste und sein direkter Vorgesetzter. – Sie scheinen in Ehrensachen eine geringe Erfahrung zu haben, das liegt Ihnen wohl auch nicht sehr nahe. Gegen den Vorwurf der Feigheit muß ich meinen Freund in Schutz nehmen – es war wahrhaftig nicht sein erster Ehrenhandel! – Sie kennen ihn wohl auch kaum, obwohl Sie sich das Ansehen geben. Auch könnte der Zweifel: ob satisfaktionsfähig oder nicht – wohl höchstens Herrn v. Sandow gelten – und ich habe ihn angesichts einer solchen Beleidigung auch gehabt. Uebrigens ist Leutnant v. Sandow mit schlichtem Abschied aus andern Gründen aus der Armee entlassen. – Ferner hat Ihr Gewährsmann einfach gelogen, wenn er behauptet, es sei Cognac oder meine Gegenwart nötig gewesen, um Lerden die Contenance zu geben. Er war vorher ruhig, auf dem Platze mehr wie das, beinahe gleichgültig! Und nun, mein Herr, möchte ich Sie bitten, Ihre frühere Lesart nicht weiter zu kolportieren, widrigenfalls ich Sie der Ehre einer sehr persönlichen Begegnung würdigen müßte!« Darauf drehte sich Herr v. Fabrest kurz und ohne zu grüßen um.

»Aber wa – was habe ich denn Schlimmes gesagt?« Der alte Zigeuner war, bedrippt und erstaunt wie der »Salon«, der die harte Zurechtweisung 385 schweigend mit angehört hatte, trotzdem angenehm gekitzelt durch eine geheime Schadenfreude. ›Der hat's ihm ordentlich gegeben!‹ Auch jetzt wagte er in Rücksicht auf den noch in Hörweite befindlichen Offizier keine Parteinahme. Der Possendichter studierte mit seinem Monocle genau das Terrain. »Und auf einem Kirchhof!« Es war ihm eine große Genugthuung, eines jener merkwürdigen Zusammentreffen, die er auf der Bühne so oft hatte wirken lassen, auch thatsächlich einmal miterlebt zu haben.

»Kinder, sprecht doch! . . . Hat der Mann . . .?« Und mit jedem Schritte, den der Rittmeister sich entfernte, wurde Jägers Stimme lauter, bis er endlich, ganz sicher, nicht mehr gehört zu werden, ein wütendes »Der Kerl!« ausstieß und mit einem pfeifenden Schwunge des Knotenstockes begleitete. »Das – mir!« Jetzt war er wieder der alte Renommist. »Glaubt mir, wenn ich nicht Rücksicht auf die Heiligkeit des Ortes und die Witwe unsers Rinow genommen hätte, der Aristokratenschädel wäre nicht ganz heimgekommen!«

»Er hatte den Kürassierhelm auf,« bemerkte ironisch ein »Schäbiger«.

»Und die Hand immer am Pallaschkorb.«

Worauf Jäger mit jener Gedankenwendung, deren nur der gesinnungslose Lump fähig ist, einen 386 plötzlich so ehrwürdig-ernsten Ausdruck in seinem Doggengesichte, daß man unwillkürlich nach dem Heiligenschein über dem Kalabreser suchte, monologisierte: »Jawohl, der wäre fähig gewesen, die Waffe, welche der Offizier nur gegen den Erbfeind ziehen sollte, an einem in Ehren ergrauten Kopfe zu probieren . . . Mein Gott!«

Zum Glück für die Neugier des »Salons« dauerte der fromme Anfall nicht lange: »Und das Ende, Jäger? Ist Lerden tot oder was sonst?«

Nun erzählte er mit ziemlicher Mäßigung – denn da kam wieder ein Querweg, wo der Spion lauern konnte – weiter. Bei dem Duell in der Jungfernheide sei wohl alles ganz rite zugegangen, was Lerden bei seinen Schauspielergepflogenheiten gar nicht schwer gefallen sein könnte. »Merkwürdig ist nur das eine! – Es wurde von beiden zugleich auf Kommando und mit Visieren geschossen; wie ging es zu, daß Lerden, dem man ein Falkenauge nachsagt, gar nicht zum Schuß kam? Er kriegte sein Teil in den Unterleib, ohne seinen Pistolenabzug auch nur berührt zu haben! Wie reimt sich das mit seinem berühmten Mut? Obgleich schwer verwundet, hätte er doch noch vollkommen Zeit gehabt, dem Gegner einen gehörigen Denkzettel zu geben. Nach vierundzwanzig Stunden schob er übrigens ab; wie man sagt, sehr gefaßt, ohne ein 387 Wort, ohne einen Seufzer.« Und jetzt wurde das Verlangen nach einem recht cynischen Schluß in ihm übermächtig. »Er hatte vermutlich das Stichwort fürs Sterbebett vergessen.«

Ernst hatten die andern zugehört, sie konnten sich eines Grauens nicht erwehren.

Endlich stieß Schellagg aufgeregt hervor: »Er suchte den Tod!«

Jäger lächelte. Auch den übrigen kam es sehr unwahrscheinlich vor.

»Bah! Es stirbt keiner freiwillig, der eine Million und einen gesunden Körper hat.«

Darauf Schellagg, der es liebte, seine Wahrnehmungen sententiös zusammenzufassen: »Er war wohl im Grunde ein Romantiker, dieser Lerden – einer jener unseligen Uebergangsmenschen, die das Alte verbraucht, das Neue fremd finden. Sie haben zuweilen den Wunsch, vom ›Einst‹ ins ›Jetzt‹ überzuspringen, stürzen aber, wenn sie es thun, ganz sicher in die Tiefe, welche zwischen den beiden Ufern gähnt.«

Sie waren an den Ausgang gekommen, wo die Trauerwagen hielten. Mutter und Tochter stiegen ein.

»Ich habe auf dich gewartet. – Weißt du, daß Lerden tot ist, Lo?«

»Hm!«

»Erschossen im Duell! Von einem Leutnant! – Und keine Bestimmung getroffen . . . Das ungeheure 388 Vermögen zerstiebt in die Winde. Wo er doch so viel auf dich hielt, hätte er dir etwas vermachen können!«

Die hübsche Lo schüttelte unwillig den Kopf. »Ich weiß alles, Mutter. Laß mich!«

Darauf wendete sich Frau Klara gekränkt ab und sah durch das Wagenfenster auf die Straße mit ihrem gleichmäßigen Lärm, dem nivellierenden Gewoge, in welchem der einzelne gar keine Rolle spielt, verschwindet. Einer von einer Million! Der ist gleich wertlos, ob tot oder lebendig. – Doch was hatte eigentlich die junge Witwe? Warum war die glatte Stirn heute so faltig, der Mund so krampfhaft zusammengezogen? Weil Rinow tot war? – Kindlich! Die Mutter hatte darüber so wenig Illusionen wie die Tochter. »Was versuchte sie denn niederzukämpfen?«

Allerdings kämpfte die hübsche Lo, doch mit sehr schwachem Erfolge. Gegen die zielbewußte Logik ihres Innern erhob sich auf einmal übermäßig ein taedium vitae. Wohl hatte sie zuzeiten einen Anflug davon verspürt, wie jeder einmal; aber jetzt hielt es sie wirklich gepackt – eisern, unerbittlich! Ohnmächtig rang das Weltkind dagegen, bis es endlich, müde des ungleichen Kampfes, sich in die Wagenkissen zurücklehnte und fast willenlos jenes schreckliche Gefühl des Lebensüberdrusses auf sich einstürmen ließ. Sie konnte sich nicht einmal Rechenschaft geben, was eigentlich die vor Minuten noch 389 so Frivole so schnell gemeistert. Es war wohl eins zum andern gekommen, heimtückisch, langsam. – Wie die Wasserflut zur Schneeschmelze in den Flachlandströmen emporsteigt, erst ungestüm, geräuschvoll – die stolzen Uferdämme schauen lächelnd auf das ungebärdige Kind –, dann massiger, immer langsamer; die Wassermassen scheinen sich träge in dem tiefgewordenen Bette hinzuwälzen – noch zwingt sie der Damm – aber sie steigen ganz langsam, Zoll für Zoll – schon spielt die Flut um die Dammköpfe – doch die stehen unbeweglich, wenn auch das Wasser bis zu ihrem Scheitel reicht. – Nun tritt ein Stillstand ein: Strom und Ufer haben gleiches Niveau, der Stolze scheint sich begnügen zu wollen. Da leckt eine ganz kleine Welle über . . . noch eine . . . es sieht so schmeichelnd unschuldig aus . . . und plötzlich erbebt der Damm, reißt, und durch die Bresche stürzen gurgelnd die lehmigen Fluten.

Und hier war es nicht einmal eine kleine Welle, die den Ausschlag gab, sondern eine richtige Flutwelle. Lerden freiwillig gestorben? Er, der Reiche, der Vornehme, fand dies Dasein schal und ging, nicht dem Impulse eines unseligen Augenblickes blindlings folgend, nein, kühl, überlegt, beinahe frivol, einem andern die Verantwortung für seinen Tod aufbürdend, auch da noch bemüht, den Schleier zusammenzuziehen, den er mißtrauisch gegen die Menge 390 um sein ganzes Leben gewoben. Wenn der sich davon macht, was sollten die andern dann hier, was sie?

Der Wagen hielt vor Frau Klaras Hause.

»Kommst du mit herauf?« fragte die Mutter würdevoll.

»Meinetwegen.« Sie war ganz stumpf.

Im Treppenhause blieb die hübsche Lo plötzlich stehen. Die Ariadne schlief hier noch immer, erwartungsvoll – ein wenig verbröckelter, verstaubter unter ihrer »ewigen Lampe«. – Ein empörender Vergleich drängte sich ihr auf.

›So eine bist du auch!‹

Ja, sie war es in der That, eine von den modernen Ariadnen – beschmiert, verbraucht, verlassen, der kretischen Königstochter so ähnlich, wie der Gipsklumpen da – und ganz sicher, daß kein Gott herabsteigen würde, die Schlummernde zu umarmen.

Die Mutter erriet den Gedankengang nicht, verstand darum auch nicht, warum die hübsche Lo ihr gleichgültig die Hand hinstreckte und sagte: »Ich kehre um, denn ich glaube, wir hätten uns da oben zu viel zu sagen, Mama!«

 


 


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