Johannes Richard zur Megede
Unter Zigeunern
Johannes Richard zur Megede

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Neunzehntes Kapitel.

Aber auf jede Nacht folgt ein Tag. Wenn jemand plötzlich auf der Leipzigerstraße gesagt hätte: »Die beiden dort gehen in den Tod!« dann würde nach einem Blick auf das junge blonde Paar, das erhobenen Hauptes, mit lächelndem Munde durch die Menge schritt, unfehlbar ein andrer geantwortet haben: »Unsinn! Die sind ja glücklich. Der Tod will solche gar nicht.« Und doch gingen der Graf und Marie Ellers in den Tod, ruhig, bewußt, ohne Reue. Wie vorsichtige Gourmets hatten sie den Becher abgesetzt, noch ehe er ausgetrunken war, um die Hefe nicht zu sehen. Viele nennen das Feigheit. Bei Schwachen ist es der letzte Mut und kein kleiner! Sie fürchteten das Erwachen; sie hatten recht.

Es war Winterabend, ein klarer, kalter Winterabend mit leuchtenden Sternen und einem vollen Mond. Berlin hat etwas Erwartungsvolles, Festliches an solchen Tagen. Die Lichter aus den Fenstern 347 strahlen wärmer, gemütlicher; die Läden mit den Weihnachtsausstellungen voll Puppen, blinkendem Geschirr, Möbeln, vielfarbigen Geschenkstickereien, lockenden Pfefferkuchenbergen haben viel von ihrer frostigen Vornehmheit eingebüßt. Bei den beiden war der Entschluß, zu sterben, unabänderlich. Vielleicht hatten sie darum ein klares Auge, ein feineres Ohr für die Töne und Farben dieses Menschenchaos. Berlin rüstet sich zur Weihnacht. Da haben die Kinderaugen etwas so Leuchtendes, die der Erwachsenen etwas so Warmes. Und ob einer nun als Betteljunge frierend, die Hände in den zerrissenen Hosentaschen, mit den kalten Füßen aufstampfend vor einem Riesenschaufenster steht und seine Weihnachtsphantasie spielen läßt, ob er als verzogenes Kind im Fond des Landauers flüchtig die Weihnachtsmenschen und die Weihnachtsläden vorüberhuschen sieht, ob ein armes Weib, ein wenig begehrlich, ein wenig neidisch auf die Besitzenden, einen billigen Ausverkauf durchmustert und die entbehrlichen Pfennige nachrechnet, ob eine große Dame, den Diener mit den Weihnachtspaketen hinter sich, vom Chef geleitet, umschmeichelt, ein vornehmes Geschäft verläßt – überall derselbe gute Gesichtsausdruck. Da merkt man, daß dieses vielköpfige, von streitenden Interessen zerrissene Berlin auch ein großes Herz hat. Die beiden fühlten das. Und wie sie jetzt durch die 348 Tageshelle des von dunstigen Blau umzogenen Bogenlichtes dahinschritten, sahen sie weniger auf die vornehme Welt, die, in kostbares Pelzwerk gehüllt, auf dem Trottoir promenierte, auf die lange Karossenreihe, durch welche sich klingelnd die Pferdebahnen drängten, neben denen die alten Droschkengäule trotteten; ihr Herz war vielmehr bei den Kleinen vor den Puppen- und Spielwarenhandlungen, bei diesem seltsamen Gemisch aller Klassen, wie es nur die Weltstadt bietet, mit den charakteristischen Ausrufen des kindlichen Erstaunens oder der Begehrlichkeit – oder bei den armseligen verhungerten Gassenjungen, die, ihre Hampelmänner ausbietend, die Schnarren drehend mit einem: »Nur einen Groschen! Kaufen Sie doch!« sich an sie drängten. Vor einem Waffengeschäft blieb Marie stehen.

»Hier, Hans.«

»Wir werden schon noch eins finden.«

»Nein, ich will es.«

»Geh ein Stück voran, du darfst nicht sehen.«

»Ja, ja!« Aber sie blieb doch vor dem Schaufenster. Ob der fade Gigerl, der, sie lüstern musternd, ihr Jackett streifte, wohl für möglich gehalten hätte, daß dieses schöne, jugendfrische Weib diese auf sie gerichteten kaltblitzenden Waffenläufe nur mit dem Gedanken anstarrte: ›In einer Stunde wird sich ein solcher Lauf tödlich gegen deine Brust richten. 349 Hast du auch den Mut?‹ Und ihr bangte nicht. Es ist wunderbar, wie oft die Schwachen – besser vielleicht wie die Starken sich zum letzten Entschluß konzentrieren können. Marie Ellers sah ganz gleichmütig, wie er vor der lächelnden jungen Verkäuferin die Waffen aussuchte, hie und da eine in der Hand wog und endlich einen kleinen ziselierten Revolver mit Elfenbeingriff erstand, dessen Munition er genau prüfte. »Damit kann man doch jemand niederknallen?« – »Die Waffen sind alle eingeschossen.« Sie verstand das, ohne es zu hören, auch des jungen Mädchens etwas spöttische Kopfbewegung: ›Du gutmütiger Kerl wirst einer Fliege nichts zuleide thun geschweige denn einem Menschen!‹

Sie passierten den menschenüberfluteten Potsdamerplatz. Plötzlich staute sich die Menge, bildete Spalier, Schutzleute kamen herangesprengt: »Der Kaiser!« Das feurige Rappengespann raste vorüber; im offenen Wagen der Monarch im Gardeducorpshelm mit dem Adjutanten. Die Menge schrie Hurra! und schwenkte die Hüte. Die beiden sonst sehr loyalen Herzen verspürten jetzt wenig von der spontanen äußerungsbedürftigen Bewunderung ihrer Umgebung. Wer in den Tod geht, zuckt über jede Erdengröße die Achsel. Die Siegesallee nahm sie auf, dann kam der Königsplatz, dunstig, im elektrischen Licht strahlend. Von Kroll tönte gedämpft das 350 Opernorchester; die reichen Ecktürme des »Reichstages«, die goldene Kuppel hatten sich ganz von der Bretterhülle losgelöst. Aber der Steinkoloß mit den dunkeln Fenstern sah froststarr aus, das Gold strahlte kalt. Wie anders damals! Sie dachten an jenen wonnigen Maiabend; doch wie es vor Entscheidungen im Leben gewöhnlich, sprachen sie nur Gleichgültiges.

»Der Tiergarten mit den schneebeladenen Bäumen sieht sehr poetisch aus.«

»Ich halte die Kuppel nicht für wirkungsvoll; sie wird beherrscht.«

Am Generalstabsgebäude bog ein leicht gehendes Coupé an ihnen vorüber, der Kutscher griff an den Hut. Lerden fuhr zu einem Souper. Der Graf faßte wie zur Abwehr nach dem Revolver. Marie sah ihn an, und ihre Augen fanden sich in dem flammenden Ausdruck des Hasses gegen diesen einen! Hinter der Moltkebrücke wurde es stiller; zuweilen ein Stadtbahnzug, dessen glänzende Wagenreihe über der Brücke in der Luft zu schweben schien, einige Pferdebahnen, vereinzelte Menschen.

In einer der äußersten, toten Straßen von Moabit hielt vor einer Destillation ein Hundewagen, eines jener schmutzigen, lumpenbedeckten Gefährte, zu denen der magere, mißfarbige Hund so gut paßt wie ein Bettler in eine Heide. Der halbwüchsige Bursche trat gerade aus dem Lokal, zog sich die Wollmütze über 351 die Ohren und bedrohte den Hund, der sich vor Frost schüttelte und, den bösen, feigen Ausdruck der Ziehhunde in dem plierigen Auge, nach dem warmen Stall verlangte.

»Ick friere ooch, du oller Köter.«

»Der kriegt woll nich vile zu fressen?« fragte ein kleines Mädchen, das eben aus einem finsteren Thorweg getreten war, und zeigte auf die hervorstehenden Rippen, das schmutzige Hundefell.

»Ick fresse mir ooch nich immer satt! Du kleine, lahme Krähe siehst selber verhungert genug aus,« versetzte der Bursche mit roher Gutmütigkeit und spannte sich an den Wagen.

Der Graf und Marie blieben stehen. Das gleiche Gefühl eines unendlichen Mitleids durchzitterte sie. Man sieht in den Riesenstädten gar manchmal Kindergesichter, die so greisenhaft ausschauen, Gesichter, in denen man die ganzen Sünden und Leiden von Generationen wie in einem Mikrokosmos studieren könnte – den Hunger, das schlechte Blut, die Kellerwohnung, den Alkoholismus des Vaters, das welke Fleisch der skrofulösen Mutter. Und dazu – das Trostloseste – die unbesiegliche Lebensfreude des Kindes, die ihm aus den sprühlichtfarbenen Augen bricht, die sich, wie hier, lachend über das vom Knochenfraß zerstörte Bein hinwegsetzt. Wenn man jung ist, tanzt man auch auf einem Fuß.

352 »Geh doch nach Haus, du bist dünn angezogen,« mahnte mitleidig Marie Ellers.

»Bei uns unten is es ooch nich wärmer und so naß. Ick schliddere hier noch so 'n bisken. In den nächsten Dagen fängt ooch die Schlittschuhbahn uf 'n Kanal an, det seh' ick zu jerne, wenn sie so schnell hinrutschen.«

Marie wurde das Auge feucht. Es war eine unbeabsichtigte, grausige Ironie in dem jugendfrohen Wollen des Kindes und dem siechen, alten Körper.

»Da nimm, mein Kind!« Sie zog den letzten Thaler aus dem Portemonnaie und hielt ihn der Kleinen hin, die ihn mit den Augen verschlang und doch wieder mit in den Mund gestecktem Finger ihn zu nehmen sich genierte. »Nimm, nimm!« Marie wandte sich schnell ab. Eine jener vagen Aehnlichkeiten in Kindergesichtern erinnerte sie an ihr Stieftöchterchen. Es war Wermut in den Todeskelch. »Ich könnte sie nicht wiedersehen. – Eine solche Mutter!« Der Entschluß zu sterben ward ihr felsenfest. Der Graf kam ihr nachgeeilt, lachend.

»Ich habe dem Hunde und dem Jungen noch zu einer Weihnachtsfreude verholfen. Hörst du?« Eilig ratterte das Hundefuhrwerk durch die Straße, der Junge pfiff, der Hund bellte freudig, als ob er gewußt hätte, daß auch für ihn eine Extraration 353 abfallen würde. Es stirbt sich viel leichter, wenn man vorher noch etwas Gutes gethan hat.

An der Plötzenseer Kanalschleuse lagen die eingefrorenen Oderkähne, Lichtschein blinkte gemütlich aus den Kajüten, der Eisenschlot dampfte. Sie schlichen vorüber, den Kanal entlang. Auf dem reingewehten Eise spiegelten sich die Sterne, aber unter der Brücke, wo es noch nicht zugefroren war, gähnte das schwarze, unheimliche Wasser. Er dachte an seinen Spaziergang am Kanal. »Nicht einmal den Mut zur Flucht!« Er hatte sich doch unterschätzt, »sogar zum Tode!« Links schiebt sich die Jungfernheide bis dicht an das Wasser heran. Der melancholisch singende Föhrenwald umgab sie. Sie glitt auf den schlüpfrigen Nadeln des fast schneefreien Grundes aus.

»Ich bin müde.« Sie lehnte sich an einen Baum. Er schlang den Arm um ihre Hüfte; ihre Lippen preßten sich im heißen Liebeskusse aneinander, und er flüsterte im kindischen Stammeln der Leidenschaft das oft wiederholte »Liebst du mich auch wirklich?«

»Nur dich.«

»Hast du nie einen andern geliebt?«

»Niemals.«

Sie schwiegen. Kalt glitzerten die Sterne aus dem weißlichen Blau des Firmamentes. Seitlich im Westen hob sich eine düsterrote Wand herauf 354 wie der lohende Widerschein eines Riesenbrandes. Berlin mit seiner nächtlichen Dunstkappe, seinem ungewissen Lichtschein, dem verschwimmenden Grau seines Häusermeeres lag vor ihnen. Die müde Stille der Winternacht hüllte sie ein. Er suchte wieder ihren süßen Mund.

»Muß es denn sein? Sündigten wir?«

In leidenschaftlicher Bewegung warf sie den Arm um seinen Hals. »Nein, nein! Was wir vorher gethan, war Sünde. Siehe Hans, wir waren glücklich, so glücklich. Kann man das sein, wenn man sich elend und verworfen fühlt? Glaube mir, wir haben nichts zu bereuen! Wir thaten, was wir mußten.«

»So glücklich – so glücklich!« wiederholte er. Und wie er so sein schönes Weib im Arme hielt, wie er sie küßte und wieder küßte, bäumte die erwachende Lebenskraft sich mächtig gegen die kalte Grausamkeit des Entschlusses.

»Warum sterben? – Leben!«

Ihre Arme lösten sich von seinem Halse. »Lebe du! – Ich nicht. –« Sie senkte das Auge und streckte die Hand nach der Waffe aus. »Gieb.« Sie erkannte ihre halben Naturen viel richtiger. Mittelmäßig, gut, schienen die beiden dazu bestimmt, auf den vorgeschriebenen Pfaden der Gesellschaft makellos zu wandeln. Aber die aus der Bahn des Gewohnten durch eigne und fremde Schuld Gerissenen hatten 355 nicht die stählerne Kraft der Vollblutnaturen, die das Leben trotzig weiterleben, sich mit starker Schulter gegen die Wucht morscher Traditionen stemmen, den Schlag auffangen, um ihn zwiefach zurückzugeben und die, wenn sie fallen müssen, inmitten eines Leichenhauses gefunden werden.

»Ohne dich? Nie.« Ein irrer Ausdruck flammte in seinen Augen. Er faßte sie fester um die Hüfte und zog sie an sich. Marie sprach noch ein Gebet, er keins. Der aufgezogene Hahn knackte leise in der Manteltasche unter seiner nicht vor Feigheit bebenden Hand.

*

In dem letzten Kahn an der Schleuse legten plötzlich der Schiffer und sein Knecht den Suppenlöffel beiseite und horchten.

»Das war ein Schuß von drüben. – Noch einer. – Es müssen Wilddiebe sein. Daß die sich so nahe heranwagen!«

Dann aßen sie ihre Abendsuppe weiter. 356

 


 


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