Johannes Richard zur Megede
Unter Zigeunern
Johannes Richard zur Megede

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Elftes Kapitel.

Eine kleine, auserlesene Gesellschaft in Frau Klaras Boudoir. Der Possendichter gab seine »Elvira« zum besten.

». . . Denn Adel verpflichtet. Und wenn er wirklich das Beste der Nation repräsentiert, so mag er sich hüten, das Schlechteste zu thun. Herr Graf . . .«

Ein leichtes Beifallklatschen bei den Frauen, ein überzeugtes »Sehr wahr!« der Männer. Lo, die erst spät gekommen und nicht gerade kritisch aufgelegt war, geriet in diesem Gewirr von komischen Situationen und banalen Witzen in die Gefahr, den Anschluß zu verlieren wie der Held des Stückes, und hob verwundert über diese plötzlich ernsthafte Wendung den Kopf.

»Woher dem alten Millionenbauern die Weisheit auf einmal kommt?« Aber sie hatte den Satz noch nicht vollendet, als die mit einem eigentümlichen Ausdruck auf sie gehefteten Augen einiger Frauen und 190 das schmutzige Lächeln des Possendichters ihr zu denken gaben. »Wer mag da geklatscht haben? – Jäger? . . . Er weiß doch nichts!«

Dieser Proteus der Windbeutelei, der noch eben grinsend den Unterkiefer vorgeschoben hatte, ertrug so recht treuherzig Los forschenden Blick. In der Pause beugte er sich zu ihr herüber. »Du kennst doch das Neueste über den da?« – »Nein!« – »Sehr charakteristisch! Ein Bekannter sagt zu ihm in der ›Kaiserkrone‹: daß Sie jeuen, verlieren und nicht bezahlen, nimmt Ihnen niemand übel, doch dieses konstante ›Mein Ehrenwort, bis morgen um zwölf Uhr haben Sie bestimmt hundert Mark‹, und acht Tage später ›Bedaure, war nicht in der Lage‹, das ist eine Gemeinheit. – Und die Antwort? ›Aber ich bitte Sie, Verehrtester, das ist ja meine Spezialität!‹ Starker Tabak, aber nicht übel!«

Lo hörte nur mit halbem Ohr hin. Du betrügst mich doch nicht! Doch soll es euch beiden eingetränkt werden!

Wenn dieser notorisch feige Bursche eine solche Anspielung wagte, wie sicher mußte er seiner Sache sein! Und obgleich keineswegs grausam oder rachsüchtig, hätte sie in diesem Augenblick so recht mit Genuß Jäger am Galgen baumeln sehen können.

»Gott sei Dank, daß ›er‹ wenigstens nicht da ist! Er hätte sich ja ganz sicher verraten. – Aber 191 ihr mich einschüchtern oder verlegen machen? – Bah!« Sie folgte jetzt mit einer für den Possendichter sehr schmeichelhaften Aufmerksamkeit der Handlung. Und als er nach einer Tanzmeisterverbeugung unter großem Applaus abtrat, war sie die erste, welche ihm die Hand hinstreckte. »Gratuliere, sehr gut! Natürlich schon angenommen, noch ehe es geschrieben war?«

»Wie genau orientiert gnädige Frau sind!« Doch er war ein geriebener Fuchs und ahnte den hinkenden Boten.

»Uebrigens höchst zeitgemäß und scharf der Hieb gegen den Adel. Wenn selbst die Millionenbauern skeptisch werden!« Es kümmerte sie recht wenig, daß der »Salon« sie aufmerksam betrachtete. »Doch sagen Sie, dieser Graf, der seinen Uradel kaum wie einen halbaufgestülpten Glacéhandschuh trägt, dieser Renegat und Abenteurer, der auf das Urteil seiner Standesgenossen pfeift, verdient er die ernste Lektion so ganz?«

Der Possendichter wandte sich. »Allerdings, gnädige Frau . . . ich weiß selbst nicht . . . Sache der Inspiration. Jedenfalls gaben mir meine liebenswürdigen Zuhörer gerade da recht.« Und weil er doch ganz genau wußte, daß diesem klaren Kopfe gegenüber Handwerksphrasen nicht zogen, bequemte er sich endlich zu einem: »Nun ja, ich habe eine 192 ganz bestimmte Persönlichkeit im Auge. Nicht wahr, Herr Doktor, Sie wissen, wen ich meine?«

Der alte Vagabund kniff die Augen zusammen. »Ich wüßte nicht . . .«

»Na, na. Das Nichtwissen scheint Ihre Spezialität,« sagte er gekniffen.

Die hübsche Lo lächelte liebenswürdig. »So hat eben jeder seine Spezialität!«

Der Possendichter verstand, zuckte zusammen und parierte, ungeschickt genug, auf der Stelle. »Der Graf Silowstrem kommt ja jetzt so selten!«

Sie war Komödiantin genug, laut aufzulachen. »Und das ist meine Spezialität? – Jetzt verstehe ich erst. Der ist also gemeint? Was haben Sie eigentlich gegen meinen guten Grafen? Er ist sehr liebenswürdig und sehr talentvoll!«

Man lachte. »Die eherne Stirn wie die Mutter! Aber ihr kann keiner!«

Es war einer jener leichten Triumphe, wie Lo sie früher oft gefeiert hatte. Heute wurde sie dessen nicht froh, denn etwas im Benehmen ihrer Mutter beunruhigte sie. Besonders herzlich war das Verhältnis zwischen beiden nie gewesen. »Guten Tag, guten Weg!« Frühreif und eine sehr scharfe Beobachterin hatte schon das Kind die Mutter durchschaut. Jeder hatte sein Geheimnis für sich, auch später. Und wenn Frau Klara ernst vor dem Bilde 193 ihres »großen Freundes« saß, hatte der Backfisch ganz aufgeklärte Betrachtungen über seine wahrscheinliche Herkunft. Darin täuschte sich die hübsche Lo übrigens vollkommen. Denn nichts charakterisierte diese unglückliche Ehe besser als diese Tochter: Heiße Sinnlichkeit neben vollkommener Herzenskälte; Vater und Mutter unversöhnt!

»Ich möchte dich einen Augenblick sprechen, Lo!«

»Sofort, Mama!«

Sie gingen ins Eßzimmer. Lo glaubte den Grund der Unterredung zu erraten. »Ach, die ist wohl gekommen?«

Ihr einziger Bruder nämlich, schwach, ein Spielball der Verhältnisse wie sein Vater, hatte sich so lange im tiefsten Schlamm der Weltstädte herumgewälzt, bis er Mutter und Schwester keinen größeren Gefallen thun konnte, als vor einigen Wochen, halb blödsinnig, verlumpt in Wien zu sterben, nicht im Hospital, sondern auf der Dachkammer seiner Frau. Klara Linker, liberal für sich und in der Theorie, war keineswegs erbaut, als diese Schwiegertochter – ein Bäckermädchen – sich anmeldete. »Ich bin krank und kann nichts verdienen. Helfen Sie mir!«

Heute war das unglückliche, längst verblühte Geschöpf angekommen.

»Du präsentierst sie natürlich nicht. – Armes Ding!« sagte Lo achselzuckend.

194 Frau Klara that die Sache merkwürdig schnell ab. »Das wäre weder für sie noch für uns eine Wohlthat. Ich werde für sie zu sorgen suchen!« Und sie hielt dies noch für eine große Selbstverleugnung, daß sie die Schwiegertochter bei sich behielt, statt des ihrer Art so viel angemessenern: »Hier sind zwanzig Mark, und haben Sie die Güte, sich meiner unter keiner Bedingung mehr zu erinnern!«

Lo hatte sich an den bereits gedeckten Tisch gesetzt, und ohne eine Ahnung des Kommenden studierte sie die Tiziansche Kopie. »Wie nur jemand darauf kommen kann, diese satte, kalte Frauenschönheit für die himmlische Liebe zu halten! Vermutlich weil sie angezogen ist. Zeitgemäße Prüderie! – Ja, ach, ihr Frauen!« summte sie leise.

»Ich habe dir etwas sehr Ernstes zu sagen, Lo!«

Es bedurfte nur eines Blickes auf das in steife Falten gelegte Gesicht ihrer Mutter, und sie wußte alles.

»Du hast ein Verhältnis mit dem Grafen Silowstrem?«

»Wer hat das gesagt?« fragte Lo langsam und ohne aufzusehen.

»Das ist gleichgültig!« Frau Klara war stehen geblieben. Um ihre Mundwinkel zuckte es. Es war eines von den seltenen Malen, wo ihre blassen Augen ein intensives Blau zeigten. »Ja oder nein?«

195 Lo zögerte einen kurzen Moment. Aber wieviel Lügen sich dieser allzeit gewandte Geist für den Fall schon ausgesonnen haben mochte – heute hatte er keine Lust zum Versteckenspielen. »Ja! Und wen kümmert das?« Sie warf den Salzlöffel, mit dem sie gespielt hatte, auf den Tisch und stand auf.

Die kurze Antwort war nicht nach der Mutter Geschmack, die wie jeder echte Inquisitor erst nach einem langen martervollen Verhör, nach allerlei fruchtlosen Versuchen, sich ihrer unerbittlichen Logik zu entwinden, nach leidenschaftlichen Ausbrüchen, Thränen, flehend emporgehobenen Händen ein reuiges Geständnis – als Mutter vielleicht nur ein gramgerissenes: »Du tötest mich, Mama!« wollte. Darum fand sie auch nicht den richtigen Ton. Freilich hart war es genug, was sie von Schande, Cynismus, einem in den Kot getretenen Namen sprach. ›Rede nur, rede!‹ dachte die hübsche Lo. Eine Philippika ließ sie kalt.

Sie fürchtete die Mutter – jenes warme, liebevolle Etwas, welches auch durch das härteste Wort hindurch zittert. Die Mutter wäre der Tochter über gewesen. Die moralisierende Frau war der hübschen Lo nicht gefährlich. Ruhig, die Augen auf einen schaukelnden Krystallbehang des Kronleuchters gerichtet und mechanisch die Schwingungen zählend, ließ sie getrost alles über sich ergehen, nicht um einen Schatten 196 blasser oder röter. »Das heißt, wenn sie eine gewisse Grenze überschreiten sollte!«

Das eigensinnige Schweigen reizte die Alte zum Aeußersten. »Dirne!«

Es war eine schwere, dunkle Blutwelle, die über Los blasses Kokottengesicht flutete. Und die Mutter schreckte doch einigermaßen vor dem seltsamen Gesichtsausdruck zurück, als Lo auf sie zutrat und, ihr Handgelenk umfassend, leise und heiser hervorkeuchte:

»Das sagst du mir? – Du – mir? Wir haben nie den Punkt berührt – und er sollte nie berührt werden! Aber wenn ihr, alt und geschlechtslos geworden, eure Vergangenheit vergeßt – wie vergeßt! – so muß man euch daran erinnern. Dirne – das warst du!«

Die Alte fuhr zusammen und wollte sich losreißen.

Lo hielt sie mit eisernem Griffe fest. »Weißt du, wie ich dich mit deinem ›großen Freunde‹ überraschte? Hier in diesem Zimmer, auf dem Stuhl da. Das Kind sah und sah zugleich nichts. Aber man müßte nicht mit Spreewasser getauft sein, um nicht gar bald zu begreifen. Eine solch aufdämmernde Wahrheit ist Gift. Und wo soll denn die Moral herkommen, wenn man sie da nicht findet, wo man sie vor allem suchen muß, bei der Mutter!« Sie gab das Handgelenk mit einer Art Verachtung frei.

Schweigen! Sie war von manchem Zeuge 197 gewesen, diese kostbare Einrichtung aus der großen Zeit, aber sie hatte nichts Charakteristischeres gesehen als diese beiden Frauen, Mutter und Tochter, wie sie, die Augen ineinandergebohrt, sich gegenüber standen. Sie waren sich sehr ähnlich in diesem Augenblicke. Derselbe harte Ausdruck der Augen, dieselbe glatte, unerbittliche Stirn; und merkwürdig! heute zum erstenmal lag bei der Tochter dieselbe herbe Falte tief eingegraben um den Mund. Doch die Mutter war alt geworden und resignierter – und wenn man viele Hoffnungen begraben, begräbt man seine letzte nie freiwillig.

»Zu guter Letzt bin ich deine Mutter!«

Der Appell kam zu spät. »Ich denke, wir wären am Ende,« sagte Lo kühl.

»Wie du willst!«

*

Der »Salon« hatte sich währenddem prächtig unterhalten.

»Also im Zuchthaus? – Sein Vater natürlich!«

»Thatsache!«

»Und man darf kolportieren?«

»Ich könnte Ihnen den Zeitungsausschnitt zeigen. Der Sprößling eines unsrer ältesten Grafengeschlechter . . . gemeines Verbrechen . . . Schandfleck! Man denke, in der Kreuzzeitung!«

198 Armer Conte! Nur ein einziger wagte gegen den Strom der allgemeinen Entrüstung zu schwimmen. »Was kann der Sohn dafür? Ich halte im vollsten Umfange meine Ansicht aufrecht. Ein schriftstellerischer Charakterkopf – gesunde Ansichten – Herz . . .« Der »Salonheilige« ließ seinen Schützling nicht fallen.

»Und die andre Geschichte? Er benimmt sich sehr anständig gegen den todkranken Rinow.«

Der große Schellagg war in Gefahr, seine Popularität zu verlieren. Die Zigeuner hatten so selten Gelegenheit, in Moralsachen als Richter zu fungieren, daß sie sich ihr Opfer um keinen Preis entreißen lassen wollten.

»Warum solchen Leuten nicht der Adel aberkannt wird?«

»Halten Sie ihn für satisfaktionsfähig?«

»Sohn eines Zuchthäuslers! Interessante Hauptfigur in einem modernen Schauspiel! – Nur die Heldin . . .«

Die »Heldin« trat eben wieder ins Boudoir. Es war eine wunderbare, schauspielerische Leistung, daß sie bleiben, lächeln, glänzen konnte. »Ihr sollt keinen Triumph haben!« Und gerade, weil sie das »Schuldig« über den Grafen, das auch ihr galt, aus aller Augen blitzen sah, nahm sie mutig alles, was an Witz und Grazie in ihr war, zusammen. Wie äußerst geschickt verstand sie es, Jäger auf seine 199 Geschichte von den tausend von ihm sezierten Choleraleichen zu bringen. »Dir will ich deinen Schnaps noch recht gründlich versüßen!«

»Tausend!«

»Neunhundertneunundneunzig! Einen mußt du schon ablassen.«

»Nein, nicht einen!« Er war maßlos eitel und diese Geschichte sein Tollpunkt. »Als ob ich je eine Unwahrheit gesagt hätte!«

»Beileibe nicht!«

Der »Salon«, den diese durchsichtige Ironie amüsierte, und der außerdem dem Doktor eine kleine Abfuhr gönnte, wußte nicht recht, warum sie plötzlich absprang.

»Sie kennen doch den Doktor Rolt? – Interessanter Mensch . . .«

»Ob!« meinte der Possendichter. »Seine Redensart: ›Ich habe nur zwei Passionen, die Weiber und die Jagd; aber auf der Jagd findet man das edlere Wild‹, ist ja ganz vorzüglich.«

»Sie bringen mich da auf eine Geschichte! Also dieser Obereulenspiegel, der nie über Wien hinausgekommen und trotzdem im Kaukasus zwei Bären geschossen hat, gab einmal seine Spitzbergenfahrt zum besten. Es war so eine Art geistige Elite versammelt, drei Leutnants, ich . . . Die Jagdgeschichten waren im Gange, und Rolt, der bei seiner 200 Vorliebe für das Exotische den Hasen- und Hühnermord langweilig fand, setzte gleich einen tüchtigen Trumpf drauf: ›Ich hatte mich einer Expedition angeschlossen, und wir waren schon einige Wochen an der nebligen Küste Spitzbergens umhergekreuzt, als auf einmal ein ganzes Rudel Walfische blies. Wir in die Boote. Auf die stärkste Wassersäule los! Die Harpune wollte nicht sitzen. Wir sprengten also die Bestie mit Dynamit auseinander. Und was soll ich Ihnen sagen, meine Herrschaften, als wir ihn an der Längsseite festgelegt hatten, der Kerl wog – wog 75 000 Zentner.‹ Der eine Leutnant, dem die Kugelaugen vor Interesse beinahe aus dem Kopf rollten, wendete ein bescheidenes: ›Wirklich?‹ ein. Und nun hätten Sie Rolt sehen sollen, wie er väterlich dem Zweifler auf die Schulter klopfte: ›Fritzchen, weil ich Sie liebe, will ich 500 Zentner ablassen.‹ Der Tisch war sprachlos und glaubte, bis ich endlich losplatzte.«

»Famos!«

Jäger, der die Anspielung wohl verstand, starrte angelegentlich auf die Deckenleiste. ›Wenn sie nur aufhören wollte!‹ Aber er war in einer erbarmungslosen Hand.

»Sieh mal, der ist so generös gewesen – und du nicht einen einzigen!«

»Leutnants konnte er allerdings so etwas 201 aufbinden,« brummte Jäger. »Er war wohl nicht ganz nüchtern?«

»Ich denke doch! Uebrigens eine kleine Neigung für Stimulantien, ist das so verwerflich? Sonst warst du milder, teurer Onkel meiner Wahl.«

Der teure Onkel hatte allerdings alle Ursache, im Laufe des Gespräches seine hübsche Nichte zu verwünschen. Sie führte ihm so nett seine kleinen Alkoholorgien vor; dagegen zu machen war nichts. Denn ihre giftigen Pfeile, scheinbar unschuldig ins Blaue gerichtet wie die der Kinder, trafen nur zu gut, doch als er auch unangenehm wurde: »Worauf geht das nun eigentlich? Ich weiß gar nicht, welches Vergnügen es den Leuten macht, alles breitzutreten,« gab sie empfindlich zurück: »Als ob solche Geschichten nur eure Domäne wären! Aber du kannst mir vielleicht auf die Sprünge helfen. Wer war doch der Held der Genevergeschichte?«

»Ich weiß nichts!«

»Es war Souper bei Lerden, nur Herren, und der Ritt um die Tafel, der dem guten Gert zwanzig seiner kostbaren Eichenstühle kostete, bereits absolviert, als man sich zufällig eines Fahnenflüchtigen erinnerte, der im Nebenzimmer, die Hand an einem Delfter Kruge, entschlafen war. Man beschloß, ihn ins Bett zu bringen. ›Aber die Flasche kann er doch nicht mitnehmen!‹ Kuchen! Alle Bemühungen umsonst. Wie ein 202 fanatischer Wilder hielt er seinen Fetisch fest umklammert. Und es muß urkomisch ausgesehen haben, als er allem Zureden seine betrunkene Passivität und ein lallendes: ›Seid gütig, seid gütig!‹ entgegensetzte. Lerden nennt ja bekanntlich nie Namen; doch ich gäbe etwas darum, wenn ich wüßte, wer am andern Morgen, die Schnapsflasche am Herzen, in einem Gastbett gefunden wurde.«

»Ja, wer das wohl gewesen sein mag?« fragte ironisch der »Salon«. »Oberländer müßte es illustrieren!« Und dabei wußte jeder so genau, daß es aus Lerdens vielbunter Bekanntensuite eben nur ein einziger gewesen sein konnte.

›Schlucke nur, schlucke nur!‹ dachte die hübsche Lo. Dem alten Doktor Jäger, der über den vielen schlecht verzuckerten Pillen, die er andern verabreicht hatte, selbst beinahe das Schlucken verlernt hatte, wurde es recht schwer.

»Sie hat ihren Beruf verfehlt, sie wäre eine vorzügliche Schauspielerin geworden!« urteilte Frau Klara mit ihrer durch nichts zu trübenden Objektivität.

Wer hätte auch ahnen können, daß unter dieser lächelnden Maske ganz etwas andres steckte! Selbst den feinsten Spürnasen des »Salons« kam es nicht in den Sinn, daß sich da erst vor Minuten eines jener echt modernen Schauspiele abgespielt hatte, die ohne Pathos, ohne Kothurn in ihrer grellen 203 Schlußdissonanz den bittern Kern der Wahrheit so unverhüllt, so cynisch offen darbieten, wie das moderne Leben seine Wahrheiten überhaupt. Die hübsche Lo täuschte alle, sich selbst nicht. »Das Tafeltuch ist zerschnitten!« Daß sie blieb, war nur ein Zugeständnis an die Konvenienz. Man wäscht seine schmutzige Wäsche nicht vor der Oeffentlichkeit. Lo hatte keine Spur von Romantik. Darum fiel es ihr auch nicht im Traume ein, Verzeihung zu suchen. Palliativmittel sind für Schwächlinge. Es giebt eben Dinge, die man weder vergeben noch vergessen kann!

»Besser, daß es so und schnell gekommen ist. Einmal mußte es ja doch . . .« Das waren Phrasen. Träumerisch schlenderte sie nach dem Souper noch einmal durch alle Zimmer. Man reißt sich doch immer schwer los von seiner Vergangenheit. Was birgt die Zukunft? Und es kam eine ihr ganz unverständliche Schwäche über sie, so daß sie liebkosend über das Bild ihres Vaters strich, den sie kaum gekannt hatte. Sie war allein, wollte allein sein. Während durch die angelehnten Thüren die Stichworte des Disputs, das Lachen, das Gläserklirren sich hindurchdrängten, hatte sie mit dem »großen Freunde« eine Art Abrechnung.

Aus seinem goldnen Rahmen schaute er auf sie herab ganz wie ein Lebendiger, schien ihr ironisch zuzublinzeln. »Siehst du, Kleine, das ist eben das 204 Hübsche an unsrer wahren Freiheit, unsrer wahren Moral, daß sie thatsächlich nirgends vorhanden ist, nicht einmal der Schatten. Und rege dich nur ja nicht auf über die späte, aber eklatante Rache, welche die Philistermoral durch die Tochter an der Mutter genommen hat. Du bist eine Linker und wirst das verwinden. Der Teufel holt uns alle, dich auch. Und das ist so gemütvoll von dem guten, alten Teufel, daß er uns ganz sicher nicht vergißt!«

»Schauspieler! das alles verdanken wir dir!« sagte sie ingrimmig. Sie ist so lästig, so unnötig, die Sentimentalität, einem fait accompli gegenüber, daß Lo zwischen ihren frischen Lippen ganz leise darauf pfiff. Die praktischen Gedanken kamen doch nicht. Und anstatt der erbitterten Kritik, welche man im »Salon« an einer Silowstremschen Novelle übte, zu begegnen, graziös und scharf zugleich, wie sie das so gut konnte, blätterte sie in den vergilbten Noten und den alten Photographiealbums, worin Frauen so viel von ihrer Jugend und ihren Hoffnungen begraben haben. Dann horchte sie an der Schlafstubenthür, wo man die Schwiegertochter untergebracht hatte. »Das Bäckermädchen glaubt in einer schlechten Assiette zu sein, arm, kühl behandelt . . . Wenn sie wüßte, wie es unter dem seidenen Korsett hier bestellt ist!« Und auf einmal fühlte sie es wie einen brennenden Stich, dem ein unsinniger 205 Wunsch folgte. »Wenn ich nun hinginge: Mama, vergessen wir!«

Das that die hübsche Lo nun freilich nicht. Aber sie fühlte sich unfähig, noch einmal mit diesen rasselosen Salongeschöpfen Blicke oder Worte zu wechseln, und dieser falsche Händedruck mit der Mutter – nein! Sie empfahl sich auf französisch. Als sie in die Potsdamer Straße gekommen war und das zwischen den glänzenden Laternenreihen wogende Nachtleben erfrischend auf dieses Weltstadtkind eindrang, faßte sie wieder Mut. Nach einem großen Spaziergang kehrte sie nach Haus zurück. Die Fenster waren nicht mehr erleuchtet. Als sie durch den dunkeln Korridor schlüpfte und die Thür nach dem Berliner Zimmer öffnete, stieß sie ein leises »Gott sei Dank!« hervor. »Ich mag ihn heute nicht mehr sehen!« Immer noch vorsichtig, als wenn sie etwas Verbotenes thäte, bewegte sie sich tastend zwischen den Stühlen vorwärts, um dann auf dem Fenstertritt abgespannt in einen weichen Sessel zu sinken. Zwischen den bunten Vorsatzfenstern hindurch konnte man auf den Hof sehen. Winzig, trostlos mit seinen lichtlosen Fenstern und dunkeln Portalen, wie der eines Gefängnisses, lag er vor ihr. Ein blasser Mondstrahl hatte sich zwischen den grauen, hohen Hintergebäuden hindurchgestohlen und lag unbeweglich in einer Ecke. Ein deprimierender Anblick! Und 206 die hübsche Lo, deren Gleichmut die Ereignisse der letzten Stunden doch etwas gestört hatten, fragte sich jetzt argwöhnisch: »Warum ist Hans heute nicht gekommen? Er hatte doch versprochen . . . Wenn auch er sich losrisse . . . Da bleibt einem ja nur . . .«

Gleichsam als Antwort hörte sie vom Erkerzimmer schwer röchelnde Atemzüge, zuweilen von unverständlichen Lauten unterbrochen. Rinow war auf der Chaiselongue eingeschlummert und sprach im Schlaf.

»Also der bleibt einem!« Sie schlich aus dem Zimmer. 207

 


 


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