Johannes Richard zur Megede
Unter Zigeunern
Johannes Richard zur Megede

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Zehntes Kapitel.

Der Professor war verreist – eine Studienreise. Sie war froh, ihn nicht begleiten zu müssen. Es war eine Entfremdung zwischen ihnen eingetreten; für andre unbemerkbar, in Wirklichkeit viel tiefer als mancher offene, ehrliche Zwist. Wie es gekommen? – Vielleicht jene Gewitternacht, vielleicht Berlin, vielleicht weil sie erwacht war. Niemand kennt seine Gefühle ganz. Als sie vor vier Jahren, eine Achtzehnjährige – eine echte Kleinstädterin, ohne Vergangenheit, prüde und hoch geehrt durch die Wahl des bekannten Mannes – in die Ehe trat, hatte sie den ehrlichen Vorsatz gehabt, eine gute Frau zu sein. Sie war es fraglos gewesen. Und keiner aus der großen Zahl junger und alter Verehrer, die in der süddeutschen Universitätsstadt so gut wie in Berlin sich um sie gedrängt hatten, hatte irgend etwas erreicht. Rein und keusch war sie durchs Leben gegangen – in ihrer Art glücklich, um auf 179 einmal zu merken, daß sie es nicht war. »Sie hat kein Herz!« entschied die Mehrheit, und sie glaubte es selbst.

Es war einer jener wunderbar klaren Herbsttage, wo das rote Sonnengold uns über die kahlen Felder und die welken Blätter hinwegtäuscht. Am Morgen war der Professor auf Monate abgedampft, und sie vermißte ihn nicht. Sie verbrachte den Nachmittag in ihrem kleinen Garten; zwischen den zierlichen Blättern des Spargelkrautes glänzten rote Beeren, die Astern blühten, und von den Gebüschen des Lerdenschen Parkes hatte der Wind eine bunte Blättersammlung herübergetragen. In der kleinen Laube, den Arm auf den Gartentisch gestützt, saß sie und zerpflückte träumend eine rote Blume. An wen dachte sie?

Der Graf war diesen Nachmittag in der Villa gewesen. Sie hatte ihn mit dem Groom lange parlamentieren gehört. Dann war das Jagdpferd herausgeführt worden, ein hoher, grobknochiger Dunkelfuchs, der den gräflichen Reiter schon vor dem Stall mit seinen Katzensprüngen bügellos machte.

»Reiten Sie ihn nicht, Herr Graf!« riet der Groom. »Er ist ein Durchgänger und sehr hart.«

Aber er war doch geritten, und sie hatte jenen stumpfen, gleichgültigen Zug auf seinem Gesichte zu bemerken geglaubt, der sie schon an jenem Abend 180 frappiert hatte. Was hatte er? Irgend einen Schicksalsschlag, der ihm die Freude am Dasein gründlich vergällt hatte? Sie erinnerte sich auch einiger dunkeln Andeutungen ihres Gemahls: Es sind da schmutzige Geschichten passiert oder werden noch passieren. Hohe Zeit, daß man mit solchen Glücksrittern scharf ins Gericht geht! Von so tadellosem Herkommen ist er übrigens auch nicht. Ja, ja, Berlin ist ein Lieblingsplatz der Catilinarier.

Doch ihr reines Gefühl empörte sich gegen diese vagen Anschuldigungen. Wer weiß, was man mir nachsagt? Gleichzeitig machte sie sich auch Vorwürfe, daß sie gar nicht an den Professor dachte. »Er ist jetzt schon in München!« Und wieder flogen ihre Gedanken zu dem andern hinüber. »Vielleicht ist doch etwas dran an den Gerüchten? Wie könnten auch sonst diese beiden zusammengekommen sein?« Ihr erschien dieser Lerden immer wie ein Mephisto. Durch die dunkeln Fichtenwipfel blinkten traulich die bunten Fenster des Patrizierhauses. Er sah vornehm aus, dieser weite Park mit seinen buntblätterigen Gebüschgruppen und den breiten Kieswegen um die großen Rasenplätze. Eine andre hätte es vielleicht reizen können, die Geliebte des blasierten Besitzers all der Herrlichkeiten zu sein. Sie war nicht über das Hassen herausgekommen.

Die Sonne sank. Im goldigen Braun erglänzten 181 die Fichtenstämme. Dann wehte ein kühler Wind von der Ebene her. »Vielleicht ist er gestürzt?« Da erklang schneller Hufschlag auf der Straße. Es war der Graf. Und nach dem schaumbedeckten Bug des Hunters mußte es ein wilder Ritt gewesen sein. Als sie ins Haus gehen wollte, stieg er gerade vom Pferde. Er grüßte höflich und rief etwas herüber, was sie nicht verstand. Nach wenigen Augenblicken stand er vor ihr.

»Ich war etwas sonderbar neulich, gnädige Frau. Verzeihen Sie.«

»Wollen Sie nicht hereinkommen?«

»Im dem Aufzuge?« fragte er, auf seinen bestaubten Reitanzug blickend. »Uebrigens wenn es Ihnen recht ist, gnädige Frau, wandern wir noch etwas hier herum. Ich liebe diese Herbstabende.«

Sie machte eine zustimmende Kopfbewegung.

»Aber neutrales Gebiet, Gnädigste . . . Mein Freund Lerden wird nicht böse sein, wenn wir seinen Park benutzen.«

»Wie Sie wollen.« Der Villengarten war für eine Promenade doch zu winzig. »Herr Doktor Lerden kommt doch nicht wieder zurück.«

»Kaum,« sagte er seufzend. »Das ist so einer von den Glücklichen, hat nie Verhältnisse gehabt, die ihn beherrschten. Die Frauen haben ihm zu Füßen gelegen; er hat sie weggestoßen. Und wenn sich 182 etwas gegen ihn aufgebäumt hat, so schmal sein Fuß ist, er hat es erbarmungslos zertreten. Und dennoch – wir haben schon darüber gesprochen – ein unheilbarer Pessimist. Es giebt eben keinen Zufriedenen.«

Sie waren bis zum Kiosk gekommen.

»Wissen Sie, gnädige Frau, wie wir vor Monaten auch hier standen? Andre Zeiten!«

»Sie sind ein toller Reiter, Herr Graf,« sagte sie ablenkend.

»Wieso? – Sie haben wohl die Kapriolen von dem Engländer vorhin mitangesehen? Imponierend war der Anblick nicht gerade.«

»Aber es war doch ein Wagstück!«

»Keineswegs. Was riskiert man denn dabei? Höchstens das Genick. Und meinen Sie, daran wäre mir so viel gelegen?« Er nahm die Jockeymütze ab und ließ sich vom Winde die noch schweißbedeckte Stirn kühlen. »Sie sieht jetzt anders aus, die Ebene!« Milchweißer Nebel stieg über den Feldern auf, hüllte die Bäume und Büsche ein. Am Horizont bezeichnete blutroter Schein die Stelle, wo die Sonne untergegangen war. Und wie eine dunkle Wand hob sich daneben der Grunewald gegen den kalten Herbsthimmel ab. Berlin verlor sich in einem Dunstmeer. Vereinzelte Lichter blitzten auf. Am Kiosk wirbelte der Abendwind einen Haufen welker Blätter im Kreise umher.

183 »So verwelken alle unsre Hoffnungen!« sagte er düster.

»Wir haben die Rollen getauscht, Herr Graf. Damals waren Sie der Optimist.«

»Rollen getauscht?« Er sah sie nicht an. »Ich hoffe nicht, daß Sie jemals meine Rolle gespielt haben.«

»Eine schlechte werden Sie nie spielen.«

»Sie kennen das Leben nicht, gnädige Frau. Aber merken Sie sich eins. Zwischen einer schlechten und einer unglücklichen Rolle giebt es in Wahrheit gar keinen Unterschied. Und wenn Sie jemals von einem hören sollten – nehmen Sie vielleicht mich –, der irgend eine unerhörte Gemeinheit begangen . . .«

»Das werden Sie nie thun.«

»Danke für das Vertrauen.« Und er fuhr fort: »Eine Gemeinheit, die Sie erröten macht, die Ihnen ein unbedingtes und ehrliches ›Pfui‹ abzwingt, so sage ich Ihnen jetzt: Es war der Leichtsinn eines kurzen Momentes, weiter nichts. Das Schicksal schlug seine Wucherzinsen dazu, und es wurde eine wirkliche Schurkenthat.«

»Es wird jetzt kühl.« Sie zog fröstelnd das Tuch um die Schultern. Sie fühlte sich ungemütlich. Was sollte sie auf eine so krasse Bestätigung der dunkeln Anschuldigungen antworten? – »Kommen Sie noch einen Augenblick ins Haus?«

184 »Einen Augenblick.«

Der Graf blieb lange; verwundert, wie wenig die Kleinstädterin das Unpassende dieser improvisierten Visite empfand.

»Ich muß mich jetzt aber wirklich verabschieden, Gnädigste.«

»Warum denn?«

»Nun,« er zuckte verlegen die Achseln und meinte leichthin: »weil mir Ihr guter Ruf etwas wert ist.«

Doch sie hatte offenbar sehr richtige Begriffe über Frauenwürde. »Ich habe, Gott sei Dank, über nichts zu erröten. Und wenn mein guter Ruf nicht einmal den Nachmittagsbesuch eines Herrn verträgt, dann muß ich eben auch ohne ihn existieren. Also bleiben Sie ruhig zum Abendbrot, Herr Graf.«

Er machte noch einige gewundene Redensarten. »Die Gesellschaft ist unerbittlich. Man muß sich fügen oder wird zertreten.« Aber er blieb recht gern.

»Uebrigens habe ich ja eine Anstandsdame!« Und sie streichelte ihrem kleinen Stieftöchterchen die roten Backen. »Nicht wahr, du bist ein ganz guter Schutz, Trude?« Die Kleine, welche höchst bedächtig den Lehnstuhl des Grafen umkreist hatte, meinte mit einem Schütteln ihrer braunen Mähne und einem verschmitzten Kinderlächeln: »Der Onkel Graf gefällt mir eigentlich ebenso gut wie der Vater.« Und hinter die Mutter sich verkriechend, fügte sie 185 verschämt hinzu: »Er ist doch eigentlich noch hübscher!« – »Sie ist eine kleine Schmeichlerin.«

»Scheint so. – Aber ich acceptiere diese Anstandsdame.«

Er fühlte sich hier sehr wohl, wie immer, wenn er fern von der hübschen Lo war. Und in diesem kleinen, altmodisch eingerichteten Verandazimmer mit dem bedächtigen Ticktack der Stutzuhr und dem verglimmenden Dämmerlicht auf dem dunkeln Mahagoni der steiflehnigen Möbel überkam ihn eine beschaulich milde Abendstimmung. Sie wollte die Lampe anzünden.

»Nein, nein, gnädige Frau. Es träumt sich so schön.«

Sie sind gefährlich, solche Träumereien. Obgleich die gräflichen Gedanken gar lustig umherirrten, kehrten sie doch mit großer Regelmäßigkeit zu jenem feingerissenen Frauenkopfe zurück, der in dem mählich herabsinkenden Dunkel poetisch genug aussah. Und diese leichtbeschwingte Phantasie wob ein buntes Traumband zwischen ihm und ihr. Die Vergangenheit war ausgelöscht und was da golden und rosig vom Fenster her zu ihm herüberschimmerte – seine Zukunft. Es war eine wonnige Stille.

»Du hast ja so glänzende Augen,« sagte das Kind plötzlich.

Als die Professorin mit einem: »Es ist allerdings 186 höchste Zeit, daß ich an das Abendbrot denke,« aufstand und die Lampe anzündete, kam ihm sofort der unangenehme Gedanke: »Was wird Lo denken, wenn ich nicht komme?«

Die hübsche Lo, die höchst monoton ihrem Fritz ein Kapitel aus Roseggers »Dorfsünden« vorlas und dabei über die Gebühr oft nach der Rokoko-Uhr sah, ahnte schwerlich, daß ihr verdrießlicher Page in der Ellersschen Sommerwohnung all seine Fröhlichkeit, wenigstens für diesen Abend, wiedergefunden hatte.

Das Souper war frugal, aber äußerst lustig. Das Hübscheste kam freilich erst nachher, nachdem die Anstandsdame zu Bett geschickt worden war und der Onkel Graf sein Versprechen, das nächste Mal Bonbons mitzubringen, feierlich beschworen hatte. Frau Marie kramte ihre italienischen Reise-Erinnerungen aus; Mappen aus allen Schränken wurden hervorgeholt.

»Muß schön sein; werde aber wohl nie hinkommen.«

Ach, der gute Graf hatte gar keinen andern Wunsch, als möglichst lange bei ihr bleiben zu dürfen. Sie saßen auf dem harten Sofa, Kopf an Kopf, auf die Photographien gebeugt. Und während sie in liebenswürdiger Begeisterung die Reise noch einmal machte und mit dem hübschen Finger auf dieses oder jenes Bild tippte: »Sehen Sie, das ist schön, Ostia mit dem Kastell und der blühenden Campagna, dahinter das Meer – aber der Himmel fehlt, der 187 lachende italienische Himmel« – sagte er sich. »Was für ein Glückspilz dieser Professor doch ist! Und sie liebt ihn wirklich?«

»Hier ist Pompeji – die Gräberstraße.«

›Halt,‹ dachte er und fügte lauernd laut hinzu: »Sie waren wohl mit Lerden zugleich da?«

Sie wurde rot. »Allerdings. Hat er Ihnen davon erzählt?«

Und weil er mehr zu wissen wünschte, heuchelte er ein: »Ja, ja – beiläufig. Er war sehr lange da. Aber er reiste wohl früher ab wie Sie?«

Sie erspähte den Schatten des Argwohns aus seinem Gesichte. »Er ist ein Heuchler.«

»Aber, gnädige Frau, das ist doch etwas stark. Sagen wir Weltmann.«

»Auch das. Wenn Sie nämlich darunter einen verlebten Menschen verstehen, der acht Tage eine nicht gewöhnliche Liebenswürdigkeit aufbietet, um dann eine Erklärung zu wagen . . .« Sie zauderte, und ein starker Unwille war auf ihrem Gesicht ausgeprägt. »Ich sehe doch nicht aus wie eine Statistin – doch gerade so kam's heraus. Er hat auch seine Antwort auf der Stelle bekommen.«

»Ihm schien die Sünde so ungeheuerlich nicht. Er ist eben auch nur Mensch und . . .«

Sie setzte sich auf dem Sofa zurück und machte eine abwehrende Handbewegung. »Sie haben wohl 188 von ihm gelernt? O, er ist um Phrasen und Ausflüchte nie verlegen.«

»Keineswegs, gnädige Frau. Doch, soll ich nicht einen Mann entschuldigen, der mir immer als der vornehmste der Sterblichen erschienen ist? Uebrigens ist er diskret und berührt solche Punkte niemals.«

»Wer's glaubt? Wenn Sie mir einen Gefallen thun wollen, lassen wir diesen Menschen. Die Erinnerung ist mir zu widerlich.«

Der Graf sah nach der Uhr. »Neun, das ist ja unglaublich.« Als er ihr ehrfurchtsvoll die Hand küßte, verfehlte er nicht, noch einmal auf das Thema zurückzukommen, »das ist natürlich unser Geheimnis, gnädige Frau.«

»Es war eine Thorheit, überhaupt davon zu sprechen.«

»Jedenfalls seien Sie der Ueberzeugung, gnädige Frau: mich kann von der guten Meinung über Sie nichts abbringen.« 189

 


 


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