Johannes Richard zur Megede
Unter Zigeunern
Johannes Richard zur Megede

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Fünfzehntes Kapitel.

Hinter Charlottenburg hebt sich die märkische Ebene sanft zu den Höhen von Westend. Hier auf dem klassischen Rasen der Hindernisbahn sollte der letzte Rennkampf des Jahres ausgefochten werden. Es war ein dem Winter noch gerade so abgestohlener Novembertag, ohne Licht, ohne Farbe, alles Grau in Grau gehalten – von den schwer herniederhängenden Wolken, die träge über die entblätterten todesstarren Bäume des Tiergartens hin gen Osten zogen, bis zu den frostigen Farbentönen der Stadthäuser oder Villen, welche die Charlottenburger Chaussee entlang beinahe bis zur Höhe der Rennbahn sich ziehen. Zuweilen lugte die Sonne durch den grauen Schleier; eine bleiche, verdrießliche Herbstsonne, deren Strahlen hier ganz kraftlos über die schlanken Glieder einer Gartennymphe dahinglitten, dort in das blättergefüllte Bassin eines abgestellten Springbrunnens krochen und dann, gespenstisch rasch die mißfarbigen 257 Rasenplätze.nit den kahlen Gebüschgruppen streifend, von dem trübseligen Grau der Gegend wieder ausgesogen wurden.

Der Graf und Lerden, die eben mit dem überfüllten Zuge vom Bahnhof Westend gekommen waren, bahnten sich mühsam den Weg durch das jahrmarktsbunte Gewimmel, welches diese letzte Strecke der hier etwas rascher ansteigenden Straße erfüllte.

»Die haben alle den Spielteufel im Leibe,« sagte Lerden wegwerfend. »Wenn ich nicht einige wichtige Unterredungen hätte« – mit wem, hütete er sich zu sagen –, »ich würde den Teufel thun, mich unter dieses Spitzbubenpack zu begeben.«

»Ich dachte, das Rennen zöge,« wendete der Graf ein.

»Bah! Diese Zigeuner! Um Weiber und Pferde taxieren zu können, muß man ein Vermögen mit ihnen verjuxt haben. Die da haben keine Ahnung. Die Favoriten des Tipp, ein paar von den Trainern auf dem Sattelplatz aufgeschnappte Phrasen und die allerdings wertvolle Wissenschaft, daß nirgends mehr gemogelt wird als bei den Rennen – wenn Sie das Pferdeverständnis nennen wollen? Der Totalisator und die Bookmaker . . . da haben Sie Altar und Heilige! Woher kommt der Millionenumsatz hier? Und dann die heimlichen, unkontrollierbaren Geschäfte bei den Bookmakern . . . Schuft gegen Schuft! 258 Ich sage Ihnen, es giebt Leute, welche die zehn Mark Entree für den Totalisator durchaus nicht scheuen, aber das Unerlaubte, Schmutzige hat nun einmal solche magische Anziehungskraft, daß sie lieber mit diesen konfiscierten Gaunergesichtern verhandeln, auf die Gefahr hin, keinen Groschen ihres Einsatzes wiederzusehen.« Lerden warf dabei den ihm eigentümlichen, halb verächtlichen Blick auf die Menschen seiner Umgebung.

›Wie hart er immer urteilt!‹ dachte der Graf.

Es war doch nur das gewöhnliche Sonntagvormittagspublikum der Linden – ein wenig distinguierter vielleicht, namentlich auf dem breiten Fahrwege, wo die Größen des Turf ihre Traber oder Juckergespanne elegant durch die sich stauende Menge von Droschken und mühsam die Anhöhe emporkeuchenden vollgepfropften Pferdebahnen lenkten, hie und da durch das respektvolle: »Sehen Sie, Kramsta – der Ulan dort ist Heyden-Linden!« geehrt. Daneben die schweren vierspännigen Verdeckwagen der Gardekavallerie-Regimenter oder das geschlossene Coupé einer Fürstlichkeit mit dem hochmütigen, steifen Kutscher und Lakaien in ihren je nach den Farben des Wappenschildes hellen oder dunkeln Livreeröcken; zuweilen ein vornehmes Frauengesicht im Jagdwagen, durch die schwierige Passage gezwungen, minutenlang beinahe Kopf an Kopf neben 259 einer berühmten Demimondedame herzufahren, die ihr an edlem Profil und graziös in dem Fond der Droschke zurückgelegtem Körper nichts nachgab, aber durch die eigentümliche Stellung des unter dem Spitzenunterrock vorgestreckten Lackschuhes und durch die Wolke von Wohlgerüchen die Dirne so sicher erkennen ließ, trotz der nicht gemachten, aristokratischen Blasiertheit, mit der sie die leicht bläulichen Lider der wunderbar geschnittenen Dunkelaugen auf die matte große Perle ihres Renaissance-Armbandes senkte. Und auf dem Bürgersteig? Die steifen Elegants der Provinz mit Rennglas und Monocle, Linienoffiziere, die noch im Gehen die zahlreichen Nennungen in der Sportzeitung studierten. Das übrige: Berliner, die richtige Sorte, welche in die Menschenansammlungen jedweder Art vernarrt sind und in diesem Falle von ungleich größerem Interesse für die auffallenden Renntoiletten und den Uniformkragen beseelt waren als für die Vollblutpferde der berühmten Ställe.

»Wo sind die Zigeuner eigentlich?« fragte der Graf kleinlaut.

»Da . . . dort!« gab Lerden mit einer ungeduldigen Handbewegung zurück. »Freilich, wenn Sie nicht sehen wollen!«

O, so unrecht hatte der Millionär nicht. Es waren merkwürdige Gestalten, die hie und da aus 260 dem Strom auftauchten, grauwelke Nachtgesichter aus den Cafés und verrufenen Tanzlokalen, denen das Glücksrittertum niedrigster Art überall herausguckte; bei den schäbig-schmutzigen mit den brutalen Zuhälterphysiognomien kaum mehr als bei den allzu auffallend gekleideten Industrierittern, den konsequentesten Habitués der Rennplätze und Spielhöllen. Ihre scharfen Raubvogelvisagen, spitzbübisch international, waren jedenfalls viel fesselnder als die bronzefarbigen der Trainer und Stallknechte mit dem aufdringlichen Kauderwelsch der Roßtäuscher und jener echt britischen Unverschämtheit, mit der sie sich durch die Fußgänger stoßend und schimpfend schoben. Die Verständigen wichen aus, höchstens eine der geputzten Dirnen nahm das krumm, ein kleiner Streit entstand, und es war sehr erbaulich, welche Flut der gemeinsten Worte plötzlich aus dem blutrot gefärbten, brutal vorgeschobenen Munde einer alten Erfahrenen oder dem allerliebsten, rosigen Mäulchen der Anfängerin hervorstürzte – bei beiden die gleiche, aufgerührte Kloake.

Lerden lächelte – ein gekniffenes Lächeln. »Die da wollen auch ihren Teil zur Hebung der Landespferdezucht beitragen.«

Der Graf dachte an etwas andres. »Es ist heute gerade ein Jahr, daß wir uns kennen lernten. Wissen Sie, Lerden, damals im ›Salon‹? Mir kommt 261 es vor, als wenn ein Menschenalter dazwischen läge.« Das letzte sprach er eigentlich nur für sich, als Reflexion über das hoffnungsvolle »Einst« und das herbe »Jetzt«.

»Wirklich? Daten sind meine schwache Seite; schon auf der Schule . . .«

In diesem kurzen Dialog lag alles. Es war aus mit der Freundschaft. Der Graf konnte sich das nicht verhehlen. Und doch tippte er immer wieder an. ›Vielleicht, daß ich doch eine Herzenssaite treffe. Er kann, er darf mich nicht verlassen, wo mich alles verläßt. Wenn auch diese Hoffnung tröge . . .‹ Sie trog. Denn für Lerden war es eben nur eine Frage der Zeit, wann am besten die endgültige Abrechnung zu halten sei. Die Wette mit dem Dragoneroffizier war nicht das wichtigste Geschäft, welches er auf der Rennbahn abzumachen hatte.

Am Eingang zum Rennplatz empfingen sie die wie wahnsinnig kreischenden Verkäufer der Sportszeitungen. Dazu leierten die Blumenmädchen ihr geschäftsmäßig-schrilles: »Veilchen, Veilchen, mein Herr!«

»Die Blumen der Unschuld von diesen alten Weibern feilgeboten, ist das nicht hübsch? – Ich gedenke mich vorläufig hier etwas zu verkrümeln . . .«

»Das möchten Sie wohl!« tönte es lachend aus 262 einem Kreise von Kavalleristen, die ganz in der Nähe standen und schon lange Lerden beobachtet hatten. »Wir halten den Ausreißer und lassen ihn nicht. Fahnenflucht . . . zweite Klasse des Soldatenstandes . . . Aber ernstlich, wo kommen Sie her, Herr Doktor?«

»Ziemlich geraden Weges von Paris.«

»Haben Sie da drüben nicht wieder Lust? Ich möchte lieber heute wie morgen reiten, schon der Weiber und der Weine wegen.«

Lerden unterbrach trocken den Redseligen – es war der Kürassierrittmeister v. Fabrest, ein offenes, liebenswürdiges Gesicht. – »Es ist dort nicht anders wie hier. Die Hosen werden immer weiter und der Horizont immer enger.«

»Hören Sie, das geht auf uns!« meinte der Rittmeister, auf einen Regimentskameraden deutend, der mit seinem modischen Riesenpallasch, den weiten Beinkleidern mit der eingeplätteten Falte und dem engbrüstigen Waffenrock als ein recht unglückseliges Modeopfer erschien – nachlässig die Sporen zusammenschlagend, näselte der darauf ein arrogantes: »Hatte noch nicht den Vorzug . . .«

»Leutnant v. Sandow – Herr Doktor Lerden,« stellte der Rittmeister vor. »Der Schnabel ist Ihnen währenddem nicht stumpfer geworden. Doch wir freuen uns darum nicht weniger, den wackeren 263 Kumpan mancher durchzechten Nacht hier wieder begrüßen zu dürfen.«

Herr v. Sandow machte eine sauersüße Miene zu der außerordentlich herzlichen Begrüßung des bürgerlichen Zivilisten. Sein Eskadronchef war doch sonst kein übermäßiger Liberaler . . . Dem Grafen fiel vor allem jene selbstverständliche Sicherheit auf, mit der Lerden sich unter den vornehmen Namen bewegte, jeder Zoll ein Aristokrat, während er, der Edelmann von ältestem Blute, nur geduldet erschien. Worin lag das Geheimnis dieser Lerdenschen Beliebtheit überhaupt? – In der geschmeidigen, schlanken Figur, dem feinen, durchgeistigten Profil, welches jetzt, wo der Dragonerleutnant, in seinen Arm gehängt, lebhaft auf ihn einsprach, mit dem blasierten Lächeln geradezu unangenehm aussah? Der gute Graf wußte noch nicht, daß auch hier sich der Zauber der Millionen bewährte, bei solchen Glücklichen jene lässige Grazie über alles, Bewegung, Miene, Rede, verbreitend, die wir so oft fälschlich als aus einem wunderbaren Gleichmaß der physischen und geistigen Kräfte geboren deuten.

»Aber ich sage Ihnen, Lerden,« hub der Dragonerleutnant zum wer weiß wie vielten Male an, »die ›Taraba‹ hat gar keine Chancen, als nach einem Galopp von zweitausend Metern schwer niederzubrechen. Ich darf anstandshalber nicht wetten.«

264 »Qui vivra verra!« entgegnete Lerden störrisch. »Nach dem ersten Hindernis die Proposition? Ich will die Stute wenigstens ansehen.«

Langsam schlenderte man durch das etwas aufgeregte Menschengewühl zwischen Restaurant und Totalisator. Das Wettfieber war jetzt über die meisten gekommen. Die Drehkreuze am Totalisatoreingang waren in unaufhörlicher, knarrender Bewegung. Gegenüber knallten bereits die Sektpfropfen. Eine gewisse nervöse Erregung sprach sich auch in den Gesichtern der Damen aus, denn eben wurden die Nummern des ersten Rennens aufgezogen. Am lebhaftesten war es auf dem Sattelplatz. In den schmalen Abteilungen der unansehnlichen Holzbaracke standen die Vollblutpferde. Nur Knochen und Sehne, wie Skelette mit den harten und unschönen Linien der hohen und gestreckten Körper, verriet sich doch auch für den Laien in den kleinen Köpfen und wild gegen die Holzwände schlagenden Hufen das edle, durch die wie Stränge aufgeschwollenen Adern der Brust und des Halses heiß pulsierende Blut. Die Jockeys und Stallknechte hatten Mühe, einzelnen, leidenschaftlich erregten Tieren, welche die nahe Entscheidung witterten, den Sattel aufzulegen oder die Vorderbeine zu bandagieren. Mit roher Hand rissen die Stalljungen an den Rennzäumen. »Steh, Bestie! – Was hat das Luder nur eigentlich?« Und dabei 265 schien es wie ein Wunder, daß niemand von den ausfeuernden und um sich beißenden Rossen verwundet wurde. An den Pfosten lehnte hie und da ein Besitzer – meist Offizier – und sah mit falscher Ruhe zu.

Die »Taraba«, zierlich gebaut, ein Lehmfuchs von erschrecklicher Magerkeit, die eigentliche Farbe der Vollblutpferde, stand ganz ruhig, den Kopf zwischen die Vorderhand gesenkt, da. Der Jockey, der mit pedantischer Langsamkeit sattelte, grüßte als echter Oesterreicher Lerden äußerst devot.

»Wollen Sie das Rennen machen?«

»Ich denke!« gab der Jockey zuversichtlich zurück. »Wenn die Lunge aushält, will ich im Handgalopp siegen. Sie hätten ihn nicht verkaufen sollen, gnädiger Herr!«

Lerden klopfte dem Tiere den Hals. »Kennst du mich noch, ›Taraba‹? Auf dir bin ich hier zum letztenmal in den Sattel gestiegen.«

Doch die Stute schnappte als Antwort nur heimtückisch nach Lerdens Arm.

»Du traust mir nicht, wie alte Weiber; ich dir desto mehr . . . Kommen Sie, meine Herren. Wir wollen ihr die Laune nicht verderben.«

Sie gingen. Der Graf lief so mit, in steter Angst, durch irgend eine Frage, eine Bemerkung häßliche Erinnerungen aufgerührt zu sehen. Aber die 266 Herren von der Reitgerte und vom Säbel kannten den Schriftsteller Silowstrem kaum. Und der Graf? Bei den Vorstellungen des immer wachsenden Schwarmes wurden so edle Namen gemurmelt, daß dieser bescheidene Zivilist gar nicht auffiel. Höchstens, daß ihn hie und da einer »Herr Kamerad« titulierte, war ihm lästig. Vor den Tribünen löste man sich in einzelne Gruppen auf. Lebhaft wurden die Chancen der Favoritpferde erwogen. Der Graf war bald allein, mit der Empfindung einer ungesunden Herbstschwüle und der Verlassenheit. Die letztere war ja seine treue Begleiterin gewesen seit Monaten. Darum berührte ihn auch kaum diese eigentümliche Atmosphäre der Rennbahn, diese Stallluft, vermischt mit dem Parfüm des Salons und dem Moschusgeruch der Demimonde. Das Provisorische, Jahrmarktsmäßige herrschte überall vor. Die Holztribünen, die schmucklosen Logen mit ihrem merkwürdigen Inhalt – hier die Frau des belgischen Gesandten neben der berühmten Spanierin aus dem Wintergarten mit ihrem Venuskörper und ihren Diamanten; dahinter das weibische Gesicht eines Attachés, der Schnurrbart des preußischen Leutnants. Matte Phrasen wurden hergeleiert. Die Neulinge unter den wirklichen Damen fühlten sich geniert durch die etwas zweideutige Umgebung. Und dann dieser gewisse glasige Blick, den die Herren, ohne die Unterhaltung abzubrechen, auf 267 das kecke Profil einer verzweifelten kleinen Abenteurerin hefteten, die Art, wie sie der feingefesselten Soubrette nachsahen, die eben die Stufen wieder hinabstieg. Es war eine schlecht maskierte Lüsternheit. Ob wohl einige Frauen, die, in ihre Mäntel gehüllt, steif und kalt dasaßen, ahnten, daß die kostbaren Saphire im Ohre dieser gespreizten, häßlichen Ballerina aus ihrer eignen Mitgift bezahlt waren – oder daß die kleine Schauspielerin im violetten Sammetkostüm, die so allerliebst kandierte Veilchen aus der goldenen Bonbonniere naschte, die geheime Ursache des alltäglichen Gezeters des Gemahls über das Haushaltungsgeld war? Und gar manches der geputzten Modeäffchen mochte achselzuckend denken: »Nur nicht so stolz, chère comtesse! Wenn du nur einmal eine kleine Liebesscene in einem kleinen Boudoir mitansehen könntest. Du bist ja deinem Herrn Gemahl so über – ach, so über! Er mir allerdings auch. Und wenn es mir einfällt, betrüge ich ihn noch heute mit dem hübschen Husarenfähnrich da.«

»Donnerwetter, das wäre so ein Flügelmann für die Leibcompagnie!«

»Auch für Jahrmärkte nicht übel.«

Der Graf stand nach der andern Seite gewandt. Dennoch wußte er sofort, daß nur »sie« es sein konnte. Die hübsche Lo schlenderte scheinbar zwecklos 268 die Rasenrabatten vor den Tribünen entlang, den Blick auf die mächtige, leicht gewellte Fläche der Hindernisbahn gerichtet. Ihr Mann konnte zur Stunde sterben, darum ging sie doch zum Rennen. Sie verstand mit viel Gemütsruhe zu sündigen.

»Gert!«

»Lo?«

Es lag so viel Ueberraschung in beider Ton, daß der Graf den blitzschnell aufschießenden Gedanken, es handle sich um eine abgekartete Sache, ebenso schnell wieder fallen ließ.

»Da ist auch Graf Silowstrem, Lo.«

»Ah dort! – Der ›Salon‹ findet sich doch immer wieder zusammen, Herr Graf,« sagte sie, auf ihn zutretend.

»Es scheint so, gnädige Frau.« Ihm war es recht, daß die umherstehenden Offiziere das vertrauliche »Du« unmöglich machten. Sie wandte sich auch gleich wieder an Lerden, der ihr einige Herren vorstellte.

»Ein besonders interessantes Programm, Gert?«

»Wie man's nimmt. Sehr zahlreiche Nennungen, die allbekannten Reiter. Ich bin vorläufig beim nächsten Jockeyreiten engagiert. Die ›Taraba‹, früher mein Pferd, wird heute den kühn gewordenen Nachwuchs niedergaloppieren.«

»Oho!« warf der Dragoner ein. »Auf dem 269 Gaul stehen keine hundert Mark. Wetten Sie nicht auf ihn, gnädige Frau!«

»Um so besser für uns! Ich werde noch schnell zwei Tickets besorgen. Tausend für zehn Mark, das wäre so eine Sache, Lo?«

»In den schlechten Zeiten immer mitzunehmen. Ich partizipiere also.«

Lerden ging.

»Uebrigens Ihr Gesicht ist mir bekannt, Herr Graf,« wandte sich die hübsche Lo an den Dragoner. »Freilich man könnte mich totschlagen, wenn ich sagen sollte, wo . . .«

»Ich wüßte allerdings nicht!« Und doch sagte ihr der schnelle, falkenscharfe Blick, den er auf eine Tribüne warf, ganz genug. Da saß sie ja, die hübsche Frau vom »Neuen See« damals. Dasselbe feine, blasse Mädchengesicht, dieselben knospend-weichen Linien des jungen Körpers, aber das frische, erlogene Lachen, das dem verliebt dreinschauenden Zivilisten, offenbar ihrem Manne, galt, bewies nur, mit welchem Erfolge sie die Schule des Ehebruchs durchgemacht hatte.

»Ich weiß aber jetzt, Herr Graf . . .« meinte sie schadenfroh.

»Dann wissen Sie mehr als ich, gnädige Frau.« Doch weder dieser kühle Ton noch diese eherne Stirn täuschten sie einen Moment.

270 Der Graf Silowstrem hatte sich in ein trotziges Schweigen gehüllt. Was das der hübschen Lo machte! Sie stürzte sich gleich darauf kopfüber in eine Sportunterhaltung. »Geschäftsfreund . . . Räuberhauptmann . . .«

»Gnädige Frau haben wirklich fabelhaft viel Interesse.«

»O ja.« Sie mußte lachen. Daß sie in den gähnend-langweiligen ersten Jahren ihrer Ehe die Zeitungen bis auf die geheimnisvollen Ausdrücke der Sportabteilung durchstöbert hatte, half ihr zu diesem nicht unberechtigten Erfolg. Der Graf hatte eine starke, wenig kavaliermäßige Neigung, ihr in das hübsche Gesicht zu schlagen. Zu Hause oder im »Salon« unter den zigeunerhaften Existenzen war sie wenigstens noch erträglich. Das ist ja der Nährboden für solche Moralidioten. Aber hier unter den Uniformen, angestaunt wie ein seltenes Tier aus dem Zoologischen Garten, voll Interesse den schleppenden Belehrungen des Herrn v. Sandow über schnittige Körperformen bei Rennpferden folgend, erschien sie ihm mit Recht widerlich. »Herr, erlöse uns von dem Uebel!« murmelte er ingrimmig.

Und der Herr erhörte ihn. Erst hielt er es für eine Sinnestäuschung, daß die schlanke Dame, die zwischen dem Professor und Lerden gerade auf seine Gruppe losschritt, Frau Marie sein sollte. Doch 271 das halblaut gezischte: »Die schönste und die dümmste Dame aus ganz Berlin, meine Herren!« der hübschen Lo gab ihm Gewißheit. Ja, sie war es, die gute, rosige Fee seiner Träume. Wie sie hierher kam, daß sie überhaupt kam, diese kleinstädtische Vernichterin der weltstädtischen Vergnügungen, darüber dachte er nicht nach. Als er ihre kleine, warme Hand in der seinen fühlte – dieselbe Hand, welche einst dem »Einsamen«, von der vulkanischen Stimmung der Riesenstadt und dem eignen Elend Niedergedrückten so schnell wieder Hoffnung und Glauben gegeben hatte – war auch er sofort ein andrer – ein Mann! Sie kümmerte sich kaum um die andern, sprach nur mit ihm. »Ich weiß jetzt alles, aber gerade darum verlasse ich dich nicht feige wie die andern – nicht wie die da, wie mein Mann, der zweifelt, ob es überhaupt anständig ist, solche Leute zu kennen,« das alles las er deutlich in ihren großen, klaren Augen. Er las noch mehr. Und dies Vertrauen, das Vertrauen eines wirklichen Weibes, machte, daß mit einem Schlage der schlaffe Zug wich, daß er stolz dreinschaute. Und wie nichtig war im Grunde diese Unterhaltung.

»Warum sind Sie nie mehr gekommen?«

»Ich wagte nicht mehr . . .«

»Sie kennen meine Ansichten, und Sie müssen mir versprechen, das sehr bald wieder gut zu machen – sehr bald.«

272 Es war nur ihr warmes, mitleidiges Frauenherz, was da sprach.

Ihr selbst war sie unsichtbar, diese Flamme der Leidenschaft, die dahinter lohte. Der Graf sah sie. Sie liebt mich! Als ob es einen Trank gäbe, der trunkener machen könnte! Was er gehofft, ersehnt mit jeder Fiber – es war Gewißheit. Und dennoch that ihm diese Wissenschaft wehe. Mit dem bisweilen erkältend klaren Blick der im Leben oft Genarrten erkannte er, daß der Seligkeit der Erfüllung etwas Schreckliches auf dem Fuße folgen müsse. Argwöhnisch, schnell – solche Gefühle sind nur für zwei – wandte er sich um. Der Professor hatte mit geflissentlicher Harmlosigkeit seine Schweinsaugen in einen Holzpfahl gebohrt. Lerden sah mit fest geschlossener Lippe und bis auf einen ganz schmalen Spalt herabgelassenen Lidern bewegungslos auf den herrlichen Kopfansatz Marie Ellers'. Ahnten die beiden etwas?

»Du sollst den Nacken nie besitzen und auch nichts andres, du gräflicher Waschlappen! Und wenn ich dir zu dem Zwecke dein winziges Gehirn zerquetschen müßte!« sagte Lerden vor sich hin.

Sei auf deiner Hut, schöne Frau! Lerden hat alles erraten, zwischen dir und dem Grafen ist noch nichts von Belang vorgegangen, das weiß er. Aber ein Luftzug genügt, um die verschleierten Flammen 273 eurer Herzen zusammenschlagen zu lassen. Und das darf nicht sein! Niemals! Ohne es zu wissen, habt ihr die schwächste Stelle seines Herzens gefunden. Du glücklich in den Armen eines andern – eher tot! Und er pflegt Wort zu halten.

Die Jockeys ritten in die Bahn. Es war ein starkes Feld; achtzehn Pferde. Doch es gehörte der Blick des Kenners dazu, aus diesen kopfhängenden, im Schritt einherschleichenden Schatten den mutmaßlichen Sieger herauszufinden.

»Welches ist Ihr Pferd, Herr Graf?« fragte die hübsche Lo. Der Gedanke, sich vielleicht eine große Summe erwetten zu können, regte sie an. Interessiert schritt sie bis zur niedrigen Einfassungshecke vor. Das Ziel lag nur wenige Schritte links. Die andern folgten.

»Der große Rapphengst da vorn. Rote Kappe, grüne Bluse.«

»Und deines, Gert?«

»Paß auf die schwarze Kappe und die gelbe Bluse auf!«

»Und diese kleine Stute soll gewinnen? Es sind sechstausend Meter – die Bahn ungefähr zweimal« . . . sagte sie mit einigem Mißtrauen in Lerdens Pferdekenntnis.

»Warte nur, bis sie am Flaggenhäuschen drüben auf der Höhe sind. Da beginnt ja der Scherz erst.«

274 Mit dem ersten Sporendruck hatte sich die schläfrige Passivität des Vollblutes wunderbar verwandelt. Wie eine Windsbraut jagten die Pferde dahin. »Teufel, Graf, Ihr Vierjähriger springt wirklich wie eine Katze. Taraba! Taraba!« Die Fuchsstute hatte nämlich an dem ersten Hindernis refüsiert. Der erfahrene Jockey ritt langsam ein Stück zurück, setzte ruhig an und brachte sie leicht hinüber.

»Da haben Sie den Salat, Doktor!«

»Oder Sie, Graf! – Halten Sie fünfzig?«

»Wenn Sie durchaus in Ihr Unglück rennen wollen . . . es ist eine verteufelt hohe Summe!«

Die Fuchsstute kam als letzte am Flaggenhäuschen an. Dort verpusteten sich die Pferde einige Augenblicke.

Die Flagge fiel.

Frau Marie hielt das beschlagene Rennglas vors Auge, in ganz falscher Richtung. »Lieben Sie Rennen, Herr Graf?«

»Nein!«

»Aber doch Pferde?«

»Ja, sehr! und eben darum liebe ich die Rennen nicht.«

»Sind sie bald hier?«

»Erst an der zweiten Hürde.«

Noch war das Feld vollzählig. Ein bekannter Außenseiter ging an der Spitze. Einige Leute, die 275 nur des Totalisators halber den ersten Platz besuchten, johlten. »Feste, Numero siebzehn, feste!« entgegnete ein reduziert aussehender Mensch, der auf das Pferd gewettet hatte. »Du machst's!« Trügerische Hoffnung! Vor der Mauer lag der Rapphengst schon mit ihm Bügel an Bügel. Hinüber! Ein Jockey wurde im Bogen aus dem Sattel geschleudert. Zwei Tiere stürzten. Eine Sekunde später flog eine blaue Bluse genau an derselben Stelle über das Hindernis. Dem Grafen war es, als könnte er das klatschende Aufschlagen von Hufen auf den Körper der gestürzten Gäule oder das Knacken zertretener Knochen hören. Was kümmerte das die, die schon vorn waren. Aus dem wirren Knäuel rissen sich zwei Pferde wieder empor. Ein Brauner, reiterlos, mit verschobenem Sattel und nachschleifenden Zügeln, von der Hinterhand rann ihm das Blut, und ein Bleßfuchs, dessen Reiter beim Sturz den linken Bügel verloren hatte, aber wie wahnsinnig mit der Rennpeitsche auf sein Pferd einhieb, um noch mitzukommen. Sie kamen näher. Man hörte es an dem leichten Dröhnen auf dem geschorenen Rasen. Reiter wie Pferde hatten sich in das Rennen verbissen. Die brutalen Instinkte der Menge, der jetzt in diesem rasenden, unmenschlichen Wettlauf es rot vor den Augen schimmerte, waren entfesselt. »Wieder einer unten!« – »Der Jockey braucht auch keinen Doktor mehr.« Nirgends 276 eine Spur des Mitleids. »Hört mal, wie die alte Lunge bläst! – Schon eine halbe Meile vorher kennt man den Wallach! – Krepieren thut die Bestie doch nicht!« Und jetzt kamen sie vorüber. Voran der Rappe, schweißbedeckt. Sein Reiter brauchte schon unbarmherzig Peitsche und Sporn. Zwei Längen hinter ihm die Taraba. Sie hatte nur ein paar winzige, dunkle Flecke über den Flanken und nahm wie ein Vogel die Hürde. Ihr folgte auf den Hufen der reiterlose Braune, der hier angehalten wurde, darauf in weitem Abstand die Nachzügler, triefend, mit aufgerissenen Nüstern und verglasten Augen.

»Sie haben doch recht viel Blick, Herr Doktor!« meinte v. Sandow.

»Ich halte die Taraba noch immer für die beste Steeplerin auf deutschen Bahnen.«

»Erste wird sie so wie so nicht; vielleicht zweite, wenn keines von denen dahinten mehr aufkommt. Hat auch recht wenig auf dem Buckel . . . siebzig Kilo . . .«

»Und wenn ich Ihnen nun sage, Herr Leutnant, daß sie nicht ein Gramm zu wenig hat!«

Die Professorin hat mit einer Art Grauen diese wilde, verzweifelte Jagd vorübertoben sehen. »Welche Grausamkeit!«

»Das ist es gewiß, eine der unsinnigsten . . .« sagte der Graf laut. Niemand hörte auf ihn. Unter 277 diesen nur auf den Ausgang des Kampfes gespannten abgehärteten Menschen fühlten sich die beiden einsam. Eine gefährliche Einsamkeit! Ein rasendes Verlangen überkam ihn, sie zu nehmen, fortzutragen auf starken Armen. Wohin? – zum Leben? – zum Tode? – Wie gleichgültig, wenn es nur mit ihr war! Ob sie mitfühlte? Sagte nicht dieses unter goldener Wimper gesenkte Auge, dieser willenlose Zug um den Rosenmund: »Nimm mich!«

»Bist du nicht wohl?« sagte der Professor, eine Wolke auf der Stirn. Obgleich ihm die Gesellschaft der vornehmen Herren sehr schmeichelhaft war, und er von Hebung der Landespferdezucht und Förderung eines schneidigen Reitergeistes gerade genug läuten gehört hatte, um Renninteresse für eine Art Bürgerpflicht zu halten, beschäftigte ihn diese gewisse Kordialität seiner Gattin dem entlarvten Catilinarier gegenüber doch weit mehr. Wenn Marie plötzlich auf Gedanken käme! O, in diesem hübschen Kopfe halten schon ganz merkwürdige gekreist, ohne daß sie Macht über ihren klaren Sinn gewonnen hätten.

»Nein, das Schauspiel ist nur etwas neu für mich und aufregend.« In Wahrheit hatte sie große Lust zum Weggehen. Doch sie fürchtete sich vor dem Alleinsein mit ihm, seinen Fragen, den Liebkosungen des alten Mannes. Außerdem wäre der Rückzug jetzt geradezu lächerlich gewesen. Denn die 278 Entscheidung war nahe. Drüben auf der Höhe tauchte das Feld wieder auf. Einige Nachzügler hatten sich mehr herangeschoben. Noch immer führte der Rappe. Hart neben ihm lag die Taraba, kaum eine halbe Länge zurück. Den schlanken Hals vorgestreckt, scheinbar noch ganz frisch, nahm sie spielend Hürde auf Hürde. Es handelte sich um einen Zweikampf zwischen den beiden, das war klar.

Einige Stimmen wurden laut. »Totes Rennen! Langweilig! Nein, der mit der schwarzen Kappe verhält nur.«

»Die Stute hat eine wunderbare Aktion,« sagte der Dragoner mit etwas unsicherer Stimme. »Ich habe sie doch oft genug auf der Trainierbahn gesehen – kein Vergleich!«

Lerden schwieg. Für den Wissenden war der Sieg kaum noch zweifelhaft. Wie die Taraba neben ihrem schweißbegossenen, schwerkeuchenden Rivalen lautlos dahinglitt, ihm wie im Scherz Linie auf Linie abringend – jetzt war sie am Hals – jetzt am Kopf – jetzt sausten die Reiter eine Weile Schenkel an Schenkel, die Pferde Nüster an Nüster dahin – glich sie mit ihrer skelettartigen Magerkeit einem gespenstigen Schatten. Hü! hü! hop! hop! Die Aufregungsrufe wurden schriller. Es ging über die vorletzte Hürde. Die Stute glatt, hoch, ohne anzustoßen; der Hengst stolpernd, schwer; eine 279 zerbrochene Einfassungsstange krachte. Er knickte tief in der Vorderhand. Es kam jener letzte Augenblick, wo die aufs unsinnige gespannte Kraft der Sehnen, der Ehrgeiz des Vollblutes den letzten Funken hergeben sollen. Die Sporen bohrten sich tief in des Rappen Weichen, die Peitsche schwirrte mit verdoppelter Wucht auf den striemigen Rücken. Vergebens.

»Ausgeritten bis auf X!« murmelte der Dragoner mit unwilligem Kopfschütteln. Dieser schwankende, matte Renngalopp der äußersten Entkräftung sagte ihm alles. Verloren! Die schwarze Kappe schoß vorüber, ohne daß der rotblusige Jockey es hindern konnte. Er arbeitete nur unsinnig mit den Zügeln im Maule seines Tieres. Die Taraba flog über die letzte Hürde.

»Gratuliere, Doktor!«

Da geschah etwas ganz Unerwartetes. Vier Längen vor dem Ziel sank die Taraba urplötzlich wie ein vom Kopfschuß getroffener Hirsch in die Vorderhand. Der Reiter mochte im letzten Moment die nachgebende Bewegung unter dem Sattel geahnt haben, denn die Rennpeitsche sauste beinahe früher herab. Ein Hieb! – Die Stute machte eine kraftlose Anstrengung, wieder auf die Beine zu kommen. Man sah das dunkle Gesicht des Jockeys sich in Wut verzerren, weil er den Preis sich entgehen sah. 280 Ein zweiter! – Das im Nu von Schweiß ganz dunkle Pferd sprang auf, setzte an, als wenn es über ein Hindernis wollte. Aber die Hinterhand versagte, es brach rückwärts zusammen. Die Stute schlenkerte mit dem Kopf, ein qualvolles Zucken ging durch den Körper, dann sank sie ganz nieder.

»Hü! hü! hop!« Der Rappe hat mit entschwindender Kraft, fast stürzend, die Hürde genommen, und der Sieger passierte im Handgalopp das Ziel.

»Was haben Sie, Doktor?« Lerden hatte eine rasche Bewegung gemacht, als wenn er über die Einfassungshecke herüber wollte. »Lassen Sie den Gaul nur allein verenden! Ich hatte Ihnen ja gesagt . . .« Im gestreckten Galopp folgte der zweite; in weitem Abstand, in leichter Gangart der dritte und zwei Nachzügler. Die übrigen hatten das Rennen schon früher aufgegeben.

»Ich habe eben kein Glück mit Weibern!« Lerdens Gesicht war finster und seine Stimme hart. »Ihm thun wohl seine verspielten fünfzigtausend Mark leid!« Der Dragoner ahnte ebensowenig wie irgend ein andrer, daß es nur der Anblick des zu Tode gehetzten Tieres war, der den Millionär so ernst gestimmt hatte. »Warum ging ich auch!« Seine letzte Rennerinnerung wurde ihm wach. Sein alter Tam-Tam hinter der Mauer zusammengebrochen, der mit seinen im Todeskampf verglasten Augen ihn 281 so qualvoll und anklagend zugleich angestarrt hatte, daß Lerden sich wegwenden mußte und seine auf den Hals des Tieres gelegte Hand merklich zitterte. Seit jenem Tage hatte er seinen Rennstall aufgelöst, was man als die Laune eines Narren auffaßte.

Als die Taraba zusammensank, stieß Frau Marie einen halblauten Ruf des Schreckens aus. Doch der Graf wagte nicht aufzusehen. Jemand hätte die aufsteigende Rührung in seinem Gesichte lesen und lächerlich finden können. Wenn Männer weich werden, dürfen sie es anstandshalber nur bei Weiberthränen. Im Augenblicke hatte sich eine starke Menschenwoge zwischen die beiden gedrängt – Offiziere, die dem Sieger gratulierten und dabei höflicherweise ein bedauerndes Achselzucken für die eingegangene Tochter des einstigen Epsomsiegers hatten; vor allem aber jene von wertlosem, neugierigem Mitleid getragene Menge, welche das verendete Tier, dem das hellrote Lungenblut auch jetzt noch aus den zusammengefallenen Nüstern und schlaff herabhängenden Lippen floß, in der stillen Hoffnung betrachtete, es könne noch einmal mit dem Ohr wackeln oder den Huf rühren. Die Stute that ihr den Gefallen nicht.

Doch wo war die Professorin? Der Graf suchte sie in dem Gewühl, strich mit Späherblick an den Tribünen und den debattierenden Gruppen vorn auf 282 dem Platze vorbei und brachte es endlich über sich, den Professor zu fragen.

»Meine Frau? Woher soll ich das wissen? – Sie ist doch kein Kind mehr.« Der unhöfliche Ton machte auf den Grafen wenig Eindruck. Wahrscheinlich hatte Marie den Augenblick der Verwirrung benutzt, war entflohen, angewidert von diesen modernen Tierhetzen. »Kommen Sie bald – sehr bald!« wiederholt er im Selbstgespräch. In der Lesart der Verständigen heißt das »Komme nie! denn auch ich weiß nicht mehr, was geschehen kann.« Der Graf war heute weit entschlossener als sonst. »Ich muß Lerden um Geld bitten, ich muß fort – um jeden Preis! Wir sind unsrer beide eben nicht mehr sicher!« Und heiß rann ihm das Blut durch die Adern, als er an die schöne Frau dachte.

Unterdes hatte ein kurzes Zwiegespräch stattgefunden, welches den Gang der Dinge sehr beschleunigen sollte. War es glücklich vorbereitet? – War es eine glückliche Improvisation? Die hübsche Lo und Lerden standen zusammen, von der dicht gedrängten Menge abgesondert und in ihr Gespräch scheinbar so sehr vertieft, daß sie den Professor gar nicht bemerkten. Die hübsche Lo hätte ihn eigentlich bemerken müssen, sah sie ihm doch beinahe ins Auge.

»Wenn die Stute nun einmal sterben sollte, konnte sie es nicht ebensogut hinter dem Ziel thun?«

283 »Hm,« gab er nachdenklich zurück.

»Hast du übrigens gesehen, Gert?«

»Die beiden? – Leider!«

»Wie ein paar Turteltauben. Sie girrten nicht übel.«

Lerden mochte sich in seine Schurkenrolle schlecht finden und schwieg.

»Glaubst du, daß schon etwas vorgefallen ist, Gert?«

»Ich glaube noch nicht!« Und einem häßlichen Impuls folgend, fügte er gegen besseres Wissen, achselzuckend und ein wenig höhnisch hinzu, »freilich, eine schöne Frau . . .«

»Dies heißt, du weißt am Ende?«

,.Woher denn? – Ich finde es nur leichtsinnig von dem würdigen Herrn . . .«

»Und das sehr! Eine solche Frau monatelang allein zu lassen – da muß eine ja auf dumme Gedanken kommen – noch dazu mit dem! Der versteht doch seine Sache, wahrlich!«

»Das thut er allerdings! Und« – Lerden sprach gepreßt, denn er fühlte, wie das Gift bis zu seinem Herzen drang – »es muß allerdings etwas passieren, wenn ein gewisser Jemand nicht sehr auf der Hut ist.«

Die hübsche Lo stampfte zornig mit dem Fuß auf.

»Du bist eifersüchtig, Lo!«

284 »Unsinn . . . aber ernstlich, wie . . .«

Der übrige Teil der Unterhaltung wurde sehr leise geführt. War es doch nicht für des Professors Ohren berechnet, der begierig den Köder verschlungen hatte. Er sah so komisch aus, der gute Mann mit seinem Spitzbauch, seiner Perücke, den unstet hinter den Kneifergläsern umherschweifenden Augen, wie er, ganz auf die Seite geneigt, noch ein Wort zu ergattern suchte. Und die hübsche Lo, die bei Predigten und andern ernsten Dingen immer von lächerlichen Vorstellungen heimgesucht wurde – diesmal kam ihr beim Anblick des Professors der Gedanke an ein toll gewordenes Meerschweinchen – mußte sich umdrehen, um nicht loszuplatzen.

Eine Pause entstand. Der Professor trat vorsichtig den Rückzug an.

»Da geht er hin und singt nicht mehr!« sagte Lo, als sie ihn eilig zwischen den Tribünen hindurch zum Ausgang steuern sah. Der Gelehrte hatte auf einmal die Befürchtung, seine schöne Frau könnte ihm bereits durchgegangen sein. Sein Renninteresse hatte sich sehr schnell verflüchtigt.

»Das Mittel hat prompt gewirkt! Aber ich muß auch gehen, Gert . . . Allzu spaßig ist es unter deinen Leutnants nicht. Dieser Sandow – ein Schafskopf!«

»Warte noch ein wenig. Ich habe meinen Wagen 285 bestellt. Wir können ja zusammen fahren. Ich habe heute keinen Schneid, dem üblichen Joko nachher zuzusehen.«

»Nein, ich habe es eilig. – Also schreiben meinst du?«

»Ja, aber . . .« Von Lerdens Gesicht war die dunkle Röte der Scham über dies Gaunerstückchen noch nicht gewichen. »Nicht so schnell! Die Sache ist schon so schmutzig genug. Wozu noch der Theaterbrief? – Ich habe doch einige Gewissensbisse. – Die Frau ist wirklich keines Ehebruchs fähig!«

»Nicht sentimental, mein Freund! Du hast mir ja selbst den Rat gegeben. Und wie recht du damit hast! Wenn dieser Professor, harmlos-beschränkt, wie er ist, nun doch nichts gehört hätte – Namen sind nicht genannt, es konnte also ebensogut von der Erbprinzessin der Fidschi-Inseln die Rede sein als von seiner Frau – oder nicht hören wollte; alte Leute sind oft zu bequem zu Gemütsaufregungen und denken, es wird ja nicht so schlimm sein, also kein Skandal! – Sieh mal, da thut so eine Warnung schwarz auf weiß ganz andre Dienste. Laß du mich nur machen, Gert! Uebrigens, was geht's dich an?« Sie lächelte. Mochte sie von diesem verschlossenen Gesichte doch etwas abgelesen haben?

Lerden erwiderte nichts. Dieser Lo gegenüber hätte er nicht um eine Welt verraten, daß er heute 286 aus Eifersucht und Rachegefühl sein erstes und einziges Frauenideal durch den Schmutz der Verleumdung gezogen hatte.

»Adieu!«

»Nein, Lo, das geht doch nicht! Ich verbiete dir . . .«

»Nicht der Magisterton, Gert!« Sie drehte sich rasch um, ging wieder zu der Offiziergruppe und ließ sich mit Seelenruhe ihren dänischen Handschuh zum Abschied küssen.

»Höre, Lo . . .« Aber sie ließ es nicht einmal zu, daß Lerden sie bis zur Droschke begleitete.

Lerden hatte einen Augenblick nicht übel Lust, ihr nachzufahren, ihr, koste es was es wolle, das Versprechen abzuzwingen, nicht noch durch den Schurkenbrief der Gemeinheit die Krone aufzusetzen. Doch im Leben allzusehr gewöhnt, keinen Schritt zurück zu thun, blieb er, sah mit stumpfer Interesselosigkeit das ganze Rennprogramm sich abwickeln. Wie gleichgültig waren ihm jetzt diese stürzenden, ausgepumpten, siegenden Pferde! Selbst für das Bravourstück des Tages hatte er nur ein Achselzucken. Sein alter Oesterreicher, der im Veilchenrennen den Favoriten steuerte – hinter einer Hürde stürzten Reiter und Pferd, rollten sich – »Donnerwetter, wenn der mit heilen Gliedern davonkommen sollte!« – rafften sich blitzschnell wieder empor, und mit gebrochenem, 287 steif herunterhängendem Arm, an dem die Rennpeitsche unthätig baumelte, den andern nachjagend, ging der Jockey um Nasenlänge als erster durchs Ziel – hatte die Scharte des ersten Rennens ausgewetzt. Ohnmächtig mußte er aus dem Sattel gehoben werden.

Immer und immer wieder mahnte Lerden die Stimme des Gewissens. »Geh! Der feige Dolchstoß vorhin war schon tief genug . . . warum läßt du dies Weib noch Gift in die tückische Wunde träufeln? Gut, ich gehe!« entschloß er sich endlich. Aber da ließen ihn die andern wieder nicht.

»Nochmals desertieren?« drohte mit dem Finger der Rittmeister.

»Ich suche Sie morgen bestimmt auf, Herr v. Fabrest.«

»Nichts davon! Solche Versprechungen kennen wir! – Meine Herren, er ist auf dem Sprunge . . .« Die Offiziere schlossen lachend einen Kreis. »Hier bleiben! Oder Sie müssen über die Klinge springen,« sagte Fabrest, den Pallasch vorhaltend.

»Ich habe ja mit dem Grafen hier noch Geldgeschäfte und muß wiederkommen.«

»Die aber durch die Post oder den Diener ebensogut erledigt werden können.«

Lerden blieb standhaft. »Ich habe etwas vor . . .«

»Der gute Bekannte will nicht, fassen wir den 288 Kavalier!« begann der Rittmeister wieder. »Wenn wir uns zum Abendbrot ansagten?«

»Angenehm, sehr! Nur bin ich gänzlich unvorbereitet auf solch hohen Besuch.«

»Wie der Mann sich heute windet! Butterbrot und ein Schnaps ist genügend. Wir kommen nicht des Essens, sondern Ihretwegen. Nebenbei von der Seite kennen wir Sie, Heuchler! ›Sie müssen vorlieb nehmen.‹ Und dann eine wunderbare kalte Küche . . . Krammetsvogelpasteten, Kaviar . . . Borchhardts schlechtester Kunde sind Sie auch nicht.«

»Das war früher.« Aber doch etwas geschmeichelt durch diese liebenswürdige Hartnäckigkeit, meinte er unbedacht: »Dann können Sie auch gleich mitkommen; einen Grog werden wir noch zu stande kriegen. Sie sind natürlich alle eingeladen.« Lerden machte eine verbindliche Handbewegung.

»Gilt! Um sechs Uhr sind wir bei Ihnen!«

So wenig die Sache nach Lerdens Geschmack war, so liebenswürdig fand er sich hinein. »Vor morgen wird sie den Brief doch nicht schreiben,« beruhigte er sich. »Jetzt müssen Sie mich aber einen Augenblick beurlauben, Graf! Ihr Standeskollege Silowstrem ist mir ausgekniffen.«

»Komme mit. Netter Kerl! Verwandter von dem Husaren?«

»Weiß nicht . . .«

289 Als sie im Gehen die Damen auf den Tribünen noch einmal Revue passieren ließen, drückte der Dragoner leise Lerdens Arm. »Sehen Sie die hübsche Frau dort in der Eckloge? – Nicht auffällig hinsehen, Doktor!«

»Sie hat so was Frischverdorbenes.«

»Sie sehen auch gleich durch! – Und wenn ich nun dem jungen Banquier da neben ihr ohne die Ehre seiner näheren Bekanntschaft ein Paar kolossale Hörner aufgesetzt hätte?«

»Ihnen schon zuzutrauen. Es giebt auch noch lange nicht genug Ochsen!« Suchend schlenderten sie den Platz hinter den Tribünen entlang, vom Restaurant zum Totalisator, hie und da bei einer Gruppe haltend, lachend, händeschüttelnd – dann zum Sattelplatz, wo eben ein paar kleine Durchstechereien zwischen Jockeys und Buchmachern im besten Gange waren. »Die Schufte!«

»Die Kleine da geht uns nicht von den Hacken,« sagte der Dragoner, sich umschauend.

»Gehen wir langsam!« erwiderte Lerden, der sich erst jetzt der Verabredung im »Goldadler« erinnerte.

»Also doch! – Jung ist sie übrigens, aber verlebt, verschminkt, verpudert, den Moschusgeruch kann man ja gar nicht aushalten.« Er hielt sich ostentativ die Nase zu. »Schöne Augen . . . das ist noch 290 das einzige! Auf Ihre alten Tage werden Sie sich doch so etwas nicht aufgreifen?«

»Ich muß mit ihr sprechen, Graf. – Hier sind wir ja so ziemlich solo . . .«

»Dann geniere ich Sie wohl?« Er löste seinen Arm aus dem Lerdens und ging einen Schritt beiseite.

»Nein, nicht Sie, höchstens Ihre Uniform.«

Die Kleine kam näher heran, mit jener Dirneneleganz aufgeflirrt, trippelnden Schrittes, kokett das Köpfchen wiegend. Lerden griff an den Hut. ». . . Tag!«

Die entehrende Vertraulichkeit der Begrüßung berührte sie gar nicht.

»Endlich kann ich Sie sprechen! – Gut bekommen damals? – Gesehen habe ich Sie schon lang; Sie standen ja immer mit den Gardekavallerie-Offizieren zusammen,« fügte sie bewundernd hinzu. »In Zivil kenne ich die Herren meistens.«

»Also, mein Püppchen,« unterbrach sie Lerden falsch lächelnd, »du erkennst mich wieder?«

»Gewiß, den reizenden Abend vergesse ich nie! Das große Veilchenbouquet habe ich noch im Glase vor meinem Bett stehen.« Sie versuchte schelmisch zu lächeln.

»Und du bist deiner Sache ganz sicher?« Um seine Nasenflügel zuckte es. »Sieh mich an!«

Sie sagte: »Neulich im ›Goldadler‹ . . . aber auch 291 früher . . .« und trat verwundert über seine Seltsamkeit näher, um auch gleich wieder vor dem bösen, höhnischen Ausdruck auf seinem Gesichte zurückzuschrecken.

»Du irrst dich nicht!« Sein schneidend-scharfer Ton ergänzte wunderbar den Gesichtsausdruck. »Unsre Bekanntschaft ist viel älter; der Doktor Lerden, deiner und deiner Mutter Narr bin ich!« Bei der bloßen Namensnennung war sie zurückgeprallt. »Steh!« Sie stand zitternd, blaß, ohne Fassung. »Ich könnte dich hier mit der Reitpeitsche traktieren, und niemand sollte mir das verdenken!« Sie zuckte mit der Schulter, als wenn sie vor dem Hieb zurückbebte. »Du warst doch sonst nicht so ängstlich, Subjekt! – Für Weiber wie du wäre mir mein Fuß zu schade. Aber du hast mir einen Dienst erwiesen – unfreiwillig – darum wünsche ich dir nur Glück für die Zukunft. Und wenn es Sympathiemittel giebt, so möge sich mein Goldstück an deinem Hals auch ferner als Satansgeschenk bewähren!« Er wandte sich ab. »Netter Wunsch das, Graf?« Und ohne einen Blick auf die so jäh vom Gipfel ihrer Hoffnungen Geschleuderte zu werfen, nahm er des Dragoners Arm und ging weiter.

»Welcher Satan in Ihnen steckt!« sagte der Graf nach einer Pause, noch ganz starr von dieser Scene. »Armes Ding!« Sie mußte sehr unglücklich 292 ausgesehen haben, daß sie selbst bei dem Mitleid erweckte. »Aber ich wette, sie hat die Prügel noch für jemand anders mitgekriegt!«

Vielleicht hatte er recht.

Eine halbe Stunde später fuhren die beiden Grafen und Lerden, auf dem Sitz des Jagdwagens eingezwängt, im schlanken Trabe nach der Villa. 293

 


 


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