Johannes Richard zur Megede
Unter Zigeunern
Johannes Richard zur Megede

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Zwanzigstes Kapitel.

Die Rokoko-Uhr schlug zwölf. Frau Lo hatte zu Mittag die barmherzige Schwester abgelöst, auch der Hausarzt war gegangen. »Es ist keine Hoffnung mehr; Herr Rinow stirbt noch heute. Daß dies örtliche Leiden hinzugetreten ist, halte ich für ein Glück. Es hätte viel länger dauern, viel qualvoller endigen können.« Sie saß an seinem Bett. Seit drei Tagen war er ohne Besinnung. Noch kämpfte die zähe Bauernkraft ungeschwächt in den Fieberdelirien fort. Aber es war ein ganz andrer, dieser in den Kissen hin und her geschleuderte alte Mann. Weggeschwemmt war die dünne Bildungstünche; was Berlin, das Leben dem Gesunden in vielen Jahren aufgezwungen hatten, der Kranke besaß es nicht mehr. Hier lag wieder der unverfälschte litauische Bauernjunge mit seinem beengten Horizont, seinem ländlichen Mißtrauen, seiner lärmenden Fröhlichkeit. Selbst der breite Dialekt des Ostens hatte 357 sich plötzlich eingestellt. Und Fritz Rinow war glücklich. Er atmete in seinen Phantasien die reine, rauhe Luft seiner Heimatsebene, war der roh-gutmütige Schulbengel, der den Mädchen häßliche Worte nachrief, Steine nach den Hunden warf, auf den Fohlen durch die Roßgärten jagte. »Komm, Brauner, komm!« Wie ein kleiner Kosak, die nackten Füße fest an die Weichen des schlagenden, bäumenden, beißenden Tieres gedrückt, setzte er tollkühn über Zäune und Hecken.

Dann saß der Halberwachsene in der Schenke. »Du betrügst mich doch auch nicht, Pindeljud? Fünf Groschen? Nein, nur drei.« Und er schob das schon hingelegte Geld wieder in die Tasche, schimpfte, vom Fusel benebelt, auf einen Burschen, der ihm zuredete.

»Wirsch'te weg!« Ein Ringen entstand. Und es war ein erschrecklicher Anblick, wie er sich in seinem Bett hin und her rollte, Schaum vor dem Munde, mit ineinander gekrallten Händen, als wenn er wirklich jemand gepackt hielt. »Ich schlage dich tot, Kardel!« – Er lag eine Zeit lang ruhig, schweratmend, matt von dem Kampfe, das dummstolze Lächeln des bäuerischen Siegers auf dem alten Gesichte.

Lo betrachtete mit einem wissenschaftlichen Interesse, wie die Lebenskraft brandete, hoch aufstieg, abebbte 358 – nach jedem Anfalle schneller. Und es war nicht eine Spur von Sympathie in dem forschenden Blicke, der auf den verkrampften, zuweilen jäh emporgereckten Körper, das aufrechtstehende, schmutziggraue Haar, die gelbliche Blässe des Gesichtes fiel. Schon zogen sich die Linien des hippokratischen Gesichtes über Stirn und Kinn; die Nase wurde spitzer. Der Sterbende griff mit den Knochenhänden in die Luft.

Auch Lo sah alt, faltig aus. In dem blauen Haare zogen sich ganz feine Silberlinien. Vielleicht hatte sie heute nur das Färben vergessen. Nerven waren Los schwache Seiten nicht. Und dieser schreckliche Todeskampf, die Nachtwachen, das trostlose Gesicht, welches man unter allen Umständen an Sterbebetten verlangt – die ganze aufreibende Unbequemlichkeit der letzten Tage hatten sie viel weniger mitgenommen als die quälende Frage: Wo bleibt er? Sie hätte zu ihm eilen mögen – das ging der Leute halber nicht; ihr Brief, ein grollender, bittender, verzweifelter Brief war unbeantwortet geblieben. »Sei barmherzig! Laß mich jetzt nicht allein.« Und er kam trotzdem nicht. »Wo hatte er nur auf einmal die Kraft her? Meine Mutter verläßt ihren Mann, ›der große Freund‹ sie.« Aber der Graf war doch aus ganz anderm Gefüge, weich, ein Träumer – ein viel zu schwacher Kopf, um es mit der Tochter ebenso zu machen. »Außerdem hat 359 er seine Pflicht. Und er wird sie nicht verletzen, nicht brechen. Das neulich war nur die leere Drohung des Kampfesmüden.« Gespannt hörte sie auf jedes Klingeln, glaubte immer jemand im Flur, an der Korridorthür, eilte fort, kam wieder, bezwang sich. ›Was sollen die Leute denken.‹ Und dann klingelte es wirklich. »Das ist er. Diesen zaghaften Druck kenne ich. Gott sei Dank! – Ich werde ihn energisch ins Gebet nehmen.« Es war gewöhnlich eine gleichgültige Persönlichkeit, der Semmeljunge, das Mädchen ihrer Mutter. »Er ist nicht zu Haus gewesen, hat den Brief noch nicht. – Er kommt doch.« Dazwischen wälzte sie praktische Projekte für die Zukunft. »Den größten Teil der Möbel werde ich verkaufen. Zuerst ist Geld nötig. Und die Küche?« – es war eine äußerst kostbare Kupfereinrichtung, mehr zum Prunk, eine Marotte der Mode – »die muß ich behalten. Er liebt das Gasthofsessen nicht. Ich werde selbst kochen. – Ob ich an einen Geschästsfreund von Fritz schreibe und bettele? Man muß doch leben.« Sie war zu klug, um stolz zu sein.

Das Mädchen mußte wohl die Korridorthür offen gelassen haben, Lo hörte deutlich zwei Stimmen – die ölige, schadenfrohe Klatschstimme Jägers. »Sie waren mal wieder der Schlaueste, Kollege. Sahne abgeschöpft. Der Don hat die Magermilch,« und 360 eine andre ihr unbekannte, wuterstickte, die wie zerbrochen klang: »'raus, Sie verleumderischer Hund – oder ich vergesse mich!« Sie ging ans Fenster. Auf den Flurfliesen klang der trottende Schritt des Schnapsbruders, und sie sah die schmierige, in den Havelock gehüllte Gestalt sich unter den Fenstern vorüberdrücken. Es klopfte am Erkerzimmer. Sie trat hinein und lehnte die Thür zur Krankenstube an. »Herein!«

Es war Lerden, blaß, mit so mühsam bewahrter Fassung, daß sie, ohne seinen Gruß zu erwidern, hastig fragte: »Du bringst mir eine schlechte Nachricht?«

»Weißt du noch nicht?«

»Keine Ahnung.« Sie ahnte und wollte doch nicht ahnen.

»Ich habe sie gesehen.«

»Zusammen? Also doch.« – Sie lachte herbe. »Wo?«

»In der Morgue.«

»Der Graf tot?«

»Ich dächte.«

Sie wankte nicht, verlor nicht die Besinnung. Eine salzige, nervöse Thräne rann ihr über ihr versteinertes Gesicht. Lerden ging zur Chaiselongue, er trat unsicher wie im Rausch. Er berichtete – ein unklarer, zerrissener Bericht.

361 Heute morgen war er im naturwissenschaftlichen Museum gewesen, dann durch die Kommunikation geschlendert. Vor dem Leichenschauhause auf dem Trottoir stand ein Morguebeamter und unterhielt sich mit einem Spießbürger.

»Sie sind nicht rekognosciert?«

»Bis jetzt noch nicht. Die Buchstaben aus der Wäsche sind ausgeschnitten, selbst sein Hutfutter.«

»Also Selbstmörder?«

»Na gewiß. Wohl so Zugereiste. Bei ihr saß der Schuß nicht so recht, an der Korsettstange etwas abgewichen. Zwei Stunden kann sie sich noch gequält haben, meint der Doktor. Aber hübsch . . . rund . . . schade.« Er beschrieb mit bezeichnenden Gesten, mit der cynischen Abgebrühtheit des alten Anatomiedieners.

»Eine Frau?«

»Das wollen wir nicht behaupten . . . Kein Trauring . . . Koscher ist die Sache nicht. Aber sehen Sie sie doch an. Beide sehen ganz appetitlich aus.«

Aus Neugierde ging Lerden hinein. Eine böse Ahnung hatte er nicht. – Da lagen sie. Es war nicht der eisige Hauch des Todes – er hatte in der Charité immer seine Schinkensemmel mit Appetit an Sterbebetten essen können – nicht das erschrecklich Nivellierende, welches die mächtigen Glaskisten der Frigidarien mit ihren schmucklos auf den Gestellen wie hinter 362 Schaufenstern ausgestreckten Unbekannten so abstoßend macht; es war auch nicht das lungernde, müßige Gesindel, welches ungerührt die aufgetriebenen Leiber der Wasserleichen, das moosige Grün zwischen ihren Fingern, diese braunblauen wie bei Trunkenbolden verschwollenen Gesichter begutachtete, um dann frivol einen Frauenleichnam zu bewitzeln, welches sein Gemüt so mächtig ergriff. Es war weit mehr der Ausdruck auf diesen beiden blutlosen Totengesichtern. Der Graf war als Mann gestorben. Was er im Leben nie besessen, Mut, in der Todesstunde hatte er ihn gefunden. Um seine zusammengepreßten bleichen Lippen lag der stolzentschlossene Zug seiner Ahnen; die Stirn war gekraust, die Augen offen. In dem schon etwas getrübten Blau glaubte Lerden noch eine wilde Freude leuchten zu sehen: »Wenn der Tod weiter nichts ist!« Aus der verkrampften Faust hatte man ihm den Revolverkolben brechen müssen. Durch eine Glaswand war Marie von ihm geschieden. Doch sie gehörten zu einander, das sah jeder. Sie lag, den schönen Kopf zu ihm gewandt, mit halbgeschlossenen Augen – das echte Weib – die in der Todesnot ihn noch einmal anblicken wollte und auf halbem Wege doch die Wimper angstvoll vor den dunkeln Schatten des Todes senkte. Den Ausdruck des süßen, hingebenden Gesichtes hatte die Sterbestunde nur vertieft, inniger gemacht. Lerdens 363 Auge lag lange auf einem winzigen roten Punkt über der Schußstelle – einem erstarrten Blutstropfen, der von dem versengten Jackett nicht abgewaschen war. Ihr letztes Herzblut war da langsam durchgesickert.

Wie Lerden erfuhr, war es nur ein sonderbarer Zufall, daß man sie hierher gebracht hatte. Darum waren sie ja so weit gegangen, um ungekannt in die Erde gescharrt zu werden. Doch der Gedanke, daß dieser geliebte Körper vielleicht erst vom Seziermesser eines Studenten zerstückelt werden könnte, war Lerden unerträglich. Er rekognoscierte sie. Die darauf nötigen, geschäftlichen Gänge hatte er nur mit Aufbietung einer nicht gewöhnlichen Willenskraft machen können. Welche banale, beinahe komische Trauer überall. Des Grafen Wirtin hatte sofort herzbrechend geschluchzt. »Unser guter Graf – so einen Mieter krieg' ich nie mehr! Immer zum Ersten das Geld, wenn es ihm auch manchmal schwer wurde. Nur die zwei Portionen Kaffee am Freitag Morgen, die hat er gewiß man vergessen. – Und nun ist er tot, tot! Daß ich so ein Unglück haben muß! Es zieht ja keiner mehr her, wenn er hört, der letzte Mieter hat sich erschossen.«

Der Professor dagegen war ernst, würdevoll, ganz gefaßt; nur zuletzt wurde er etwas weinerlich. »Sie werden das Nötige veranlassen, mein hochverehrter, bewährter Freund auch im Unglück. Ich 364 habe nicht die Kraft.« Das hinderte ihn aber nicht, sich eine Festzigarre anzuzünden und einen langweiligen Nekrolog zu halten, dessen arrogante Selbstvergötterung Lerden empörte. »Ich habe sie gewarnt. ›Marie, bedenke das Ende! Dein Mann hat dich auf Händen getragen, dir allen kindischen Eigensinn vergeben.‹ – Ich war zu nachsichtig. – Und was wird die Welt sagen? Meine Stellung ist erschüttert. Raten Sie mir.«

»Ich ihm raten?« fuhr Lerden jetzt wie im Selbstgespräch fort. »Die Perücke hätte ich ihm vom Kopfe reißen und ins Gesicht werfen mögen: Der Mörder bin ich! Aber ich habe diese Frau wenigstens verstanden. Und nun höre auf mit deinen selbstsüchtigen Litaneien, du ausgebrannter Krater!«

»Was kümmert mich das Weib? Sie war wie sie alle.«

»Aber mich, Lo! Weg die Maske! Ich habe sie wahnsinnig geliebt.«

»Du?« Lo starrte ihn an. Auch der Heros sank zusammen? Lerden aber fuhr in wildem Schmerze fort. »Wie könnt ihr auch sie verstehen, die ihr weder Weiber noch Menschen seid. – Wir hätten glücklich sein können, sie und ich. Sie kannte mich nicht. Wer kennt mich überhaupt? Wahr, daß ich es längst verlernt hatte, mit anständigen Menschen anständig umzugehen. Sie aber hätte doch ahnen 365 müssen, daß etwas Besseres in mir war, das fiebernd zu ihr drängte. – Und wenn ich sie denn nicht haben sollte, warum mußte sie sterben? Ich habe sie zur Sünde, zum Verbrechen gezwungen; ich habe ihr den Dolch geschmiedet, ins Herz gestoßen. Kein Bravo hätte das kälter und sicherer thun können! Ich weiß nicht, wie es kam, war ich irrsinnig? Oder bin ich wirklich so schlecht? – Nein, das bin ich nicht. – – Ja, das ist der brutale Egoismus der Leidenschaft, der lieber zwei in den Tod hetzt, als auf eins seiner eingebildeten Rechte zu verzichten. – Mögen sie glücklich sein und ich unglücklich. Aber Herr des Himmels, mache sie wieder lebendig!«

Lo begriff nicht. Dieser Ausbund von Kühle, dieser Menschenverächter verliebt wie ein Verrückter noch in die tote Larve? Ja, die Welt ist ein großes Narrenhaus. Ihre praktische Natur faßte nur mühsam, wie man ein ganzes Leben musterhaft schauspielern könne, um zuletzt so plump aus der Rolle zu fallen. »Es bleiben tot die Toten!« Jetzt war es doch zu spät. Und jetzt war der gute Gert bereit, sich zu opfern, vielleicht bloß, um diese blonde Gans sich an des Grafen Brust schmiegen zu sehen. Wäre er lieber früher ein Mann gewesen. Mit seinen Millionen, seiner Erfahrung hätte er sicher den Vogel ins Garn gelockt, ohne seine Person in die Wagschale werfen zu brauchen. Lo hatte wirklich 366 geglaubt, daß nur eine gewisse kleinliche Eifersucht des alten Galans Lerden gegen den Graf zuletzt verstimmt hatte.

Aus dem Nebenzimmer drangen sonderbare Laute, es klang wie ein Dialog mit verstellter Stimme.

»Für das Kalb fünfzehn Mark?«

»Nee, Meisterchen, bei achtzehn fängt der Handel erst an.«

Darauf ein leises Gewisper, aus dem endlich eine breite Fleischerstimme deutlich wurde. »Das ist ein ausgetragener Junge. Der ist helle. Nach der Stadt muß er. Wird den Berlinern schon etwas aufzuraten geben!« Den Berlinern hatte er jedenfalls nichts zu raten gegeben. Der Bauernjunge war so stolz, ein Stadtherr geworden zu sein, daß ihm der Entschlußmoment auch noch im Delirium gegenwärtig war.

»Was ist das?« fragte Lerden.

»Mein Mann.«

»Hört er uns?«

»Ohne Besinnung. Das kannst du doch merken!«

»Um so besser.« Der Sterbende kümmerte ihn wenig.

Mit bitterem Hohn fuhr er jetzt fort: »Und da sitzen wir nun hier, wir beiden kühlen, klugen Leute von Welt, und sind selbst die Genarrten. Den andern ist es wohl. Ich wollte, mir wäre so wohl. 367 – Als wenn uns die Vorsehung extra als Treiber für die beiden angestellt hätte. Unter gewöhnlichen Verhältnissen wären sie nicht zusammengekommen. Es mußte etwas ganz Brutales geschehen, denn freiwillig hätte diese Frau nie die Ehe gebrochen. Sie wäre verkümmert bei diesem Kerl – das wollte ich ja. – Und anstatt die Zeit ruhig arbeiten zu lassen, inscenieren zwei ungeschickte Regisseure eine Begegnung, unterstützen wie die besten Liebesboten das Ineinanderfließen der Gefühle und schreiben – die Krone der Borniertheit! – einen plumpen Lügenbrief, der die Liebenden auseinanderreißen soll und in eine Sackgasse treibt. Sie sind von allen verlassen; doch im rechten Augenblicke fällt ihnen der Schleier. ›Knüpfen wir uns desto enger aneinander!‹ – Das waren die Schwachen, die Dummen? Unbewußt sind wir ihnen die Führer zum Glück gewesen. Vielleicht haben sie uns innerlich gesegnet und verflucht zugleich. Bah, klüger und stärker wie wir! Und sie, die noch an einen Himmel glauben, die Liebe für Schuld, Selbstmord für Verbrechen halten, wagen ohne Zagen den Sprung in die ewige Verdammnis. – Es giebt keine Leidenschaft, keine Liebe? Voilà! Wir sollten den Hut vor ihnen abnehmen, die über die gemeine Interessenpolitik der modernen Ehe hinweg sich zu finden wußten. – Was schweigst du, Lo? Sprich doch! Ist dir die Zunge gelähmt? Der 368 Graf tot. Beschimpfe doch den Meineidigen, wie er es verdient!«

Die hübsche Lo ließ ihn ruhig reden. »Er ist von Sinnen!« Und je wilder sein verdüstertes Herz schlug, um so ruhiger das ihre. »Du änderst mit Tiraden nichts, Gert.«

»Wenn es nur ginge. Auch ihn möchte ich wiederhaben. Ich habe so viel Sympathien für diesen Heimatlosen gehabt. Wie konnte ich sie so schnell vergessen? – Wenn ich noch an den letzten Morgen denke. Ich verstehe mich selbst nicht.« Er schwieg. Sein Stolz hatte sich damals gegen die Abbitte aufgelehnt. Am andern Tage hatte er sich für einen demütigenden Brief entschieden, der uneröffnet zurückgekommen war. Noch vorgestern war er durch die Dennewitzstraße gestrichen und hatte zu den erleuchteten Fenstern hinaufgesehen. »Ich werde es doch versuchen!« Auf der letzten Treppe war er wieder umgekehrt. »Wenn mir dieser arme Schlucker nun wirklich die Thüre wiese?« Gerade an diesem Abend faßten der Graf und Marie Ellers den Entschluß zu sterben.

»Ja, Lo, sie waren doch vornehme Naturen, die beschmutzt nicht leben konnten. Ich wette, daß der Entschluß ihm keinen Seufzer und ihr keine Thräne gekostet hat. ›Du willst nicht leben? – Ich auch nicht. Aber schnell; wir könnten uns sonst 369 besinnen!‹ Wie abgetragene Lappen warfen sie das wertlos Gewordene beiseite. Hättest du deinem Galan den Mut einhauchen können? In zwei Tagen der Weichling zum Manne gewandelt. Das vermag nur ein ganzes Weib. – Ich glaube an keinen Himmel und keine Hölle; aber es giebt Thaten, deren Vergeltung wir unerbittlich selbst übernehmen müssen. Hieran gehe ich zum Teufel . . . vielleicht langsam, vielleicht schnell.«

Frau Lo begann dieser phantasierende Lerden unheimlich zu werden. Der glühende Punkt des Wahnsinns schien ihm in seinen tiefliegenden Augen zu brennen. Doch im Grunde war sie selbst viel unheimlicher mit ihrer kühlen Objektivität. Angesichts des Todes so gefaßt zu sein, so praktisch, daß sie nur an sich selbst dachte! Ja, sie war in einer verzweifelten Situation. »Mir geht's so nahe wie dir, Gert, wenn ich es auch nicht so zeigen kann. Wenn einer schuldig ist, bin ich es.«

»Und du hast keine Reue?« Ohne ihre Antwort abzuwarten fuhr er fort. »Wie solltest du auch. Nach deiner Ueberzeugung hast du ja nur deine Pflicht gethan, festzuhalten gesucht, was dir gehört. Du bist nicht die Mörderin! Und wenn du es auch gewesen wärst, so bist du es doch nicht gewesen. Die sündigen in dir fort, die dich in die Welt gesetzt haben. Ihr Linkers habt kein Gewissen. Eure 370 Logik ist immer goldklar, immer dieselbe. ›Es ist vorbei, was nützt das Wimmern? Ja, wenn er lebte!‹«

»Das ist abgeschmackt, Gert. Wenn man wie du im Wohlleben sitzt, sind Gewissensskrupel keine schlechte Medizin für die Langeweile. Wärst du in meiner Lage, würdest du auch zuerst an dich denken. Ich werde mich durchs Leben hungern müssen, weil ich nicht Lust habe, mit meiner Mutter zu paktieren.«

Lerden antwortete nicht.

»Du bist empört, Gert? Welcher Cynismus!«

»Keineswegs. Uebrigens, du sollst nicht notleiden. Heute bin ich nur nicht zum Praktischen aufgelegt. Ich habe auch noch eine Kleinigkeit vor.«

»Und ich erwarte jeden Augenblick die Schwester.«

Der Sterbende fing wieder an zu phantasieren. »Der wird's bald gut haben.« Lerden lachte kopfnickend in sich hinein. »Geh nur. Ich mache auch, daß ich fortkomme.«

Lo war der Abschied sehr recht. In dieser Stunde hatte sie erst erkannt, welch breiter Abgrund zwischen ihnen klaffte.

Sie war wieder mit Fritz allein. Es ging zu Ende. Zusammenhanglos gemurmelte Worte – ein Ausruf, eine schrill ausgestoßene Anfangssilbe – darauf Stille, nur die bläulichen Lippen bewegten sich mühevoll auf und nieder. Der Körper lag gestreckt, 371 wie starr; der Kopf nach der Seite. Die Finger der rechten Hand tasteten unaufhörlich auf der Bettdecke. Lo ergriff die Hand, weil sie diese Bewegung ganz nervös machte. Der Sterbende versuchte wieder zu sprechen. Vergebens. Ein leichtes Röcheln stellte sich ein; die Unterlippe hing schlaff herab, so daß das weißliche Zahnfleisch sichtbar ward. Das Röcheln wurde stärker; die Augenlider senkten sich tiefer. Zuletzt arbeitete die Brust mit hohlem, pfeifendem Ton – in Absätzen – immer langsamer, immer matter. Lo fühlte auf einmal, wie seine Hand die ihre kraftlos zu umklammern suchte. – Eine Pause. – Ihr rann es eisig durch Mark und Bein – ein halber wie in der Kehle steckengebliebener Atemzug – ein halb singender, halb rasselnder Laut. – Fritz Rinow war nun wirklich hinüber. 372

 


 


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