Johannes Richard zur Megede
Unter Zigeunern
Johannes Richard zur Megede

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Achtzehntes Kapitel.

Beinahe zur selben Stunde hatte sich am Kurfürstendamm die letzte Scene der Liebeskomödie »Silowstrem-Rinow« abgespielt. Sie hatte weniger dramatischen Beigeschmack, das Gespräch mußte vorsichtig und leise geführt werden, denn im Nebenzimmer lag der Gatte. Der Tod hatte ihn bereits angehaucht, doch das Leben war grausam und ließ den Gequälten nicht. Lo saß im Erker und sah auf den Tanz der Schneeflocken. Sie ahnte die Entscheidung. Vor ihr stand der Graf.

»Nun, mein Freund? – Du siehst schlecht aus.«

»Lerden hat mir den Laufpaß gegeben.«

»Was da sagst! Der gute Gert ist spleenig, und man darf ihn nicht so ernst nehmen. Aber wie kam es?«

»Nenn es, wie du willst, ich nenn' es gemein. Es war meine bitterste Erfahrung. Und doch bin ich froh, daß ich sie gemacht habe. Adieu, letzte 329 Illusion von Freundschaft und Glauben! Daß man erst von allen verlassen sein muß, um sich selbst wiederzufinden! – Ich habe dir zu beichten, Lo . . .«

Sie war etwas unruhig auf dem Stuhl hin und her gerückt. Der Bruch mit Lerden kam ihr nicht gelegen. »Also schieß los, Hans!«

»Ich muß fort.«

»Auf lange?«

»Auf immer.«

»Ohne mich?«

»Ohne dich.«

Auf den Dialog war sie längst vorbereitet. Erst wollte sie es mit ihrer vernünftig-praktischen Art versuchen. »Nun setz dich erst mal, lieber Hans.« Er blieb stehen. »Du nimmst dir alle Sachen zu sehr zu Herzen. Laß doch den ›Salon‹ reden und thun, was er will. Die Ohren zu. Der Entrüstungssturm wird sich legen, die Verleger werden wiederkommen, und eines Tages wird auch der Professor Ellers sagen: ›Ich habe Sie immer hochgeschätzt und Ihre Neider verurteilt. Sind Sie an Ihrem Vater schuld oder er an Ihnen? – Ich denke das letztere.‹ Und die zweite Sache? Wen geht die etwas an, da sie auf eine so natürliche Weise sich gelöst hat.« Wie so oft glitt sie schnell zur Frivolität hinab. »Schlimme Zeiten muß jeder 330 durchmachen – Fegefeuer! – Gieb mir einen Kuß, und sprich nicht mehr vom Gehen!«

Er schüttelte den Kopf. »Gieb mir mein Wort zurück, Lo!«

»Kann ich nicht.«

»Dann muß ich es brechen.«

»Das wirst du nicht thun.« Sie stand auf und trat zu ihm. »Das wirst du nicht thun, lieber Hans! Sollen die Leute sagen, er war doch geriebener wie alle? Bis zuletzt hat er sich amüsiert. Als er sie ehrlich machen sollte, kniff er. – Du hältst doch so viel auf dein Wappenschild. Warum es beschmutzen?« Welch kleine Aristokratin sie war!

»Es ist schon genug beschmutzt.«

»Unsinn!« Sie sprach leise, eindringlich. Er fühlte ihren warmen Atem, er sah in ihre dunkeln Augen. Der Zauber bannte nicht. »Wie lange lebt er noch? Und dann will ich dir zeigen, welche gute Frau ich sein kann. Wir wollen zusammen arbeiten, zusammen leiden, zusammen uns freuen. Du weißt, daß ich Kraft habe. Ahnst du, wie viel dazu gehört, dies Leben zu ertragen? Seine Krankenpflegerin, immer ein fröhliches Gesicht. ›Es wird schon werden!‹ Und dabei hasse ich ihn – hasse ihn, denn er steht zwischen uns.«

Er erwiderte nichts und senkte den Blick.

»Ich habe viele Opfer gebracht, Hans. Die 331 mich liebten, die mir helfen konnten, habe ich von mir gestoßen – deinetwegen! Was fehlt noch, daß die Leute mir auf der Straße ›Dirne‹ nachrufen! Und nun kommst du: ›Das Verhältnis muß aufhören, deine Protektion ist nichts mehr wert, ich will eine andre Schulter, auf der ich zu Glück und Ruhm steige.‹ Sei gut, verlasse mich nicht, wie ich dich nicht verlassen habe. Ein Silowstrem hält, was er versprochen hat, und wenn er gesagt hat: ›Ich springe in einen Abgrund!‹ mein Wort darauf, er springt!«

Er wand sich vor ihrer Logik. Doch weder Vernunft noch Gefühl vermochten ihm den Sinn zu wenden. Die Ereignisse der letzten Tage hatten ihn härter gemacht und grausamer. Und mit dem Egoismus des eignen, großen Schmerzes antwortete er: »Das ist alles ganz schön. Mein Grafenschild . . . deine Liebe! Wahnideen! Das Schild hat man zerbrochen, noch ehe ich es tragen durfte. Ich habe es dann sorgfältig zusammengeleimt – ich Thor! Die Leute haben auf den Sprung hingewiesen: ›Wertloses Ding!‹ Sie hatten recht. Meine Ahnen sind ich und ich meine Ahnen. Was der eine verbricht, das büßt auch der andre. Die Erkenntnis kam mir zu spät; ich bin eben kein feiner Geist. – Und das ist noch nicht das Schlimmste. Als Edelmann verfemt, bin ich auch als Mann ehrlos geworden – durch 332 dich, Lo! Was ließest du dich damals küssen? Du hattest den Willen, ich war der kurzsichtige Knabe. Du hättest verständiger sein sollen. Den Abgrund sah ich erst, als ich drin war. Es ist nicht der Ehebruch, es ist die feige, ehrlose Art, wie ich den Todkranken belog. Ich habe seinen Wein getrunken, seine Zigarren geraucht, sein Weib verführt – wie gleichmütig! Lerden hat mich einen halben Schurken genannt, hier bin ich ein ganzer gewesen! Und das niedrigste . . .«

Sie unterbrach ihn. »Nicht so laut, Hans! Ganz reinlich geht es bei solchen Sachen nie zu, Reue ist für Philister! Du mußt an die treibende Kraft denken, an das Gefühl, welches auch die Schandthat adelt: du liebtest!«

»Liebtest? Deswegen bin ich ja hier, Lo. Ich habe dich nie geliebt!«

»So, so . . .« antwortete sie leichten Tones. Sie beherrschte sich wunderbar.

Er aber fuhr fort: »Und dadurch wurde ich auch an dir zum Schurken. Spucke mich an! Nenne mich mit meinem wahren Namen! Aber laß mich allein verkommen!«

»Und wenn ich das nun nicht thäte, behauptete: ›er belügt sich selbst‹?«

Der Graf lachte: »Ich habe allerdings so viel gelogen, daß man mir nicht mehr glauben kann.«

333 »Oder bist du anderweitig engagiert? Mir dämmert jetzt so etwas. Ein hohler Puppenkopf fesselt dich? Sie gilt als Heilige, deine Professorin. Ich will dir den Star stechen, mein Lieber. Sie hat mit Lerden ein Verhältnis gehabt und sehnt sich jetzt nach dem zweiten. Du hast ein schlechtes Renommee, das paßt ihr gerade. Durch Lerden ist sie auf den Geschmack gekommen. Aus seinen Händen kommen die Weiber immer reif für die Straße oder für das Kloster.«

»Schämst du dich der Verleumdung nicht?« Er richtete sich auf. »Sie ist rein, und niemand soll sie beschmutzen!«

Hier war der zugleich stärkste und schwächste Punkt der Festung. Sie hatten im vergangenen Monat Scenen genug gehabt, kleine und große, wo sie seinen versteckten Wunsch nach Trennung und das Zagen vor dem letzten Worte deutlich hindurchgefühlt hatte. Sie wollte dies letzte Wort vermeiden – um jeden Preis. Wie ein in die Enge getriebener Stier, störrisch, mit gesenktem Kopfe stand er da und wiederholte auf jeden Einwand sein eigensinniges »Ich habe keine Ehre mehr! Was nützt mir der Fetzen?«

»Ihr Männer tragt immer Scheuklappen!« Sie hoffte, daß er gar bald von seiner Glaubensseligkeit zurückkommen werde. »Lieber Hans, sage mir nur 334 eins! Verläßt du mich dieser Frau wegen?« Wenn nicht, war sie nicht ängstlich. Sie hatte ein viel zu kaltes Herz, um nicht an die Allmacht der Gewohnheit zu glauben. ›Wenn der nur erst hinüber ist, werde ich schon Wege finden!‹

»Diese Frau hat nichts damit zu thun!« Er log, mußte lügen, obgleich ihm doch gerade Frau Marie die springende Kraft des Entschlusses gegeben hatte. Sie durfte nicht teilhaben an seinem verfehlten Leben. Ueberdies hatte er den besten Willen, sie nie wiederzusehen. »Und gieb mir noch einmal die Hand, Lo! Was ich thue, muß ich thun, um uns beide nicht unglücklich zu machen.«

Ihre Hände zitterten ineinander, doch unter einem andern Gefühl wie ehedem. Er war froh, daß sie nichts hinzufügte und ihn gehen ließ. Sie wußte, wie brüchig sein Wille war. ›In acht Tagen ist er wieder hier!‹ Er wäre vielleicht gekommen. Doch da drängten sich die Verhältnisse dazwischen, und die waren stärker als er.

War es vorbei? – Würde sie nicht doch ein Mittel finden, ihn zu halten? Er hatte so wenig Glauben an sich. War ihre ruhige Fassung am Ende nur Maske? Und selbst, wenn es endgültig zerrissen, dies Band, war es nicht lächerlich, daß er sich fast ein Jahr mit dem Entschluß herumgequält hatte, um endlich die Kraft zu finden, als von der 335 Zukunft nichts mehr zu hoffen war? Nichts mehr! So schritt er in schweren Gedanken durch die Straßen. Die großen Schneekrystalle setzten sich auf seinen Mantel, in seinen Schnurrbart und blinzelten zerschmelzend: Vielleicht hast du doch noch Glück? Er war bis zur Dennewitzstraße gekommen, ohne einen Menschen gesehen zu haben. Der Unglückliche ist nie einsamer als unter der Menge! Doch was war das? Frau Marie? Sie stand vor einem kleinen Schaufenster und sah ihn nicht. Wie schön sie war! . . . Der blühende Leib, das feine Profil. In dem goldenen Stirnhaar glänzten tauige Flocken.

»Guten Abend, gnädige Frau!«

»Sie haben mich erschreckt!« antwortete sie zusammenzuckend.

»Das war nicht meine Absicht!«

»Wie geht es Ihnen?«

Er wich aus. »Wie immer. Doch was treibt Sie hierher? Sie stehen vor meinem Hause; dort oben wohne ich.«

»Das ist kurios!« Sie sagte bewußt die Unwahrheit. Wie viele Male war sie schon die Straße auf und ab gewandelt, ohne den begehrlichen Blick und das cynische Räuspern der vorübergehenden Herren zu bemerken! Sie hatte noch nicht den Mut gefunden, zum Grafen hinauf zu gehen. ›Er könnte 336 mich mißverstehen. Eheliche Streitigkeiten sind nicht für fremde Ohren . . . Was mache ich nur?‹

Sie standen eine Weile zusammen, scheinbar ganz aufgeräumt, die üblichen Phrasen wechselnd. Und doch war die konventionelle Tünche bei beiden nicht so stark, daß man in dem gespannten Ausdruck der Gesichter nicht hätte lesen können, wie ganz andre Gedanken ihr Herz bewegten. Er warf die Larve zuerst ab.

»Ich habe oft an Sie denken müssen. ›Ich habe Angst, daß es uns alle verschlingt.‹ – Mich hat Berlin bereits verschlungen.«

»Sprechen Sie nicht so.«

»Ich muß. – Jetzt gehe ich wirklich fort. Ich bin froh, Sie durch Zufall noch einmal getroffen zu haben – ein guter Zufall. Das Schicksal hat selten liebenswürdige Launen. Und so will ich Ihnen denn sagen, daß alles Glück eines verfehlten Daseins Sie gewesen sind. Senken Sie Ihre reine Stirn nicht! Dabei ist kein Gedanke, vor dem Sie erröten brauchten. Ich habe viel gesündigt, an Ihnen höchstens im Traum. Mein Stolz, mein Stern sind Sie gewesen – der einzige, an den ich felsenfest glaube. Sie kennen mein Leben oder ahnen es gewiß? – O ja, Sie ahnten es schon lange! Doch Ihr Herz hat nie mißbraucht, was der Kopf wußte. Die Ratten haben das Schiff verlassen – auch die 337 letzte – Sie haben Mitleid gehabt, ein großherziges, warmes Mitleid. Ich spürte es in Ihren lieben Augen, in Ihrer lieben Hand. Das hat mir die Kraft gegeben zur letzten That.«

Heiße Rührung stieg ihr vom Herzen empor; das feuchte Auge schimmerte. Auf einmal wußte sie, daß er ihr lieb war, lieber wie ihr Ruf, ihr Leben, lieber wie alles. »Wenn es das letzte Mal ist, so soll keine Lüge zwischen uns sein. Ich bin nicht zufällig hier stehen geblieben; ich wollte zu Ihnen.«

»Dann ist zu Haus bei Ihnen etwas vorgefallen?«

»Allerdings!« Mit feierlicher Umständlichkeit, bald stehen bleibend, bald einige Schritte vorwärts gehend, erzählte sie die häusliche Scene, mit der Modifikation, welche das Zartgefühl auferlegt. »Wenn er gesagt hätte: ›Ich glaube doch an dich!‹ ich hätte noch im letzten Moment alles vergeben.«

»Es muß doch irgend einer gewesen sein, der ihm den Verdacht einflüsterte?«

»O ja. Ein parfümierter Brief, den er schon tagelang in der Tasche herumträgt, immer in der Erwartung, mich bei einem Blick, einem Wort fassen zu können. ›Ehebrecherin! Ich habe dich längst durchschaut!‹«

»Sind denn die alten Männer alle stockblind in 338 ihrer wahnsinnigen Eifersucht? Er hat Sie doch lange genug gekannt!«

»Alter Mann!« – Sie fühlte den Stich, der auch für sie darin lag. »Das ist's ja eben. Die denken, Leichtsinn ist unser Charakter.«

»Und von wem war der Brief?«

»Ein Anonymus.«

»Wer konnte aber ein Interesse daran haben, gerade uns zu verleumden?«

»Ich habe mir darüber den Kopf nicht zerbrochen.«

»Haben Sie den Brief hier?«

»Ja.« Sie zog ihn aus dem Muff.

»Nur die Adresse.« Er trat an eine Laterne und las. Wie gut auch die Schrift verstellt war, den flotten Schwung, namentlich den Schnörkel des »H« in Hochwohlgeboren hatte die hübsche Lo nicht ganz unterdrücken können. Er erkannte die Schreiberin und wurde stumm, weil dieser schauspielerische Trick der »Salondame« ihm zeigte, zu was sie fähig war, und welchem Schicksal er entgangen.

»Nun?«

»Er ist von einer Frau.«

Plötzlich erriet sie. »Frau Rinow?« Und bei dem Gedanken an dieses herzlose Weib, dessen halb lächelnder, halb gleichgültiger Gesichtsausdruck angesichts der vor ihr niedergebrochenen Stute sie 339 damals so sehr angeekelt hatte – an dies natürlichste Produkt der »Salonmoral« – wurde ihr der Mann noch verhaßter, der wahrscheinlich den Verfasser erraten und dennoch an diesen anrüchigen Zeugen geglaubt hatte. So oft, so absichtlich hatte der Professor von diesem skandalösen Verhältnis zwischen der hübschen Lo und dem Grafen gesprochen. – ›Ein Verhältnis von grandiosem Cynismus!‹ – und auf ihre entschuldigende Antwort. »Tout savoir, c'est tout pardonner« so hämisch gelächelt. Wie durchtränkt von Gift doch alles war. Jetzt schämte sie sich in des Grafen Seele dieses Verhältnisses. ›Daß er auch so verdorben sein konnte!‹ Ein Gefühl von Uebelkeit kam ihr, der Kopf wurde leer, vor den Augen tanzten bunte Lichtreflexe. Sie griff mit der Hand ins Leere, um sich zu stützen.

»Ihnen ist nicht wohl, gnädige Frau?« Der Graf faßte ihren Arm; sie lehnte sich matt an ihn. Er fühlte den schweren aussetzenden Schlag ihres Herzens. »Soll ich Sie nach Hause bringen?«

»Nein. Ueberall – nur nicht dahin,« hauchte sie.

Es war ein peinlicher Moment, und nur ungern entschloß er sich zu dem Natürlichsten, sie auf sein Zimmer zu bringen. Während er die Kraftlose die Treppen hinauf halb trug, halb zog, erzählte sie wie im Traum, abgebrochen, leise die häusliche Scene weiter. »Er hat die Hand gegen mich erhoben . . . 340 er hat es gewagt . . . weil ich Ihnen von seinen Zigarren angeboten habe . . . Er hätte viel aufgegeben wegen mir . . . Ich sollte wohl auch noch Geld und Konnexionen mitbringen. Vielleicht verlangt er noch mehr?« Es war die im Innersten getroffene Frau, welche hier rücksichtslos die innerliche Unwahrheit dieser ungleichen Ehe darlegte. Wie kurzsichtig, wie kindisch eitel mußte der Mann sein, der den Streich wagte, ohne zu bedenken, daß, wenn er traf, er auch ihr Verhältnis tödlich treffen mußte.

Sie saß auf dem roten Plüschsofa, matt, zusammengebrochen. Der Sturm war vorüber, eine gedankenlose Apathie hielt sie gefangen. War es anständig, hier zu bleiben, wenn es unter die Leute kam, nicht ihr Ruf unwiderbringlich verloren? »Sie besucht ihn schon zur Nachtzeit!« Vielleicht reichten ihre Gedanken noch so weit, nicht ihre Kraft. Man wird so schnell stumpf. Der Graf hatte die Lampe nicht finden können – wahrscheinlich machte sie die Wirtin erst jetzt zurecht. Er zündete den Lichtstumpf vom Nachttisch an. Große Schatten tanzten auf den schmutzigen Tapeten, dem kalten Ofen. Die gleichgültige Umgebung sah im ungewissen Halbdunkel noch zigeunerhafter aus. Staub auf dem Mahagonitische, die Aschenbecher nicht ausgeschüttet. ›Er kommt nur zum Schlafen hierher, die Unordnung 341 sieht er gar nicht,‹ war überall zu lesen. Sie sahen und fühlten es beide nicht.

Der Graf saß vor ihr und versuchte ihr Mut zuzusprechen. »Fassen Sie sich; niemand, der Sie kennt, wird Ihren Schritt verurteilen. Man muß sich losreißen, solange es noch Zeit ist. Um Sie habe ich keine Angst. Sie werden Ihr Glück noch anderwärts finden.« Es waren gutgemeinte Redensarten. Und doch thaten sie ihr wohl. Ihn aber drängte jetzt ein heißes Gefühl, das übervolle Herz beim letzten Zusammensein auszuschütten. ›Ob auch sie mich verurteilt?‹

Und allgemach, wie zufällig, glitt seine Rede über die glatten, abgespülten Kiesel der Phrase hinweg in das felsige, wirbeldurchbrauste Bett eines Geständnisses. Frau Marie hörte ihn nur halb. Er hatte die Stirn in den aufgestützten Arm gelegt, um sie nicht ansehen zu brauchen. Es war ein gutes Gesicht, in das sie blickte, und ein schwaches Herz. Kein Held, den wollte sie auch gar nicht. Erschien ihr doch der Mensch mit seinem großen Wollen und schwachen Können viel interessanter, viel reicher als jene ganzen Naturen, die immer wie von Postamenten kalt und gefühllos auf uns herabschauen. Sie war wirklich Weib. Die Sympathie des Elends fühlte sie tief.

Der Graf sprach von seiner Jugend, dem 342 untilgbaren Makel auf seiner Familienehre. Das wußte sie alles lange. Dann kam er auf Lo, ihr Verhältnis. Etwas Ungesundes, nie Gekanntes wehte sie an, wie heißer Brodem in Hochsommernächten aus giftigem Sumpfe emporsteigt. In der Angst, zu wenig zu geben, gab er zu viel, riß sich als echter Schwächling unmutig die eiternden Wunden auf und empfand ein düsteres Behagen, wie das Blut herausströmte. »Sie ist unschuldig. Ich allein bin der Verbrecher. Wie konnte sie ahnen, daß ich ein Jahr hindurch log, mit ihr Komödie spielte, mich von ihr ›machen‹ ließ, ihr Geld nahm – mit immer wachsendem Hasse und doch unfähig zu dem erlösenden Worte: ›Ich liebe dich nicht!‹ Ich hatte ihr gegenüber eine Pflicht, von der nur sie mich befreien konnte. Und endlich brach ich diese Pflicht, weil ich die Last nicht mehr tragen konnte, brach sie trotz Ehre und Gewissen. Ehrlos! Ich will verrecken, umhergestoßen, schmutzbedeckt, in einem Winkel, einem Asyl für den Auswurf – aber ohne sie, ohne sie!«

Frau Marie war halb betäubt, halb ernüchtert; sie wollte sagen: »Nicht weiter! Lassen Sie mich fort. Der wahre Schmutz der Riesenstädte ist nicht in den Kellerwohnungen.« Und doch konnte, durfte sie ihn nicht allein lassen. Sie liebte. In dem schweren Kampfe zwischen der Frau und dem Weibe brach sich eine andre Wahrheit Bahn. ›Und was 343 habe ich gethan? War ich nicht viel schlechter, als ich den alten, ungeliebten Mann heiratete – eine Ehe, wo die Ehrlichkeit sein soll und die Lüge herrscht? Dieser Lerden hatte recht. Ein elendes Leben!‹ Von einem eisigen Hauche angeblasen, objektiv wie eine Fremde sah sie ihre eigne Ehe vor sich. Lag nicht die häßlichste, niedrigste Heuchelei schon von Anbeginn in diesem konventionellen, von der Gesellschaft der Natur in langem Kampfe abgetrotzten Verhältnisse? Man liebt nicht und heiratet doch. »Der Seelenorkan wird ja nie kommen, die Fessel der Pflicht nie brechen!« Welcher Trugschluß! Hier saß sie und hatte innerlich bereits die Ehe gebrochen, weil ihrer angelernten Moral hier plötzlich etwas entgegengetreten war, etwas Heißes, Flammendes, dessen versengenden Odem sie spürte. Unerbittlich wie ein Naturgesetz zog es sie an sich, umschlang sie, machte sie wehrlos. Das höchste Glück und das tiefste Weh mischen sich in solchen Gefühlen, mit denen eine lang geknechtete Natur ihr gutes Recht heischt – um jeden Preis.

›Wenn ich doch Fischblut hätte, kein Herz!‹ Die eingeschnürte Gesellschaftsmoral machte verzweifelte Anstrengungen. ›Und dennoch! Mögen sie auf mich mit Fingern zeigen, mich mit Schmutz bewerfen.‹ Der eine selige Augenblick, dann eine Ewigkeit voll Elend. Wer wird markten?

344 Der Graf sah den Kampf nicht, zu sehr mit dem eignen Schicksal beschäftigt. ›Sie soll alles wissen; und dann fort.‹

Sie wußte besser, was kommen würde, wußte, daß dieses schwache Beichtkind, welches sich jetzt mit bebender Faust in das blonde Kraushaar packte und nicht aufsah, den Kopf in ihren Schoß legen, Absolution verlangen würde. – Welche Absolution! – Daß er immer mehr verlangen würde, bis sie weit die Arme öffnete: Nimm alles! Man lebt nur einmal. Sündigte sie dann? Das Weib war in ihr lebendig geworden, der Naturinstinkt regte sich, und sie antwortete: Nein! Dennoch bangte ihr vor dem Moment. In der Durchschnittsehe bleiben oft die Frauen innerlich jungfräulich, bis sie sich mit einmal ganz vergessen. Siedend schoß ihr das Blut zum Herzen. Er sah nicht auf. Wenn er überhaupt nicht aufsehen, nicht verstehen würde? Ein unklares Gefühl von Rettung ließ sie tief aufatmen. Er hob den Kopf.

»Und da kamen Sie . . .« Er hielt inne.

Draußen rüttelte der Wintersturm an den Fenstern, neugierig setzten sich die Schneeflocken an die Scheiben. Die Wirtin klopfte: »Herr Graf, die Lampe.« Sie hörten es nicht. Der lange Räuber am Licht knisterte und sprühte. Höhnische Schatten tanzten riesengroß durch das Zimmer. Der Stearinstumpf leuchtete 345 unsicherer, knisterte lauter, noch einmal leuchtete der Lichtschein hell auf – dann dunkel. Schweigend umfing sie die Liebesnacht.

Was ist Vernunft, Moral? – Es giebt höhere Gesetze. 346

 


 


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