Johannes Richard zur Megede
Unter Zigeunern
Johannes Richard zur Megede

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Viertes Kapitel.

Einige Tage später erkletterte Lerden die teppichlosen Treppen der gräflich Silowstremschen Wohnung in der Dennewitzstraße. Er wohnte sehr hoch, der gute Graf, beinahe unter dem Dach, und Lerden konnte sich eines ironischen Lächelns nicht erwehren, als er in diesem von allen Kohldünsten erfüllten Hause die weiße Karte mit der neunzackigen Krone erblickte, die auf dieser schmutziggrauen Thür neben dem gesprungenen Porzellangriff des Klingelzuges wie eine demokratische Versöhnung des Standesbewußtseins aussah. Die Wirtin, welche angesichts dieses feinen Herrn sich ihres zum Scheuern aufgesteckten Rockes und der roten Plebejerarme einigermaßen schämte, versicherte zwar, Herr Silowstrem sei zu Hause; aber der Graf bedauerte unendlich, »er befände sich nicht wohl«.

Seitdem entspann sich ein Verkehr zwischen den beiden, rege, nicht intim; dazu waren sie zu 62 verschieden. Besonders dem Grafen war es eine angenehme Anregung, dieser Besuch bei dem feinsinnigen Lebemanne, namentlich jetzt in den leuchtenden Frühlingstagen, wo zwischen den kahlen Mietskasernen der laue Lenzwind mit den Gerüchen der Grünkramkeller und Destillationen kämpfte. ›Wie ist er doch glücklich!‹ dachte der Graf jedesmal, wenn er an der Haltestelle ausstieg und ihm aus den baumbepflanzten Straßen des kleinen Vororts ein Hauch von Ruhe und Einsamkeit entgegenwehte. Dann der Weg an den neuen Villen vorüber, die, wie Nippes klein und zierlich, alle mit grünumrankter Veranda und duftigen Gärtchen diesem unfreiwilligen Zigeuner ein lockendes Bild stillen Glückes vorgaukelten. Erst angesichts der Lerdenschen Villa wurde sein aristokratisches Gefühl wieder wach. Sie lag abseits. Ein englischer Park mit schöngeschorenem Rasen und dunkeln Baumgruppen trennte sie von den sauber glacierten roten oder gelben Ziegelhäuschen. Die Vorörtler, die mit dem Grafen denselben Weg gingen – Kaufleute, die hier in der Sommerfrische wohnten, mit Paketen beladene Subalternbeamte, Militärs a. D. mit einem schneidigen Etwas in ihren steif gewordenen Beinen und einer ablehnenden Kälte in ihren graublauen Augen und dem aufwärts gestrichenen Schnurrbart – sahen meist mit einem neugierigen Erstaunen, wenn sich die schwere Parkthür vor dem Grafen 63 kreischend öffnete. Sie waren es seit Jahren gewohnt gewesen, in dem Lerdenschen Park nur Gartenarbeiter zu sehen, die den Sprengschlauch und die Rasenmaschine mit einer lauten Lässigkeit handhabten, welche die Abwesenheit des Herrn verrät. Jetzt sah man zuweilen auf den gelbglänzenden Hauptwegen eine schmale Wagenspur; gelbe Gartenmöbel sahen durch die tief herabhängenden Zweige einer Trauerweide, und wenn wie heute die Frühlingssonne es besonders gut meinte, saß dort ein hübscher Herr, den das laute »Gott, muß der reich sein . . . einer von der Börse« der Vorübergehenden oft veranlaßte, einen spöttischen Blick durch das hohe, feinmaschige Drahtgitter zu thun und sich dann wieder gleichmütig der Zigarre und der Lektüre zuzuwenden.

»Ich störe wohl?«

»Nein, Sie sind mir sehr willkommen, Herr Graf,« sagte Lerden, ihn herzlich begrüßend. »Wenn es Ihnen recht ist, bleiben wir hier. Mein mittelalterlicher Käfig ist an Apriltagen mit Regenschauern und einer trüben Sonne sehr gemütlich, aber jetzt . . .« und mit einem ironischen Kopfschütteln fortfahrend: »Ich bin unschuldig an dieser Villa; eine tolle Idee meines Vaters, der dieses Nürnberger Stadthaus hierher verpflanzt hat als Erinnerung an seine süddeutsche Heimat und die unwandelbaren Patriziertraditionen unsers Geschlechtes.«

64 »Jedenfalls sehr eigenartig.«

»Das ist Lerdenscher Sport seit Olims Zeiten. Eine Mißgeburt bleibt's doch!«

Er hatte recht. Zwischen hohe Fichten auf eine kleine Anhöhe gebaut, rief dieses Patrizierhaus mit seinen tiefen Fenstern und zierlichen Erkern, auf die das stumpfgraue, steile Schieferdach wie eine Last sich herabsenkte, sofort den Gedanken an enge Straßen und wohlverwahrte Hansastädte wach. Man hätte sich kaum gewundert, wenn Makarts Patrizierin in ihrem pelzverbrämten Mantel plötzlich aus der dunkelgeschnitzten Eichenthür hervorgetreten wäre, und hinter den bunten, bleigefaßten Scheiben, die den Eindruck düsterer Abgeschlossenheit noch erhöhten, sah selbst des Dieners sehr gewöhnliches Gesicht ganz mittelalterlich aus.

Der Graf hatte höflich widersprochen. Doch diesen eigensinnigen Kontrast zwischen Haus und Umgebung fühlte er sehr wohl, zumal heute; – der glitzernde Rasen duftete frisch, in dem hellen Gezweig der Büsche hüpften die Vögel, die kleine Gartenfontäne plätscherte, darüber der Himmel blau, wolkenlos, alles in Glanz und Sonne getaucht – sah das Patrizierhaus, dessen Giebel und Türmchen aus den Fichten hervorlugten, einem Gefängnis verzweifelt ähnlich.

Der Diener brachte Wein, die Zigarren wurden 65 angezündet. Die Unterhaltung drehte sich um Reisen, die Weltstädte. Lerden sprach fast allein, ein wenig schleppend, geistreich, in seiner leicht cynischen Manier, der er alle seine Erfolge bei den Frauen verdankte. Er hatte eine merkwürdige Fähigkeit, den Dingen die schwache Seite abzugewinnen. Doch der Ton, ein kühler, selbstverständlicher Ton, verletzte den Grafen beinahe.

»Ja, Reisen. Wenn unsereiner sich ins Fremdenbuch schreibt – er mag auch das beste Zimmer haben –, zuckt der Oberkellner doch lächelnd die Achseln: Lerden – bürgerlich – Parvenu . . . Wir haben in der gesellschaftlichen Hochachtung höchstens den Kurs wie unsre Aktien. Ganz anders bei Ihnen! Graf Silowstrem . . . Teufel! Es müßte schon ein ganz hartgesottener Sünder sein, der nicht freiwillig seinen Rücken beugt; Sie können sogar in der sechsten Etage wohnen.«

Das klang wie Hohn. Aber der andre irrte sich darin. Ihn zu beleidigen, das lag Lerden sehr fern. Ein vornehmes Etwas war selbst in seinem Cynismus. Viel mehr Aristokrat, als seine Paradoxen vermuten ließen, hatte er ein warmes Gefühl für diesen Ausgestoßenen. Der Graf empfand dies instinktiv durch alle gesellschaftliche Kühle hindurch.

Bei der zweiten Flasche des schweren Rheinweins taute er auf. »Wie glücklich Sie doch sind! . . . 66 Ja, wenn ich . . . aber ich will auch glücklich sein!« Er umklammerte den zierlichen Fuß des Römers; seine blauen Augen glänzten. Als wenn das Glück auch ebenso leicht zu fassen wäre!

»Glücklich?« Lerden maß ihn mit einem langsamen Blicke. »Sie beten das also auch nach. Weil ich reich bin . . .« und plötzlich den Ton ändernd: »Allerdings Auffassungssache wie alles im Leben . . . Mir fällt da eine Geschichte ein.« Er schnitt sich die Spitze von einer neuen Zigarre ab, und während er sie mit einer absichtlichen Langsamkeit anzündete, fuhr er fort: »Eine Bagatelle, noch dazu von meinem erbittertsten Feind. Aber sein Schicksal hat einige Aehnlichkeit mit dem meinigen. Er war reich, unverheiratet, so alt wie ich und hatte viel gelebt. Seine Katzennatur vertrug das. Blasiert wie er war, empfand er nicht einmal einen Wunsch, nur eine gewisse Leere. Ich kenne das auch. Der Mann kam von einem etwas wüsten Dinertempel nach Haus, gelangweilt; er hatte einige Kronen gewonnen. Es war ein Tag wie heute, doch viel später. Er setzte sich noch eine Stunde in seinen Garten, um auszuruhen, zu grübeln. Was weiß ich! Die Zigarre schmeckte ihm nicht. Sollte es zu Ende gehen? Der Gedanke hatte gar keine Macht über ihn.

»In einer Kneipe nebenan war Tanzmusik. Er hörte die quiekenden, schnarrenden Laute der Geigen 67 und des Basses, immer ein paar Töne zu hoch oder zu tief. Das ging ihm auf die Nerven. Endlich, Schrumm! Tanzpause. Durch das Gitter des Gartens sah er, wie die verliebten Pärchen, aneinander gesogen in der schwülen Atmosphäre des Sommerabends, zusammenstanden. Zugleich kam auch ein Duft von Bierresten, Fusel und schlechten Zigarren herüber. Ein junger Bursche sprach ein gemeines Wort, laut, ungeniert; die Mädchen lachten. Welches Vergnügen! Der Mann erhob sich. Die Musik setzte mit einem schrillen, falschen Ton wieder ein. Er ging noch eine Weile zwischen den duftenden, tauigen Blumenbosketten auf und ab. Eine Nachtigall schlug, der Mond schien hell auf den verschlungenen Kieswegen. Da hatte er einen sehr alltäglichen Anblick. An der Gartenpforte stand ein Kind, zerlumpt, schmutzig; es war ein Mädchen, aber mit einem frühreifen, sinnlichen Ausdruck in dem breiten Munde und den schwarzen Augen, ein Paar echter Zigeuneraugen. Dem Manne kam es merkwürdig vor, warum das halbwüchsige Ding an seiner Gartenthür lehnte, ohne einen Blick auf die erleuchteten Fenster des Tanzlokals zu werfen. Natürlich beneidete sie ihn. Er hatte zuweilen großmütige Launen und gab dem Kind ein Zwanzigmarkstück. Eine lächerliche Angst hatte ihn nämlich gepackt. Wenn nun auf einmal diese Höllenmusik schrill 68 abbräche, und die betrunkene, übelriechende Gesellschaft sich auf dein vornehmes, wohlgepflegtes Besitztum stürzte, nur mit dem einen Gedanken, dich zu zerreißen, weil du reich bist und sie arm? Aus den unheimlichen Augen dieses Großstadtkindes hatte ihm so etwas entgegengefunkelt. Am andern Tage begab er sich auf Reisen. Seine Nerven waren zum Teufel und wahrscheinlich auch sein Verstand. Er kam übrigens bei der Gelegenheit vom Regen unter die Traufe, denn von seinen Reisen brachte er noch etwas andres mit. Doch das gehört nicht hierher.«

Der Graf sah ihn erstaunt an. »Das sind ja aber Sie! . . . und dann muß doch . . .« Der Gedanke an die Professorin durchzuckte ihn plötzlich. »Sollte sie . . .?« Er hatte so einen Animus, als wenn eine Frau die Hauptrolle in diesem verfehlten Leben spielen müsse. Und um zu sondieren, warf er ein »Cherchez la femme« hin.

»La femme? Sonderbar, wie Sie darauf kommen . . .« Ueber Lerdens etwas verlebtes Gesicht, das während des Sprechens durch den Anflug von Melancholie besonders anziehend gewesen war, vielleicht weil man ihn hier am wenigsten suchte, legte sich urplötzlich, grau wie ein Tuch, wieder der gewöhnliche kühlspöttische Ausdruck. An dem langsam und pointiert wiederholten: »Sonderbar, wie Sie 69 darauf kommen«, merkte der Graf, daß die Situation ernst zu werden begann.

»Aber wie können Sie nur darauf hereinfallen! Ein Weib? Natürlich hat jeder eine gehabt, die ihn auf Zeiten ruinierte, so oder so.« Er zeigte erst auf die Tasche und dann aufs Herz. »Doch Sie – Sie . . .« Und um dem andern zu beweisen, wie lächerlich, halb unbewußt diese hingeworfene Phrase gerade einem so ausgesprochen kühlen und skeptischen Charakter gegenüber sein müsse, rekapitulierte er einen Ausspruch Lerdens: ›Ich kenne nur eine Frau, und die kennt mich, Gott sei Dank! nicht mehr.‹ – »Als ob man überhaupt die Frauen gründlicher verachten könne! Gebrauchsware . . . voilà tout. Und aus dem Alter, wo man sich an die hängt, sind Sie doch heraus. Selbst wenn eine Frau über Sie Macht gewönne . . . selbst wenn! Sie sind doch der Mann, um sich das alles mit einer einzigen Armbewegung vom Leibe zu schaffen. – Ja, ich!« Die schmerzliche Erinnerung an sein eignes Leben, verfehlt, noch ehe es begonnen, verdüsterte sein von einem glücklichen Optimismus leuchtendes Gesicht. »Aber Sie, einer von den Glücklichen, die von Jugend auf nur ihr ›Ich habe Lust‹ zu sprechen brauchten und dem« – er zeigte auf den Park, wo die langen Schatten der Bäume auf dem Sammetrasen wie zur Nachmittagsruhe sich ausstreckten, und den in grünen 70 Kelchen mattblinkenden Wein – »das Schicksal jede Bitte erfüllte, beinahe noch ehe sie ausgesprochen! Wollen wir vielleicht tauschen?«

Lerden hielt seine feine, blutlose Hand gegen das Licht, welches in einem breiten, roten Strom durch die Zweige der Trauerweide drang und die Gesichter der beiden mit lachendem Glanz übergoß. »Ein schöner Tag . . . Aber sagen Sie, man wünscht doch oft etwas, als Kind ein Spielzeug, später Geld, was übrigens denselben Wert hat, und das Schicksal ist liebenswürdig, erhört uns – haben Sie da nie so eine bittere Enttäuschung über diesen heißersehnten Besitz gefühlt? In dem Falle bin ich.«

Der Graf verstand diesen unverbesserlichen Skepticismus kaum. »Das ist also Ihre gewisse Leere! Na, so möchte ich Sie mal auf einige Tage in meiner Haut wünschen! Leere ist da auch, und zwar im Beutel. Mein Vater hat va banque gesetzt, verloren, und ich bin ein so armer Kerl, daß mir das Schicksal höchstens meinen Grafentitel nehmen könnte, sonst nichts. Und Sie thun genau so, als wenn wir auf denselben Eiderdaunen schliefen. Ach nein, mein bester Herr Doktor, Sie würden mein Leben ja gar nicht aushalten. Doch ich, leichtlebig wie ich bin, habe noch nicht die Hoffnung aufgegeben, recht glücklich zu werden.«

Lerden rührte dies Geständnis. Er hatte die 71 hübsche Lo im Verdacht gehabt, daß sie bei dem traurigen Gesicht etwas aufgetragen, Theater gespielt nach Salonmanier. – Also wahr war es. Im Grunde war aber dieser Zigeuner doch zu beneiden.

»Ihr Optimismus steckt an,« und als Abkühlung: »Solche Dinge beichtet man seiner Frau, höchstens seiner Geliebten . . . Doch apropos. Es ist sechs Uhr. Wenn es Ihnen Spaß macht, noch eine kleine Tour ins Bois?«

»Aber . . .«

»Kein ›Aber‹, Herr Graf! Wir sind Junggesellen. Jetzt will ich Ihnen erst noch meinen Rennstall zeigen; vier Klepper, nicht mehr und nicht weniger.«

Der Stall lag hinter dem Patrizierhaus, in Tannen und Gebüsch vergraben. Der Graf wurde ordentlich aufgeregt, als er seinen vielgeliebten Stallduft einsog. Er betastete liebevoll das knirschende Leder der englischen Sättel, welche der Groom, ein dünnbeiniger Kerl mit einem Gesicht wie rissiges Leder, in der kleinen Remise aufgereiht hatte. Wahrhaftig, dieser Lerden hatte gut sagen: »Ich bin nicht glücklich!« in dieser Atmosphäre des Reichtums.

»Diesen Gaul hat noch mein Vater als Zweijährigen aus England mitgebracht, Hunter – hängt etwas in den Knieen – aber Aktion! Das dort ist mein Trakehner.«

72 Der Graf hörte mit Kennermiene diese Erklärungen, und als die Kutschpferde herausgeführt wurden, ein paar große Braune, die, ganz krumm und mager, nur in den feurigen Augen ihrer kleinen Köpfe Leben zu haben schienen, bemühte er sich eifrig, einen Fehler zu finden. Er klopfte ihnen den dünnmähnigen Hals und befühlte die Beine und die seinen Fesselgelenke. »Etwas Spat,« worauf der griesgrämige Groom, der gar keine Ehrfurcht vor hohen Herrschaften kannte, respektwidrig murmelte: »Er hat wohl selbst den Spat.«

»Aber Blut, Herr Graf, Blut!«

Als sie einige Minuten später auf dem hohen zweirädrigen Modekarren Tandem die P . . . Chaussee entlang fuhren, merkte das der Graf allerdings. Er kutschierte selbst. »Es freut mich, daß es Sie so sehr entzückt,« hatte Lerden vorhin gutmütig gesagt.

»Sehen Sie, wie sie gehen, die Schinder?« Der Millionär zeigte auf den weit vorgestreckten Hals der Tiere, die spielend leichte Gangart, wie sie über die harte, ziemlich menschenleere Chaussee mit einem gleichmäßigen, flüchtigen Hufschlag dahintrabten. Erst als die schmalen Hickoryräder mit einem schweren Ziegelwagen in bedenkliche Berührung kamen, so daß der Groom fast von seinem schaukelnden Rücksitz geschleudert wurde, mäßigte der Graf das Tempo.

Sie waren in den Umkreis des arbeitenden 73 »Berlin« gekommen, dessen mächtigen, fiebernden Pulsschlag man aus dem keuchenden Atem der Lastpferde und dem schrillen Pfiff der Dampfbahn so gut heraushören konnte wie aus dem dröhnenden Getöse der über die Eisenüberführungen rollenden Ringbahnzüge. Scharen von bestaubten Arbeitern, das Handwerkszeug auf dem Rücken, abgetrieben wie die Pferde der Milch- und Gemüsewagen, die auch das laute »Hü« und die Peitschenhiebe nicht aus dem müden Trott bringen konnten – sahen halb stumpf, halb neidisch dem vornehmen Gefährt nach, das inmitten dieses Wagen- und Menschengedränges sich widerwillig zum Zotteltrab seiner plebejischen Umgebung bequemen mußte. Der Graf sah von allem nichts. Er war so glücklich, auf dem leichtfedernden Sitz thronen zu können, Aristokrat, wie seine Neigungen, während er doch eigentlich zu denen da unten gehörte, welche beschmiert und schweißig die harten Spuren der Arbeit an ihren schwieligen Händen und den vermagerten, knochigen Gesichtern trugen.

Wie merkwürdig schmiegsam doch dieser heruntergekommene Aristokrat war! Den Augenblick zu genießen, das verstand er. Lerden sah es mit ironischem Lächeln. »Welch göttlicher Leichtsinn!«

Das Gesicht gerötet, kleine Fältchen auf der Stirn, war der Graf jetzt nicht weniger ungeduldig 74 geworden wie die Rassepferde, aus diesem schier endlosen Feierabendgewimmel herauszukommen. Als er endlich in eine unbelebte Seitenstraße einbiegen konnte, schwang er seelenvergnügt die lange Peitsche, und die Tiere flogen in einem gestreckten Trabe dahin, vorüber an einer langen Reihe von Neubauten, deren leere Fensterhöhlen und ungestrichene Balkons so recht nüchtern und frostig auf die sprießende Saat der gegenüberliegenden Felder starrten. Berlin war hier aus seiner Jacke herausgewachsen. Es war, als wenn man den erstickenden Dunst seines Riesenleibes auf den öden, inmitten des Frühlingsgrüns wie verwüsteten Bauplätzen, auf den Holzbaracken und den wenigen wie zum Trotz stehen gebliebenen Bauernhäuschen lasten sehen könne. Dahinter, in weiten Bogen ausholend, dehnte sich das Häusermeer mit seinen zahllosen Fabrikessen und Schloten, deren dicker Qualm in den blauen Maihimmel aufstieg und, von dem leisen Wind getragen, langsam herüberzog.

»Sie üben sich schon im Barrikadenbau!« sagte Lerden, als sie an einem dichten Haufen Kinder vorbeifuhren, welche schmutzig, blaß, die richtige Brut der Weltstadt, unter lautem Gekreisch einen Bauplatz verteidigten.

»Wie, was?« Den Grafen fesselte ein viel interessanteres Bild. Die Straße kreuzte hier die Dampfbahn. In den vollgepfropften Waggons saßen 75 Näherinnen, Konfektioneusen, Ladenbengels, meist blutjung, kichernd, verlebt. Es war Mittwoch heute, und das arbeitende junge »Berlin« sehnte sich aus dem Dunst seiner Straßen nach Natur.

Seltsame Natur, der das fadenscheinig-elegante Volk da zustrebte! Die Spitzen, Türmchen, Dächer der Riesenetablissements der Vororte – pittoresk, lustig, eine Fata Morgana in der märkischen Wüste – zeichneten sich in der Ferne gegen den blauen Abendhimmel ab, aus dem schon Sterne matt hervorblinkten. Als der Graf am langsam rollenden Train, dessen gezogener Dampfpfiff die Vollblutpferde zusammenzucken machte, elegant vorüberfuhr, verspürte er im Anblick von ein paar jungen, angehenden Kokottengesichtern ein prickelndes Verlangen, da so ein wenig mitzumachen.

»Wollen wir?« Er zeigte lustig blinzelnd mit der Peitsche nach dem Wilmersdorfer Seebad.

»Ich danke.«

Aergerlich über diese unhöfliche Kürze fuhr er langsam durch eine der toten, eleganten Straßen des äußersten Westens. Der Hufschlag dröhnte laut zwischen den hohen, wie ausgestorbenen Mietspalästen. »Wie langweilig!« Aber gleich wieder entzückt und erfrischt durch den Anblick der hellgrünen, rauschenden Baumwipfel des Tiergartens, der ganz nahe vor ihnen auftauchte, sagte er warm: »Es ist doch wunderschön!«

76 Lerden nickte ein: »Ja.« Seine Gedanken waren ganz wo anders. Und während der Wagen schnell und geräuschlos durch die dämmerigen, hier fast menschenleeren Alleen hinglitt, spann er die Geschichte seines »ärgsten Feindes« fort.

Sein ärgster Feind, das war er selbst.

»Nett, so in der Welt herumzukutschieren – nur etwas angreifend – was, Lerden?« hatten zwinkend einige leichtsinnige Freunde bemerkt, die er, als Gigerl frisiert, kaum menschenähnlich wiederfand.

Nett – es war zum Lachen. Wenn die geahnt hätten, daß der feine Lerden, müde, abgelebt wie er war, sich monatelang in Pompeji verkrochen hatte – im Hochsommer in einem erbärmlichen Albergo, schlecht verpflegt, als einzige Gesellschaft einen hohläugigen Architekturmaler, der vor den Fieberdünsten Pästums geflohen war! Und doch hatte er sich hier ganz glücklich gefühlt. Wie hatte ihm die Einsamkeit wohlgethan! Dabei hatte er die meiste Zeit des Tages auf dem vornehmsten Möbel seines weißgetünchten Zimmers, der knarrenden Eisenbettstelle, kampieren müssen, weil die Sonne gar zu sengend auf der Totenstadt und der weißen Landstraße lag. Aber die Nacht, eine sternenflimmernde, laue Nacht, entschädigte ihn für alles. Es waren so köstliche Augenblicke, welche er hier verlebt hatte mit dem Maler, einem zottigen, steifnackigen Kerl, der auf 77 den Steinstufen des alten Amphitheaters sich ungeniert neben Lerden hinflegelte und stundenlang schweigend auf den toten, grauen Aschenkegel des Vesuvs starren konnte, wo der Dampf als leichte Wolke über dem grollenden Krater schwebte, und die glühenden Lavaaugen in der Mitte des Berges düsterrot herabfunkelten.

Er konnte sich gar nicht satt sehen an diesem großartig eintönigen Bilde.

Es war für Lerden eine Art Selbstquälerei, die Erinnerung an dieses Bild, welches er haßte. Es kam ihm überhaupt das alles vor wie eine ausgesuchte Teufelei der Vorsehung. Ganz ausgesucht! Dabei war die Sache so hübsch eingefädelt wie bei der besten Komödie. Er erinnerte sich sehr wohl noch jener wunderbaren Nacht, wo der blatternarbige, häßliche Maler mit dem leidenschaftlichen Zucken um den aufgeworfenen Mund redselig wurde, auskramte – eine ganze Lebensgeschichte, bei der nichts interessant war als die Schwester, die früh an einen alten Mann verschacherte Marie.

»Und ist sie schön?« es lag schon eine ganze frivole Gedankenreihe in dieser scheinbar kühlen Frage, welche den Künstler verblüffte. Nach klösterlicher Entsagung ein pikantes Abenteuer! Der Weltmann regte sich wieder mächtig in Lerden. Eine Woche später lernte er Marie Ellers auch wirklich kennen – in dem als Laube tapezierten Eßsaal der »Sirene« 78 zu Sorrent. Er, eigentlich der einzige Herr, saß neben der Professorin – ganz Gentleman, im blauseidenen Reisehemd, ein wenig gelb noch und leidend, aber dafür um so interessanter. Um sie herum eine fade, quakende Britinnengesellschaft, das reine Froschquartett. Den Professor beachtete Lerden kaum. »Das war so recht deutsch-weiblich, mit zwanzig Jahren und solchen Augen an dieses mittelalterliche Kathederlicht gefesselt – und glücklich! Ob denn die Frauen von heute kein Blut in den Adern haben?«

Die weiteren Scenen dieser Komödie von dem ersten, wie zufällig etwas innigen Händedruck bis zu ihrem verschleierten, ängstlichen Blicke und dem heftigen Zittern, als er das wohlbedachte: »Wie ist es denn möglich? so jung – und ihn!« flüsterte, sah er nur noch wie eine nebeldurchwogte Landschaft, aus der einige Lichter hervorblitzten.

Lerden liebte. Und selbst heut, wo doch Jahre darüber hingegangen waren, trieb es ihm die Schamröte ins Gesicht, daß er, der Leidenschaftslose, welcher über den schwankenden Boden dieses großen Berlin, wo doch so viele versanken, lächelnd, leichten Fußes geschritten war, sich hier wie ein Schuljunge in diese »katholischen Augen« vergaffen mußte. Narrheit! Freilich der Schlußakt hatte ihn ernüchtert, geheilt, wie er sich vorredete. Und doch war die Erinnerung daran so bitter, so erbarmungslos klar!

79 Es war auf seinem Lieblingsspaziergang, jenem hohen Wege, der sich rings um die Ausgrabungen zieht, und ein Abend wie jener damals. Man konnte von hier oben hineinsehen in die Totenstadt. Die Tempel, Theater, Paläste ragten, von weichem Sternenglanz umflossen, aus dem Gewirr der dächerlosen, geschwärzten Bürgerhäuser empor. Auf den geraden, engen Straßen, deren riesige Quadern von den tiefen Geleisen der Lastfuhrwerke durchfurcht waren, lagen die Schatten der Nacht. Dazwischen schimmerten weißblinkende Mosaikbrunnen, mit Rasen bewachsene Höfe, von dämmerigen Säulengängen umzogen. Hier lagen die umgestürzten Riesenamphoren der pompejanischen Weinhändler; dort schaute man in das Atrium eines Vornehmen – der Fußboden mit vielfarbigen Marmorplatten ausgelegt, an den Wänden verblaßte Malereien oder ein tiefes, gesättigtes Rot. Ueber allem ragte der Vesuv. – Der Professor und der Bruder waren weit zurückgeblieben, in einem erbitterten Streit über die Wohnungen der Alten; aber die weiche, lehrhafte Art des einen und die leidenschaftlich schroffe des andern unterschied man deutlich in der Totenstille. Die Professorin, blaß, mit zusammengepreßten Lippen, in ihren katholischen Augen etwas Starres, das Lerden stutzig machte, ging schweigend neben ihm. Da versuchte er den Handstreich. Sie mußte etwas Aehnliches vermutet haben; 80 denn gerade als er nach einem leidenschaftlich hervorgepreßten: »Ich liebe dich – und wenn alle Teufel! – du bist mein, mußt mein sein!« sie umschlingen wollte, trat sie blitzschnell einen Schritt zurück, und ihre kleine Hand ballend, warf sie ihm ein: »Schurke, jetzt erst erkenne ich Sie ganz!« mit bebender Stimme ins Gesicht. Sie sah schön aus mit ihren fiebernden, vor Erregung ganz dunkeln Augen und dem zuckenden Munde.

›Uebrigens,‹ Lerden legte sich weit im Wagen zurück und sah den Himmel an, ›Schwamm drüber! Ich habe es dumm angefangen.‹ Jedenfalls hatte er mit Anstand auf der Mensur gestanden. Es verriet doch wahrlich den unerschütterlichen Weltmann, daß er zwei Minuten später sich ruhig an der Diskussion der Herren beteiligen konnte. Sein klangvolles Organ zitterte nicht, während die Professorin hochaufgerichtet, die feinen Nasenflügel bebend, rasch dahinschritt und für Ellers dringliches: »Du siehst so verstört aus! Warum eigentlich?« nur ein unwilliges Kopfschütteln hatte. ›Später wird sie wohl gebeichtet haben!‹ dachte Lerden.

»Aber wo wollen Sie eigentlich hin, Herr Graf?«

Der Wagen rollte durch die von vornehmer Menschheit wimmelnde Tiergartenstraße. Und als ob diese aristokratische Umgebung auch den Pferden das edle Blut erregt hätte, tänzelten sie mit 81 schäumendem Gebiß, in jeder Muskel Leben, über den weichen Asphalt.

›Warum soll man ihm das Vergnügen nicht gönnen?‹ dachte Lerden, milde gestimmt. ›Nachher muß er ja doch wieder in seine Dachkammer zurück. – Ein Kerl, aus dem ich gern etwas andres machen möchte als einen der Poursuivants von Frau Lo!‹

Der Graf, welcher ganz stramm und unbeweglich die Zügel hielt, war bis zur Bellevuestraße gekommen. Das großstädtische Leben flutete hier unruhig hin und her. »Hier oder zu der da?« Der Graf drehte den Kopf nach der Siegesgöttin, die, vom heißen Rot der untergehenden Sonne bestrahlt, aus stolzer Höhe herüberleuchtete.

»Ganz wie Sie wollen!«

Als der Graf aus dem dichten Gedränge schnellfahrender Droschken und wappengeschmückter Karossen vorsichtig zur Seite lenkte, entfuhr ihm ein Fluch. Lo Rinows hohe Gestalt unterschied er sehr deutlich unter den Spaziergängern. Sie stand an der Ecke der Siegesallee. Er wollte mit einem tiefen Gruß davonkommen, aber Lerden tippte ihm auf den Arm.

»Müssen schon halten, mein Lieber. Ihre eigne Schuld! Was wagen Sie sich in das Quartier der haute finance. Ueber mich hat der ›Salon‹ Grund, unzufrieden zu sein . . . muß etwas versöhnen. – Karl, du fährst langsam nach Hause!«


82 »Aber ich begreife nicht, gnädige Frau. Was hat er denn gethan? Er war doch sonst Ihr Liebling, dieser Lerden!«

»Jetzt nicht mehr, wie Sie sehen!« sagte Frau Klara kurz. »Sie können aber zu ihm gehen . . . nur keine Gêne!«

Der große Schellagg spazierte mit Frau Klara Linker voran und rieb sich verlegen seine historische Nase. »Sie wird mit den Jahren immer widerhaariger!« und dabei streifte ein keineswegs freundlicher Blick das Skelett des »Salons« – der neueste Witz Jägers. Sie war in kampfbereiter Stimmung und machte mit dem schwarzen Sonnenschirm kurze energische Bewegungen.

»Nächstens wird Mama wohl hauen!« meinte Frau Lo gutgelaunt. »Aber keine Angst, Herr Graf!« Sie ging am Arme ihres Gemahls. Er trug den breitrandigen Künstlerhut tief in die graue Stirn gesetzt, und die tapsenden, automatenhaften Schritte dieses Kranken – ein so trauriger Gegensatz zu den sicheren Bewegungen der hübschen Lo und ihrem lächelnden frischen Munde – spiegelten dem Grafen die schreckliche Möglichkeit vor, daß hier der Zusammenbruch sehr nahe sei. Und wenn sie dann kommen würde, liebenswürdig, munter wie immer, und ihn an den Verfalltag seines Wechsels erinnerte. Aber ihr Mann, der Nachfolger von dem 83 da? Unmöglich! Die Spazierfahrt war ihm gründlich verdorben.

Frau Lo dachte offenbar nichts Aehnliches. Sie unterhielt sich lebhaft mit Fritz über den großen Coup, das Riesengeschäft.

»Denn wissen Sie, Herr Graf« – sie sah ihn kühl und leidenschaftslos an, als wenn ihr hübsches Gesicht nie glühend an dem seinen geruht hätte – »wir haben einen großen Einsatz riskiert. Jetzt heißt's rouge ou noir. Doch es ist eine zu amüsante Aufregung! Zu guter Letzt ist jeder Mensch Spieler, und wir Frauen am meisten. – Denke nur, Fritz,« und sie drängte sich näher an ihn, »wenn wir Château, Wagen und Groom genau so haben könnten wie Lerden. Glaubst du denn wirklich an deinen Riesenerfolg, mein Schatz?«

Er! und nicht glauben! Und mit den großen, haarigen Händen in der Luft umherfuchtelnd wie ein gezogener Hampelmann, bewies er ihr mit Zahlen, geschäftlichen Daten, daß die Sache klappen müsse. »Die politische Konstellation . . . das neue Regime.« Dieses glaubensfrohe Kind war seiner Sache so sicher. Doch Lo, nüchtern, aufs nächste blickend wie alle Frauen, ging sofort, ohne sich um seine langweiligen Auseinandersetzungen, die sie gar nicht interessierten, zu kümmern, auf den Kern der Sache.

»Es könnte doch schief gehen! – und dann?«

84 »Ah bah! Ich muß doch wissen!« Fiebernd, nervös erregte er sich seit einigen Tagen bei dem geringsten Zweifel. Frau Lo kümmerte sich um sein vor Aerger gerötetes Gesicht sehr wenig. »Wozu sich eigentlich die Laune verderben, Fritz . . . Nicht wahr, Herr Graf,« – es lag eine nur ihm verständliche Bedeutung in dem lustigen Zwinkern ihrer Augen – »wenn Not an Mann ist, Ihrer sind wir sicher?«

»Gewiß,« gab er höflich zurück.

»Das klingt mir gar nicht ehrlich. Ich glaube sogar . . .« Sie drohte mit dem Finger.

Die Kehle war dem Grafen wie zugeschnürt, und er hatte ein Flimmern vor den Augen. Er war ganz in der Stimmung, ihr brüsk zu sagen: »Was Sie da meinen, Gnädigste, ist nicht! Eine unbegreifliche Uebereilung, Schwäche . . . Wir sind beide gleich schuldig.« Es ekelte ihn ordentlich an, ihr hübsches, spöttisches Gesicht; doch feige, wie die meisten Männer Frauen gegenüber, suchte er lieber eine Hinterthür.

»Es wird nicht nötig sein, gnädige Frau.«

»Und wenn . . .?« Sie sprach lächelnd, im Scherz; doch in ihren Augen lag etwas Stahlhartes. – »Und wenn es doch nötig wäre!«

Er verstand sie nur zu gut. Der ironische Zweifel reizte ihn. Und mit einer dem andern ganz 85 unverständlichen Schärfe sagte er, jedes Wort betonend: »Ein Silowstrem verspricht nur, was er halten kann. Verstehen Sie mich recht, meine Gnädigste; und wenn er Ihnen gesagt hätte, er würde in einen Abgrund springen – mein Wort darauf! – er springt!«

»Wort? Abgrund . . .? Mir scheint da eine kleine Seelenverkäuferei im Gange zu sein,« sagte Jäger schnaufend. Er schloß mit Lerden den Zug. Aber der Millionär war nicht in Stimmung. Frau Klara hatte ihn wie einen Schuljungen behandelt. Wie einen Schuljungen! das hatte man denn doch nicht nötig. Gleichviel – und trotz des Aergers über verletzte Eitelkeit empfand er auch jetzt eine gewisse Bewunderung für diesen ganzen Charakter, der noch nie im Leben vor einer Konsequenz zurückgebebt war und unter den rasselosen Geschöpfen des »Salons« von beinahe antiker Starrheit schien – »in dem Weibe ist wenig Rasse!« schloß er halblaut seine Betrachtung.

Doktor Jäger fing die Bemerkung auf, und weil er mit Lerden einen Separatfrieden zu machen gedachte mit dem üblichen Festmahl und den Dessertschnäpsen, nickte er beifällig.

»In dem Weibe wohl!« Er wies mit dem dicken Jungeichenstock auf das Ehepaar Rinow; »hat sich überhaupt brav gehalten, die Kleine . . . Immer Kopf hoch! . . . Ist auch nötig, denn was 86 man so alles hört« – um seine Bulldoggennase zogen sich skeptische Falten. – »Es geht mit seinem Geschäfte wie mit seinen Beinen, nämlich schlecht. Und mit dem Riesencoup? – Sie sind ja auch Geldmann – die Kommission hapert, und die Börse soll helfen. Möglich . . . aber dazu ist er ja nicht dumm genug.«

Lerden sah ihn groß an, und Jäger fuhr vertraulich klatschend fort. An der Börse glückt's nur den geriebensten Füchsen oder den ganz Dummen. Rinow ist Mittelgut, dünkt sich aber natürlich von der besten Sorte. Da hat er so ein bißchen zu fixen angefangen . . . Differenzgeschäfte, das Hasardspiel der Börse. – Man redet von einer guten Viertelmillion in Hafer, einer halben in Weizen . . . ein nettes Risiko! Denn er ist ja ein großer Politiker und denkt, die Zölle müssen fallen. Gut für ihn! Jedenfalls wenn er 'reinfällt, adieu Lo . . .!

»Und er?« Die Geschichte war Lerden nur ein Beleg mehr für die Gemeinheit dieses Schnapsbruders. »Meinen Sie, daß die Beine noch lange vorhalten?«

Jäger klopfte ihm kordial auf die Schulter. »Kollege« – er würdigte den Millionär besonders gern dieser Anrede – »Sie wissen das so gut wie ich. Tabes dorsalis! hilft keine Ziererei . . . Sehen Sie doch! Taps! Taps! Uebers Jahr geht das 87 auch nicht mehr. Dann kommt der Krankenstuhl, das Bett . . . Vielleicht macht's der Teufel kürzer mit ihm und auch mit der Frau; denn noch jahrelang sich mit solcher zerbröckelnden Ruine herumzuschleppen – alle Achtung! Wie ich die Linkers kenne, wird es die Kleine genau so machen wie Mama. Bleibt er der reiche Mann, die schönste Harmonie! Kippt er, adieu Sie! Sie lernt sich den Grafen schon an.«

»Sie sind ein guter Freund!« bemerkte Lerden kühl. »Unsre sogenannte Kunst hat also das letzte Wort gesprochen?«

»Für Sie Skeptiker aus der neuen Schule natürlich nicht! Haben Sie vielleicht eine alleinseligmachende Lymphe?« Er lachte laut vor sich hin. Und Lerden, der mit Widerwillen den aufgeschwemmten Körper und den saloppen Anzug dieses Zigeuners betrachtete, konnte kaum begreifen, daß dieses Muster des wissenschaftlichen Vagabundentums wirklich einmal eine selten sichere Hand und einen scharfen Blick besessen hatte, bis der Champagner, der Cognac, der Schnaps ihn allmählich in den Kot gezogen hatten.

»Also Sie haben eine Lymphe?« fuhr Jäger fort.

»Das nicht! höchstens daß der Patient aus litauischem Bauernblute stammt . . . Die halten aus!«

»Und Sie denken, mit einem Altsitzerpulverchen würde dem Manne geholfen sein? Eine unfehlbare 88 Lymphe? Doch der braucht keinen wohlgeratenen Sohn; der trägt sein Altsitzerpulverchen mit sich herum, und verlieren kann er es beim besten Willen nicht.«

»Gemütsmensch!« Lerden lachte – ein scharfes, verachtungsvolles Lachen, das den Grafen veranlaßte, sich herumzudrehen.

Ja, der hatte gut lachen! Aber er? Ah! Er war so mutlos. Warum eigentlich? Dieser kleine, vielsagende Dialog von vorhin? Die beiden kannten sich doch schon einige Zeit. Konnte er es der hübschen Lo übelnehmen, wenn sie im Scherz einmal eine ganz positive Versicherung von ihm verlangte? Sie hatte ihn ja »gemacht«! . . . Gemacht! . . . Allerdings. Und war es die natürliche Reaktion auf die goldige Stimmung dieses Nachmittags, war es der Mann, dieser trostlose Schatten, den sie beide so herzlos betrogen? . . . den gutmütigen Leichtfuß überkam eine verzweifelte Klarheit. Nichts blieb ihm erspart. Während er so wie eine übelgelaunte Dogge neben dem Ehepaar hertrollte, welches lächelnd seine Luftschlösser baute – zuweilen von Los vollem Arm gestreift oder von den schicken Gassenjungenausdrücken im reinsten Berlinisch empfindlich berührt – durchlebte er in einer kurzen Minute noch einmal die ganze Geschichte dieser sogenannten Liebe. Sie erschien ihm unverständlich, unsinnig vom ersten Moment an. Vor allem die Frau, für die er weder Achtung noch 89 Sinnlichkeit hatte. War es denn die reine Schurkerei, welche ihn getrieben hatte? Wie ein verzweifelter Abenteurer, der sich feige an den ersten besten weißen Arm klammert!

Und diesem weißen Arm verdankte er wirklich alles: seinen Ruf – er knirschte mit den Zähnen – die Liebenswürdigkeit der Redakteure, die anstatt der gedruckten Ablehnung von früher ihn mit ihrem: »Wir wissen! O ja, wirklich originell!« erröten machten – die großartige Kritik Schellaggs, welcher ihn zum Bahnbrecher erhob, und vor allem das Geld. Das verfluchte Geld! Warum war er arm? Andre konnten das ungestraft sein . . . Aber ein Silowstrem, der in das Leben nichts mitbrachte als seine Mittelmäßigkeit und sein blaues Blut, das heißt eine Welt von Vorurteilen, die sich wie Bleisohlen bei jedem Schritte fühlbar machten – für den gab es eben nur den krummen Weg zu Glück und Ruhm. Denn ganz in die Namenlosigkeit des Pöbels unterzutauchen, davor bewahrte ihn sein Standesbewußtsein und der geheime Instinkt, der ihm sagte, daß das Untertauchen auch unfehlbar das Versinken bedeuten würde. Freilich gab es noch andre Wege: die reiche Heirat . . . Aber für diese in der großen Gesellschaft gäng und gäbe ungeheure Lüge war er zu sehr Weichling, und so nahm er lieber gedankenlos, was der Zufall ihm bot.

90 Eine leichte Hand berührte seinen Arm. Es war Lerden. »So ernst. Sie goldiger Optimist?« und dann leiser: »Ich kalkuliere, daß es für uns beide besser gewesen wäre, wenn wir den ›Salon‹ nie gesehen hätten.«

»Ja, nie gesehen hätten!« wiederholte der Graf laut.

Gleichzeitig glitt Lerdens Hand langsam den Arm hinab. »Das geht ja hier wie im Theater, immer eine Ueberraschung nach der andern: da sind auch Ellers!«

*

»Famos!«

»Also Sie wollen zu Kroll?«

»Aber wie geht's? Lange nicht gesehen, Herr Professor!«

Lerden hielt sich von dem Begrüßungsklumpen fern. Er war nicht lüstern nach einer Begegnung mit dem Ehemann Eller. Außerdem verstand er die Begeisterung für den Kathedermann nicht, der vorsichtig den zu liberal angehauchten »Salon« mied und nur ab und zu seine hübsche Frau hinschickte, deren Art unter den Zigeunern gar keinen Beifall fand.

»Graf Silowstrem . . .«

»Also Sie sind der Mann des Tages? Es ist mir eine ganz besondere Ehre!« sagte der Professor, seinen Klemmer zurechtrückend.

91 Und als hätte der »Salon« nur auf dieses Zeichen eines akademisch beglaubigten Kunstverständigen gewartet, brach ein ganz unmotivierter Beifallssturm los. Es war eine sehr wirkungsvolle Theaterscene, die der »Salon« seinem neuesten Schützling bereitete. Lerden konnte nur einige Ausrufe verstehen. »Gott, wie meisterhaft!« – »Wir sind stolz, Herr Graf, Sie zu den Unsrigen zählen zu dürfen!« – »Ja, wirkliches Talent braucht keine langen Wege!« Im Grunde waren das ganz nichtssagende Phrasen, die ebensogut das Gegenteil bedeuten konnten; aber die Gesichter, die Posen! Jäger wußte gar nicht, wo er mit seiner Begeisterung hin sollte, schwang seinen lebensgefährlichen Stock und stieß wiehernde Freudenlaute aus. Frau Klara schaute sich den verlegen lächelnden neuen »Gott« sehr genau an und nickte, als wenn sie ihn erst jetzt ganz verstanden hätte, freundlich mit dem Kopfe. Der große Schellagg bewegte nur die Lippen, doch in seinen angelaufenen Brillengläsern und der nervösen Art, wie er sie über die fettige Stirn strich, lag eine wohlwollende Anerkennung. Am stolzesten sah die hübsche Lo aus. Vielleicht weil ihr hübscher Kopf, in dessen Augen ein paar wirkliche Rührungsthränen schimmerten, sich über sein Machwerk freute, vielleicht, daß diese ehrgeizige Natur sich schon am Arm des Grafen die Stufen zur Unsterblichkeit 92 emporsteigen sah . . . Wie kläglich dagegen Marie Ellers! Sie hatte den neuesten Silowstrem pflichtschuldig gelesen und ihn nicht überwältigend gefunden. Darum war ihr: »Ach ja, sehr hübsch!« so zaghaft und die Neigung ihres wunderhübschen Mädchenkopfes dabei so wenig natürlich, daß sie inmitten dieser wohleinstudierten und hundertmal geübten Beifallsausrufe und Posen sofort unangenehm auffiel. Ihr Gemahl, der für solche Augenblicke immer ein bewunderndes Zukneifen seiner Schweinsaugen und einige wohlerwogene Kunstphrasen parat hatte, die er mit einer unbeschreiblichen Bewegung seiner dicken, wohlgepflegten Finger nach dem Kopf zu begleiten pflegte, mußte ihr einen strengen Blick zuwerfen. Uebrigens that der seine Wirkung gar nicht. Ihre Augen nahmen plötzlich einen unwilligen Ausdruck an und schweiften über den »Salon« hinweg nach der Siegessäule. Sie hatte Lerden bemerkt. Auf die andern übte diese offenbare Ablehnung des neuesten Salonheiligen die Wirkung einer Dusche. Man sah sich ernüchtert gegenseitig an. »Das dumme Ding!«

Zugleich bemerkten sie, daß Gruppen von Neugierigen stehen geblieben waren, und die Droschkenkutscher lachend mit den Peitschen nach ihnen zeigten. Man hielt sie in ihrer Ueberschwenglichkeit für Schauspieler, und das waren sie ja auch. Der reitende Schutzmann vom Brandenburger Thor kam schnell 93 herübergetrabt. Es konnte ein Taschendieb sein oder ein Paletotmarder, dieser junge Mann in der Mitte; und die Art, wie man hastig seine Hand ergriff, sie wieder losließ, um die Ehre auch andern zu gönnen, wie ihm Jäger auf die Schulter klopfte und dann an seinem langen karrierten Schuwaloff riß, legte allerdings diese Vermutung nahe. Frau Lo mit ihrem angeborenen Sinn für das Komische übersah die Lage zuerst. Doch sie verkniff sich den schlechten Witz, und die Anstrengung preßte ihr noch einige Rührungsthränen aus.

Im übrigen war dieser Ort – der Königsplatz in dem wunderbaren Halbdunkel eines Maiabends, mit seinen rauschenden Fontänen, dem von duftigem Abendnebel überwogten Grasflächen, seinen schwirrenden Käfern, und mit dem gewaltigen, wie verschleierten Weltstadtgetöse von den Linden her – sehr passend zu einer rauschenden Ovation. Lerden, der als Unparteiischer stumm abseits stand, kam das allein zum Bewußtsein. Es war wirklich eine Theaterscene. Hüben Kroll mit seinen bunten Lichtern, die Töne des Konzerts bald in dem dumpfen Hinundher einer großen Menschenmenge verschwimmend, bald mächtig alles übertönend. – Drüben das in Dämmerung gehüllte Reichstagsgebäude, aus den Gerüsten die Kuppel emporwachsend; es sah aus wie eine gewaltige Ruine. In der Mitte die goldene 94 Siegesgöttin, die durch das lichte Gewölk zu schweben schien und dem Grafen beinahe den Lorbeerkranz über den Kopf hielt.

»Krönung der nationalen Kunst! – Glücklicher Comte!« sagte Lerden halblaut.

Der Knäuel löste sich. Erst jetzt bemerkte man Lerden.

»Aber Herr Doktor! Sie sind mir ein Schöner!«

Er lüftete artig den englischen Hut. »Ich wäre zuviel gewesen. Uebrigens kennt der Graf meine Gefühle sehr wohl.«

Professor Ellers kam langsam herbei und ließ sich vorstellen. Er erinnerte sich des scharfen Lerdenschen Profils sehr gut. Doch wozu Altes auffrischen? Hier war man nicht inkognito wie in Italien. Zudem erweckte dieser Mensch recht unerquickliche Reminiscenzen an einen gewissen Malerlümmel von ganz unverhohlener Nichtachtung für das Katheder. Erst als Jäger den Professor beiseite nahm – er hatte einen selbstsüchtigen Gedanken, der Brave – und ihm ins Ohr flüsterte: »Das ist der Millionär! So viel mindestens!« – und er streckte alle zehn Finger in die Luft – räusperte sich der Professor und legte seine erhabene Miene ab.

»Ah! Ich erkenne Sie jetzt, Herr Doktor Lerden! Wie ist Ihnen Pompeji bekommen? Auf einmal verschwunden . . . Schöne Italienerin . . . 95 vielleicht doch? Bei Herren soll man ja nie nach so etwas fragen.«

Er ahnte gar nicht, wie peinlich Lerden gerade diese vertrauliche Form war. Gemerkt hatte er also wohl nichts, und das war jedenfalls ein Verdienst! Der Maler hatte ihn doch damals ganz richtig gezeichnet. »Ein häßlicher, mittelalterlicher Kerl, der alle Augenblicke vor Vergnügen seine kleinen Schweinsaugen zukneift – und eitel! Vor jedem Spiegel stillstehen und liebevoll den Spitzbauch bestreicheln; in fortwährender Angst, daß die grünschillernde Perücke auch nicht rutscht. Daher die Handbewegung. Drei hat er von der Toupetsorte: lang, mittel, kurz. Doch unter der langen, die ihm langsträhnig wie einem Eunuchen über den Katzenschädel hing, fühlt er sich am wohlsten. Und mit ihm ist meine Schwester recht zufrieden!«

Man promenierte noch eine Weile. Lerden wurde der Professor lästig mit seiner aufdringlichen Liebenswürdigkeit. »Zum Henker mit dem Kerl!« Er ertrug ihn als Weltmann. Und vielleicht war er niemals so geistreich und blasiert zugleich gewesen wie jetzt.

›Höre nur zu, schöne Frau!‹ dachte er bissig. »Der Hieb damals in Pompeji kam unpariert hinein. Aber so steht unsereiner, und selbst wenn ihn dieser Hieb tödlich getroffen haben sollte.«

96 Und sie, die an der andern Seite mit dem Grafen ging, hörte ihn sehr wohl. »Ich habe Angst vor diesem Menschen . . . welch vollendeter Heuchler!« Und wie um Schutz gegen diesen andern zu suchen, wandte sie sich an den Grafen. Sie wollte ihm einige Liebenswürdigkeiten sagen. »Ich habe noch zu wenig von Ihnen gelesen. Das allerdings . . .«

Doch er parierte schon bei dem Versuche. »Das haben Sie recht gethan, gnädige Frau!« Feinfühlig, wie er war, wollte er ihr eine Lüge ersparen. »Nein, ich bin wirklich nicht eitel! Und die günstigsten Kritiken? Wer weiß, wie's übers Jahr damit aussieht. Ich schreibe, weil ich muß. Wenn ich reich wäre, keinen Strich mehr!«

Ihr gefiel die offene Manier, wie der hübsche, blonde Mann überhaupt. »Das findet man selten!«

Er blickte sie lächelnd an. »Man sollte sich lieber geistreiche Airs geben – nicht wahr? Mir unmöglich.« Und vorsichtig nach der andern Seite sich umsehend, fügte er leise hinzu: »Am wenigsten Ihnen gegenüber möchte ich Komödie spielen. Gleiche Waffen! Ich habe vorhin nur ein einziges ehrliches Gesicht gesehen, nämlich Ihres, gnädige Frau.«

»Aber, Herr Graf!«

»Und das thut wohl. Ich habe die Salonphysiognomien herzlich satt. Wenn ich so weit gekommen bin, jeden zu hassen, der nicht ›Vorzüglich‹ 97 schreit, dann, gnädige Frau, haben Sie die Güte, mir ein ehrliches Wort zu sagen.«

»Dazu werde ich kaum Gelegenheit haben. Aber wenn – hier meine Hand darauf.« Er drückte diese weiche, warme Hand ganz leise und wurde wieder ganz wohlgemut.

›Er ist ein geschickter Stratege bei den Weibern!‹ dachte Lerden, der bei einer langatmigen Auseinandersetzung des Professors kein Wort von dem Gespräch der beiden verloren hatte. 98

 


 


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